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Angemerkt: Ärztemangel und kein Ende in Sicht

Der Behandlungsbedarf in unserer Gesellschaft des langen Lebens steigt permanent an. Die aktuelle Ärztestatistik aber zeigt eindeutig, dass dieser Bedarf bei Weitem nicht mehr gedeckt werden kann. Darauf hat kürzlich auch der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, mit Recht hingewiesen. „Dieser besorgniserregenden Entwicklung dürfen Bund und Länder nicht länger tatenlos zusehen. Was wir jetzt brauchen, sind eine konsequente Nachwuchsförderung und bessere Ausbildungsbedingungen im ärztlichen Bereich“, sagte Reinhardt.

Wie aus den BÄK-Daten hervorgeht, waren im Jahr 2021 bei den Landesärztekammern insgesamt 416.120 berufstätige Ärztinnen und Ärzte gemeldet. Damit stieg die Zahl zwar wie bereits im Vorjahr um 1,7 Prozent an, d.h. um rund 7.000 Personen. Doch dies reicht keineswegs aus, um den Bedarf auch nur annähernd zu decken.

Trotz leicht gestiegener Ausbildungskapazitäten an den medizinischen Fakultäten in Deutschland laut Bundesärztekammer zweifelhaft, ob das deutsche Bildungssystem eine ausreichende Zahl an Ärztinnen und Ärzten hervorbringen kann, um eine ausreichende Versorgung in der Zukunft zu garantieren. 

Zum Einen gibt es eine stets zunehmende Zahl an Medizinerinnen und Medizinern, die nicht ärztlich tätig sind. Zum Anderen ziehen zahlreiche jüngere Kolleginnen und Kollegen die Tätigkeit im Angestelltenverhältnis mit reduzierter Wochenarbeitszeit, z.B. in einem MVZ, dem Stress in einer eigenen Praxis vor. Dies entspricht dem derzeitigen gesamtgesellschaftlichen Trend zu mehr Teilzeitarbeit und weniger Überstunden auch in der Ärzteschaft, d.h. die sogenannte „Work-Life-Balance“ steht im Vordergrund. Die Struktur moderner junger Familien hat sich in dieser Hinsicht grundlegend geändert gegenüber noch vor 30 oder 50 Jahren. Dadurch sind viel mehr Ärztinnen und Ärzte nötig, um die freien Stellen in der medizinischen Versorgung zu besetzen und die Zahl der zur Verfügung stehenden ärztlichen Arbeitsstunden – und das auch noch bei steigenden Behandlungszahlen –, konstant zu halten.

Hinzu kommt, dass die hausärztliche Versorgung der Zukunft überwiegend weiblich sein wird und die überwiegende Mehrzahl der hausärztlich Tätigen schon vor Abschluss der Weiterbildung Eltern geworden sind. Ungefähr zwei Drittel suchen eine Teilzeittätigkeit, vorzugsweise in einem Team, und ungefähr die Hälfte bevorzugt eine Anstellung anstelle einer Niederlassung. 

Nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft wuchs die Zahl der Behandlungsfälle in den Krankenhäusern zwischen 1991 und 2019 von 14,6 auf 19,4 Millionen. Hinzu kommen laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung etwa eine Milliarde Arztkontakte jährlich in den Praxen.

Die BÄK verweist auf ein zweites großes Problem: Die Gesellschaft wird älter und mit ihr auch die Ärzteschaft. Jeder fünfte Arzt steht unmittelbar vor dem Ruhestand. d. Über 13 Prozent der Ärztinnen und Ärzte gehören der Altersgruppe der 60- bis 65-Jährigen an; weitere 8,5 Prozent haben das 65. Lebensjahr bereits überschritten. Damit verschärft sich die ohnehin angespannte Personalsituation in den Kliniken und Praxen in den nächsten Jahren noch weiter.

"Die Coronapandemie zeigt ganz deutlich, wie kurz die Personaldecke im Gesundheitswesen schon heute ist- in Pflegeberufen genauso wie bei den Ärzten und Ärztinnen in den Praxen, Krankenhäusern und Gesundheitsämtern", warnte Reinhardt.

Nur der enorme Einsatz der Kollegen und Kolleginnen habe in den letzte 2 Jahren eine Zusammenbruch der medizinischen Versorgung verhindert, die Politik müsste daraus endlich die Konsequenzen ziehen und wirksame Maßnahmen gegen den Ärztemangel ergreifen", ließ der Präsident der Bundesärztekammer weiter verlauten. 

Dazu gehören neben mehr Studienplätze in der Humanmedizin auch attraktivere berufliche Rahmenbedingungen, um junge Ärzte und Ärztinnen in der kurativen Medizin zu halten", fordert der BÄK Präsiden vollkommen zu Recht.

Offenbar schlittern wir in eine ärztliche Versorgungskatastrophe, ohne dass dies unseren Mitbürger*innen in der vollen Tragweite wirklich bewusst ist. Bis 2035 werden in Deutschland rund 11.000 Hausarztstellen unbesetzt sein, fast 40 Prozent der Landkreise werden unterversorgt oder von Unterversorgung bedroht sein, wie aus einer aktuellen Studie der Robert Bosch Stiftung hervorgeht. Als Lösungsvorschlag will die Robert Bosch Stiftung den Aufbau von Gesundheitszentren fördern. Ob das wirklich sachdienlich und gut ist, muss sich erst noch erweisen.

Die Studie der Robert Bosch Stiftung zeigt auch erstmals die weitere Entwicklung bei den Hausärztinnen und Hausärzten auf Kreisebene. Die Prognose: Im Jahr 2035 werden vier von zehn Landkreisen unterversorgt oder massiv von Unterversorgung bedroht sein. 

Weiterhin führt die Veröffentlichung an, dass sich die Zahl der vertragsärztlich tätigen Hausärztinnen oder Hausärzte zwischen 2009 und 2020 nur um etwa 1 Prozent erhöht hat. Dies ist der bei weitem geringste Anstieg in allen Arztgruppen. Die Niederlassung als freiberuflich tätiger Hausarzt wird immer unbeliebter.

Es ist zu erwarten, dass sich diese Entwicklungen auch künftig fortsetzen werden. Im „Berufsmonitoring Medizinstudierende 2018“ gaben fast 95 Prozent der befragten Studierenden hinsichtlich ihrer Erwartungen an die spätere Berufstätigkeit an, dass es ihnen sehr wichtig oder wichtig ist, Familie und Beruf gut vereinbaren zu können. Etwa 82 Prozent der Befragten sind geregelte Arbeitszeiten und etwa 81 Prozent die Möglichkeit, die Arbeitszeiten flexibel zu gestalten, sehr wichtig oder wichtig. (KBV 2019)

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Niederlassung als freiberuflich tätiger Arzt immer unbeliebter wird. Im aktuellsten Praxis-Panel des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland „wird die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit je Inhaber einer hausärztlichen Praxis für das Jahr 2017 mit 50 Wochenstunden ausgewiesen. Nimmt man einen vollen Versorgungsumfang für diese Ärzte an, so bedeutet dies ein Arbeitsvolumen, welches bspw. eine 40-stündige Arbeitswoche um 25 Prozent übersteigt.“ Dies erklärt auch deutlich, warum eine freiberufliche Niederlassung immer unattraktiver wird

Fazit: Es bleibt zu hoffen, dass die Digitalisierung, wie z.B. Video Sprechstunde, E-AU oder das E-Rezept hier Erleichterung bringen könnten. Dies muss man allerdings anzweifeln, wenn man vor Augen hat, dass in anderen Sparten oft das Gegenteil eingetreten ist: Noch mehr Tätigkeit vor dem Bildschirm und noch weniger Zeit oder gar keine Möglichkeit, die Patient*innen zu untersuchen. Das kann es doch eigentlich nicht sein. Manchmal will ein Patient vielleicht seinem Arzt gegenüber sitzen und diesem sein Herz ausschütten. Ich glaube nicht, dass dies in einer Video-Sprechstunde funktionieren wird. Eigentlich sind das recht trübe Aussichten für die ärztliche Zukunft, und es bleibt nur zu hoffen, dass es künftig mehr Studierende geben wird, die wieder mehr Freude an der Arbeit mit Patient*innen haben werden und der Freizeitgedanke wieder stärker in den Hintergrund rückt.

Allerdings ist vor allem auch die Politik aufgefordert, Maßnahmen zur besseren Versorgung unserer Bevölkerung zu ergreifen, z.B. durch deutliche Entbürokratisierung des Systems. Das geht sicher nicht von heute auf morgen. Das muss langfristig geplant und umgesetzt werden und braucht seine Zeit. 

Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. mult. Dieter Adam
Münchner Ärztliche Anzeigen 19/2022