Transkulturelle Pädiatrie. Mit dem Blick der anderen
Was versteht man unter transkultureller Pädiatrie?
Ethnische und kulturelle Unterschiede in Verbindung mit Migration gehören inzwischen zum Alltag in der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Der Begriff der Transkulturalität geht davon aus, dass Kulturen nicht klar voneinander abgrenzbar sind, sondern Ineinandergreifen und sich gegenseitig verändern. Transkulturelle Pädiatrie bedeutet, dass die Mitarbeiter*innen ihre eigenen Prägungen und Vorurteile reflektieren und die Perspektive der Patient*innen und ihrer Familien erfassen und deuten können. Sie vermeiden so vorschnelle Assoziationen sowie Stereotypisierung einzelner Gruppen.
Warum ist dies wichtig?
Trotz eines homogenen medizinischen Angebots in München verlaufen beispielsweise chronische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen aus Familien mit Migrationshintergrund oft ungünstiger. Sprachbarrieren, Aufenthaltsstatus und kulturelle Besonderheiten dürfen aber nicht zum Ausschluss von adäquater gesundheitlicher Versorgung führen. Besonders Menschen mit Fluchterfahrung sind häufig aufgrund von Traumatisierung und ihrer unklaren Lebenssituation im Ankunftsland großen gesundheitlichen Herausforderungen ausgesetzt. Sie benötigen zielgerichtete Versorgungsangebote und spezifische Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung.
Was tut das Gesundheitsreferat im Rahmen der transkulturellen Pädiatrie?
Das Gesundheitsreferat setzt sich in vielen Bereichen für vulnerable Kinder und Jugendliche mit Migrations- und Fluchterfahrung ein, zum Beispiel im Arbeitskreis „Migration und Gesundheit“ des Gesundheitsbeirats, der Fachstelle „Migration und Gesundheit“ mit einem Dolmetscherdienst, den Gesundheitstreffs mit Gesundheitslots*innen oder dem Pediatric Migrant & Public Health Center, das sich für die Behandlung tuberkuloseerkrankter Kinder und Jugendlicher einsetzt. In München sind circa 18.000 Menschen in etwa 140 Unterkünften für Geflüchtete und Wohnungslose untergebracht, davon meist 30 bis 40 Prozent Kinder. Um insbesondere diese vulnerable Gruppen besser erreichen und ins Gesundheitssystem vermitteln zu können, wurde das Sachgebiet „Gesundheitsvorsorge von Menschen in Unterkünften“ mit einem Team aus drei Berufsgruppen aufgebaut. Dabei finden alle Altersgruppen eine Berücksichtigung: Familienhebammen (Hebammen mit einer Zusatzausbildung mit Schwerpunkt psychosoziale Beratung), Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger*innen sowie Gesundheits- und Krankenpfleger*innen. Alle drei Berufsgruppen bieten Besuche in den Zimmern der Klient*innen an, führen ganzheitliche Beratungen und Anleitungen zu gesundheitlichen Themen durch, halten Sprechstunden und Gruppenschulungen in den Unterkünften ab, organisieren Case Management und begleiten bei Bedarf die Klient*innen ins Gesundheitssystem oder vermitteln in die Frühen Hilfen. Es handelt sich um einen primär präventiv ausgelegten Hausbesuchsdienst. Die medizinischen Fachkräfte sind in interkultureller Kompetenz ausgebildet und können für ihre Beratung auf Dolmetscherdienste über das Gesundheitsreferat zurückgreifen.
Für welche Leistungen haben Sie den Preis für Transkulturelle Pädiatrie der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) erhalten?
Wir haben den Preis für Transkulturelle Pädiatrie für unseren Beitrag „Gesundheitsvorsorge für Menschen in Unterkünften – ein besonderes Augenmerk auf die Belange geflüchteter Kinder“ auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinderund Jugendmedizin 2024 in Mannheim verliehen bekommen. Dort habe ich das oben beschriebene Sachgebiet, das in dieser Art bundesweit einmalig ist, vorgestellt.
Wann sind Münchner Ärzt*innen betroffen? Was wünschen Sie sich von ihnen?
Wenn Ärzt*innen Patient*innen behandeln, die in einer Unterkunft für Geflüchtete oder Wohnungslose wohnen, sollte eine ausführliche Sozialanamnese über die genaueren Lebensumstände und die genaue Wohnform erfolgen – sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich. Wir würden uns wünschen, dass in allen Bereichen die Zugänge zu notwendigen medizinischen Leistungen erleichtert und bei Sprachbarrieren Dolmetscher*innen hinzugezogen werden. Der Dolmetscherdienst kann von den ärztlichen Praxen und Kliniken beim Gesundheitsreferat angefragt werden. Kliniken sollten zudem das Entlassungsmanagement auf die Lebensumstände der Patient*innen abstimmen.
Wie und in welchen Fällen kann man Kontakt zu Ihnen aufnehmen? Fallen Kosten an?
Sobald Münchner Ärzt*innen erfahren, dass ihre Patient*innen in einer Unterkunft wohnen und einen aufsuchenden präventiven Dienst durch eine medizinische Fachkraft oder Unterstützung durch Frühe Hilfen benötigen, kann über unser Servicetelefon 089 233-47322 oder gesundheitsberatung-unterkuenfte@muenchen.de Kontakt aufgenommen werden. Dieses kostenfreie Angebot kann zum Beispiel in Anspruch genommen werden bei Wöchnerinnen, die mit der Versorgung ihrer Neugeborenen in der Unterkunft überfordert sind, oder auch bei Familien mit chronisch kranken Kindern und bei Erwachsenen in einer Unterkunft, die sich im deutschen Gesundheitssystem noch nicht gut auskennen und Unterstützung im Case-Management benötigen.
Interview: Stephanie Hügler
(MÄA 9/2025)