Ambulante Gesundheitsversorgung: Verpassen wir eine Disruption in den MVZ?
Unser Beruf ist großartig. In wenigen Berufsfeldern findet sich eine so hohe Diversität von Arbeitsoptionen. Wir haben nach einer, zugegeben harten, Ausbildung die Wahl von Akutklinik bis Reha-Einrichtung, Gesundheitsamt, Labor, Gutachtertätigkeit, selbstständig geführter Praxis und vielem mehr. Der Arbeitsmarkt braucht uns. In der Regel reicht das Einkommen zum Überleben auch dann, wenn man nicht in Vollzeit arbeitet.
In den letzten Jahren ist eine weitere Option dazu gekommen: die Tätigkeit als Angestellte*r in der ambulanten Patientenversorgung. Die Zahl der angestellten Ärztinnen und Ärzte im Zuständigkeitsbereich der KV steigt seit einigen Jahren so rasant (seit 2007 um ca. 7,5 Prozent pro Jahr), dass man von einer Disruption der ambulanten Versorgung sprechen muss. Bereits jetzt arbeitet fast ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte in der ambulanten Versorgung in Anstellung.
Der Zeitpunkt ist absehbar, an dem in der ambulanten Versorgung weniger selbstständige als angestellte Kolleginnen und Kollegen tätig sind. Die Entwicklung zur ambulanten Patientenversorgung in MVZ ist oder war zumindest politisch gewollt. Die Attraktivität dieses Versorgungsmodells war für viele Beteiligte zunächst einmal hoch.
Die angestellten Ärztinnen und Ärzte selbst waren von der unternehmerischen Inanspruchnahme entlastet und konnten je nach Interesse und Bedürfnissen entweder die gewonnene Kapazität in Fort- und Weiterbildung oder in eine Umgewichtung der Work-Life-Balance investieren. Wer das unternehmerische Risiko scheute, konnte trotzdem in die ambulante Versorgung einsteigen.
Praxisinhaberinnen und Praxisinhabern stand als Arbeitgebern eine weitere Möglichkeit offen, ihre enorme Arbeitsbelastung zu begrenzen, ohne die Leistung an Patientinnen und Patienten zu reduzieren. Dass aus einer zeitweise relativ einsamen Tätigkeit wieder eine Situation entstand, die kollegialen Austausch und auch eine Weitergabe des eigenen Wissens ermöglichte, machte das Modell zusätzlich attraktiv. Medizinische Leistungen konnten in größeren Einheiten preisgünstiger erbracht werden.
Mittlerweile hat sich aber eine Struktur ausgebreitet, in der vergleichsweise große – auch nichtärztliche – Investoren viele angestellte Ärztinnen und Ärzte beschäftigen. Neben solchen Groß-MVZ oder MVZ-Ketten droht der selbstständigen Einzelpraxis ein ähnliches Schicksal wie dem Tante-Emma Laden neben dem Discounter. Die KVen führen solche Groß-MVZ bzw. MVZ-Ketten, die überwiegend als GmbH organisiert sind als „iMVZ“ (investorengetragene MVZ). Individualisierte und engagierte Betreuung ist ökonomisch nicht konkurrenzfähig zu kostenoptimierten „Großbetrieben“.
Betriebsleitungen mit betriebswirtschaftlicher Ausbildung unterliegen ihrerseits den Entscheidungen der Gesellschafter*innen (Investor*innen) und führen MVZ anders als Kolleginnen und Kollegen, die eine ärztliche Sozialisation erfahren haben.
Betriebswirt*innen sind darüber hinaus nicht in der persönlichen Haftung für die Entscheidung an Patientinnen und Patienten. Auch wir fordern eine adäquate Entlohnung, aber Ärztinnen und Ärzte haben zwangsläufig eine andere Vorstellung von der Balance zwischen ökonomischen und patientenbezogenen Zielen.
Diese Disruption des Gesundheitsmarkts ist bislang in der Berufspolitik nicht wirklich angekommen. Sowohl für die Sicherstellung einer Gesundheitsversorgung, die vorrangig das Patientenwohl im Auge hat, als für auch für das Überleben der Einzelpraxis ist es entscheidend, dass Politik und Berufspolitik sich aktiv mit den Prozessen und Entscheidungsstrukturen in den MVZ mit angestellten Ärztinnen und Ärzten befasst.
Der Arztberuf als freier Beruf – weisungsungebunden bei Entscheidungen in der Patientenversorgung – ist gefährdet. Es reicht nicht, dass diese Definition des ärztlichen Berufs in der Berufsordnung steht. Wir müssen unsere Verantwortung und unsere Entscheidungsfreiheit auch für angestellte Ärztinnen und Ärzte behaupten.
Diese brauchen die Unterstützung der Kammern, der KVen und der selbständigen Kolleginnen und Kollegen. Die Selbstständigen brauchen selbstbewusste und berufspolitisch engagierte angestellte Kolleginnen und Kollegen!
In unser aller Interesse bleibt zu hoffen, dass wir es schaffen, uns diesen grundlegenden Veränderungen berufspolitisch gemeinsam über die Listengrenzen hinweg zu stellen.
Dr. Jörg Franke
Münchner Ärztliche Anzeigen 21/2022