Leitartikel

Schwerhörigkeit. Besser hören - besser leben

Teaser: Schlecht zu hören ist vielen Menschen peinlich. Dabei ist eine gute Versorgung mit Hörgeräten oder –implantaten wichtig, um ernsthaften Erkrankungen oder Unfällen vorzubeugen. Im Interview mit den MÄA plädiert Prof. Dr. Barbara Wollenberg, seit 1. Dezember Direktorin der HNO-Klinik am Klinikum rechts der Isar, für mehr Prävention und Forschung.
Schwerhörigkeit. Besser hören - besser leben
Schwerhörigkeit. Besser hören - besser leben

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Wie häufig sind Hörprobleme in der Bevölkerung?

Man geht davon aus, dass von den rund 86 Millionen Menschen in Deutschland mindestens 14 Millionen eine Hörschwäche haben – von Höreinschränkungen bei einer bestimmten Frequenz bis hin zur Taubheit. Wahrscheinlich sind es noch viel mehr. Denn wenn Sie schlecht sehen, fällt Ihnen das irgendwann auf und Hörschäden jedoch kann das Gehirn lange Zeit sehr gut kompensieren, indem es sich adaptiert. Je wachsamer Sie sind, desto besser können Sie etwa in einem Gespräch fehlende Wörter erraten. Viele Menschen merken daher gar nicht, dass sie eine Hörschwäche haben, bis wirklich eine relevante Schwelle überschritten wird.

Was könnte man tun?

Viele unserer Patienten sagen: Ich höre doch eigentlich gut – obwohl ihre Umwelt das längst anders sieht. Die Deutsche Gesellschaft für Hals-, Nasen-und Ohrenheilkunde fordert eigentlich schon lange ein regelmäßiges Screening für Hörschäden. Es gibt z.B. schon eine grob orientierende Hörprüfung, die auch Hausärzte durchführen können (s. Pubmed: The Mini-Audio-Test (MAT) – a screening method on hearing impairment to be used by general practitioners and specialized physicians). Man kennt sie von den U-Untersuchungen bei Kleinkindern oder bei der Schuleinstellungsuntersuchung.

Viele Hörprobleme entstehen im fortschreitenden Alter, also etwa um die 50 oder 60. In dieser Altersgruppe haben die meisten Menschen zwar eine Lese- oder Gleitsichtbrille, wenn sie aber ein Hörgerät tragen müssen, fühlen sie sich alt. Die gesellschaftliche Wahrnehmung eines Hörgeräts ist einfach eine andere als die einer eleganten oder coolen Brille. Schlecht zu hören ist eher schambehaftet. Dabei sollte man keine Scham haben, es zuzugeben, wenn man schlecht hört. Sonst entgeht einem das Leben.

Welche Möglichkeiten bieten Hörgeräte heutzutage?

Mittlerweile können wir von geringgradiger Schwerhörigkeit bis zur völligen Taubheit in 20-Dezibel-Schritten Hörgeräte oder implantierbare Formen von Hörgeräten anbieten, darunter Knochenleitungsgeräte, implantierbare Mittelohrgeräte oder Innenohrelektroden. Damit können wir den Menschen das Hören sozusagen „zurückholen“. Das ist nicht nur interessant für die Chirurgie, sondern vor allem auch für die Patienten, denn mittlerweile wissen wir: Hören hat sehr viel mit Neurokognition zu tun. Es gibt einen gesicherten Zusammenhang zwischen Demenz und schlechtem Hören. Es hat außerdem mit Händigkeit und Geschicklichkeit zu tun. Wer schlecht hört, kann zum Beispiel meistens schlechter mit einer Schere arbeiten. Auch Schwindel und Hören sowie Vergesslichkeit und Hören stehen in engem Zusammenhang. Die Reichweite dieser ganzen Zusammenhänge können wir noch gar nicht abschätzen. Daher bauen wir dazu gerade einen internationalen Forschungsverbund auf.

Was schließen Sie aus dieser Erkenntnis?

Wir hatten bereits einen Antrag für eine Studie gestellt, mit dem Ziel, die Möglichkeiten eines routinemäßig durchgeführten, basalen Hörscreenings in Hausarztpraxen zu testen, der aber leider nicht bewilligt wurde. Aktuell haben wir leider keine verlässlichen Zahlen, wie viele Menschen tatsächlich schlecht hören. Hätten wir diese, könnten wir unseren Patienten alle paar Jahre einen Hörtest anbieten, wie zum Beispiel die Darmspiegelung, zur Vorsorge. Aus unserer Sicht wäre es wirklich wichtig, Menschen präventiv eine Diagnostik zu ermöglichen, um zu verhindern, dass sie frühzeitig weitere kognitive Defizite haben, vergesslich oder gar dement werden.

Was sind die häufigsten Gründe für Hörschäden oder -mängel?

Der häufigste Grund ist die Lärmexposition im Beruf oder in der Freizeit. Wie viele Menschen verstecken sich in der U-Bahn hinter Kopfhörern oder Headsets? Auch ich zähle leider dazu. Viele hören dabei aber so laut Musik, dass Sie als Umstehende praktisch mithören können, und ab einer gewissen Schallexposition oder Lautstärke ergibt sich einfach ein Hörschaden. Die Spätfolgen dieser Beschallung sind heute noch nicht abschätzbar. Zum anderen gibt es viele Infektionen, Durchblutungsstörungen und neurologische Erkrankungen, die mit Hörstörungen einhergehen. Hinzu kommt natürlich das Alter an sich.

Was können z.B. Hausärztinnen und –ärzte tun?

Ich denke, man kann beim Check-up schon fragen, wie jemand hört, so wie man fragen kann, ob jemand eine Brille braucht. Wer dann weiterfragt, ob der Patient öfter den Fernseher lauter schaltet oder ob er bei einer Party, bei der fünf Menschen gleichzeitig reden, noch alles gut versteht, hat schon eine grobe Einschätzung und kann den Patienten dann weiter verweisen. Natürlich gibt es Menschen, die trotz der Schwerhörigkeit zurechtkommen. Wer jedoch im Straßenverkehr eine leichte Schwerhörigkeit hat, kann z.B. ein kaum hörbares Elektroauto schnell „überhören“ und ist dadurch akut gefährdet.

Helfen Hörgeräte oder Implantate jedem Patienten?

Diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten, da viele Faktoren zum Höreindruck beitragen. Die Technik eines Hörgeräts führt dazu, dass ein Geräusch von einem Hörgerät aufgenommen, kodiert und dann auf Ihr Gehör übertragen wird. Diese Kodierstrategien werden immer feiner und differenzierter. Das Gleiche gilt für die Hörgeräte selbst. Die Geschwindigkeit der Entwicklung von Hörgeräten ähnelt der des Handymarkts. Es gibt Richtmikrofone und man kann einzelne Kanäle oder unangenehme Frequenzen ausschalten, sodass die Klarheit des Höreindrucks besser wird.

Gleichzeitig können Sie bestimmte Situationen im Vorfeld simulieren und hinterlegen, bis der Höreindruck gut zu Ihnen passt. Dennoch ist der subjektive Höreindruck sehr individuell. Daher gibt es nicht die eine Lösung für alle, sondern eine hoch individualisierte Anpassung für jeden. Dies erfordert jedoch eine umfassende Diagnostik und entsprechende Messungen. Erst dann kann man entscheiden: Braucht der Patient ein Hörgerät, ein Mittelohrimplantat oder evtl. ein Cochlea-Implantat?

Was kann man bei älteren Menschen tun, wenn das technische Verständnis nicht vorhanden ist?

Auch deshalb braucht es individuelle Lösungen: Meine Mutter hat z.B. eine Fernbedienung, mit der sie zwischen vier Kanälen wählen kann – also z.B. zwischen Fernsehen, Gespräch, Straßenlärm und Nebengeräuschen wie Wind. Diese vier Tasten kann sie sehr gut bedienen. Allerdings hat sie Schwierigkeiten, die zugehörigen Mini-Batterien zu wechseln. Aber es gibt so viele Hörgerätetypen, dass auch dafür eine Lösung gefunden werden kann. Bei Bedienungsproblemen ist der Hörgeräteakustiker gefragt oder das Hörzentrum hier an der Klinik, um evtl. ein passendes Implantat zu finden. Bei uns an der Klinik geht es bei der Versorgung auch nicht nur um das Hören an sich, sondern auch um die Händigkeit. Hat jemand zum Beispiel auf beiden Ohren Hörprobleme, würden wir zuerst das händische Ohr versorgen, bei einem Rechtshänder also das rechte, damit er sein Gerät gut bedienen kann.

Wichtig ist die akustische Passgenauigkeit. Es macht keinen Sinn, wenn sehr teure Hörgeräte unbenutzt im Nachtkästchen verschwinden. Wichtig ist allerdings auch, dass die Patienten ihre Hörlösung nicht erst im hohen Alter erhalten, damit ihr Gehirn auch die Chance erhält, sich an den neuen Höreindruck zu gewöhnen.

Ab wann ist aus Ihrer Sicht ein Implantat sinnvoll?

Immer bei einer kombinierten Schwerhörigkeit, also einer Situation, bei der die Leistung des Innenohrs erhalten ist, aber die Mittelohrstrukturen Defekte aufweisen, sollte die Möglichkeit eines Mittelohrimplantats geprüft werden. Für das Cochlea-Implantat gibt es eine Indikation bei 60 oder 70 Dezibel Verlust der Innenohrhörleistung. 

Wie wahrscheinlich ist es, einen Hörverlust chirurgisch rückgängig machen zu können?

Liegt der Hörverlust im Innenohrbereich ist das nicht wahrscheinlich, liegt er aber im zuleitenden Schallleitungsapparat, also Gehörgang, Trommelfell, Gehörknöchelchenkette oder Paukenhöhle kann chirurgisch viel wieder hergestellt werden. Wir haben es immer wieder geschafft, Menschen aus der Schwerhörigkeit „herauszuoperieren“.

Sie planen, das Hörzentrum am Klinikum rechts der Isar auszubauen...

Wir haben ein sehr ausgewiesenes und neu gestaltetes Hörzentrum in der Ismaninger Straße. Dort möchte ich allen Hörgeschädigten eine Anlaufstelle bieten – unabhängig vom Grad ihrer Schwerhörigkeit. Dieses Hörzentrum sollte durch eine weitere Professur gestärkt werden, die sich im Wesentlichen mit der Verbindung zwischen Ohr und Gehirn bzw. der Signalverarbeitung      von Höreindrücken im Gehirn beschäftigen soll. Es soll eine Brücken-Professur zwischen dem Ingenieurwesen und Medizin der TUM sein. Denn die Forschung der letzten Jahre zeigt, dass es Wege der Signalverarbeitung im Gehirn gibt, die wir bisher noch nicht in Betracht gezogen haben. Ich glaube, dass es einer sehr differenzierten Diagnostik bedarf, um eine noch bessere apparative Versorgung zu gewährleisten.

Zudem möchten Sie gerne ein Hörregister aufbauen...

Mit einem Hörregister könnten wir in großem Umfang epidemiologische Daten sammeln, um zu erfahren, wann wer mit welchem Beruf oder welcher Grunderkrankung schlechter hört. Welche Patienten werden dabei derzeit wie operativ oder nicht operativ versorgt? War diese Versorgung für ihre Art der Schwerhörigkeit wirklich passend? Dabei arbeiten wir gerne mit anderen Hörzentren zusammen. Vorstellbar wäre eine bayernweite Zusammenarbeit, ähnlich wie bei den Krebszentren.

Wann sollten Zuweiser ihre Patienten zu Ihnen schicken?

Unser Team steht allen Ärztinnen und Ärzten mit hoher Expertise und Erfahrung für alle Arten der sanierenden und rekonstruktiven Ohrchirurgie zur Verfügung. Einer meiner Schwerpunkte ist die endoskopische Ohrchirurgie, die minimal-invasive Eingriffe ermöglicht und daher schonender und diagnostisch weit- reichender für die Patienten ist, wie auch die Implantatchirurgie. Im Hörzentrum haben wir alle relevanten Implantatsysteme unterschiedlicher Firmen. Wir beraten die Patienten nach hochdifferenzierter Diagnostik individuell und versorgen sie mit dem für sie passenden System.