Menschen mit Behinderung. Gleiche Versorgung für alle

Foto: Carina Pilz/ Pfennigparade
Herr Dr. Scheible, was für Probleme gibt es in der ambulanten ärztlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung hier in München?
In München sind wir bei der Pfennigparade im Hinblick auf die hausärztliche Versorgung zwar gar nicht so schlecht aufgestellt, aber auch wir haben in unseren Einrichtungen für Menschen mit Behinderung mit erheblicher Personalnot zu kämpfen. Das führt dazu, dass unsere Patient*innen nur schwer in die Arztpraxen begleitet werden können. Und alleine, ohne Begleitung schaffen sie es nicht in die Praxen. Hinzu kommt: Wir sind zwar eine der wenigen Organisationen der Eingliederungshilfe mit eigenem MVZ, aber auch für uns ist die medizinische Versorgung eine Herausforderung – insbesondere wegen der Fahrtzeiten bei Hausbesuchen. Gewöhnliche Praxen – ob Haus- oder Facharztpraxen – sind außerdem oft nicht optimal für unsere Patient*innen eingerichtet, etwa im Wartebereich, beim Zugang oder bei den Untersuchungsmöglichkeiten. Gerade für Patient*innen mit geistiger oder schwerer körperlicher Behinderung sind Hausbesuche in unseren Einrichtungen oft die einzige Möglichkeit. Doch leider ist es schwer, Ärzt*innen, besonders Fachärzt*innen dafür zu gewinnen. Oft bleiben uns nur telefonische Konsultationen, die aber nicht ausreichen. Besonders in den fachärztlichen Bereichen gibt es kaum Möglichkeiten für Hausbesuche.
Geht es Ihnen nur um Hausbesuche?
Nein, es geht uns auch um eine Verbesserung der fachärztlichen Versorgung und um präventive Medizin.
Letztere findet nämlich bei Menschen mit Behinderungen de facto kaum statt. Aktuell kommen viele unserer Patient*innen oder Bewohner*innen in ein Alter, in dem sie darauf eigentlich einen Anspruch haben, aber dies nicht bekommen können. Aber Hausbesuche sind uns ein sehr wichtiges Anliegen: Von der gesetzlichen Krankenversicherung sind sie leider nicht genug finanziert. Wir können verstehen, dass die Vergütungssätze knapp bemessen sind – gerade bei Menschen mit Behinderung in entsprechend komplizierten Situationen, wie dies bei unseren Bewohner*innen der Fall ist. Geichzeitig haben wir leider keinen Einfluss auf die GKV-Sätze. Trotzdem setzen wir uns für eine angemessene Finanzierung der ärztlichen Versorgung von Menschen mit Behinderung ein, weil wir unsere Kolleg*innen hier sehr gut verstehen können. Ich arbeite auch nicht aus Wohltätigkeit bei der Pfennigparade, sondern weil ich dort das machen kann, was ich gelernt habe – wie z.B. die Versorgung von Menschen, die auf eine außerklinische Beatmung angewiesen sind. Und unsere Menschen mit Behinderung wollen bestimmt nicht aus Mitleid versorgt werden. Viele arbeiten ganz normal wie jede*r andere auch. Für ihre Versorgung brauchen wir Ärzt*innen, die diese Arbeit in ihren ganz normalen Arbeitsalltag einbauen können. Und wir tun alles dafür, dass sie es dabei so einfach wie möglich haben.
Von wie vielen Menschen in München reden wir in etwa?
Von den beteiligten Trägern werden in München mehr als 8.000 Menschen mit Behinderung versorgt.
Uns geht uns hier vor allem um diejenigen, die in unseren Einrichtungen der Eingliederungshilfe wohnen. Im Stadtbereich sind dies etwa 1.500 Menschen mit einer schweren Mehrfachbehinderung, die auf eine besondere Versorgungsform ange- wiesen sind. Das Thema darf übrigens nicht verwechselt werden mit Bereichen wie Geriatrie oder Pflegeheimen. Wir haben nur wenige Patient*innen über 70. Für ältere Menschen gibt es andere Strukturen, zum Beispiel spezielle Verträge mit Pflegeeinrichtungen.
Wie möchten Sie vorgehen, damit es mehr Hausbesuche und präventive Maßnahmen gibt?
Wir, die großen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, haben uns zusammengefunden, um gesundheitliche Teilhabe zu ermöglichen. Insgesamt sind wir sieben Organisationen, die kooperieren: Stiftung Pfennigparade, Die Brücke gGmbH, Helfende Hände gGmbH, Stiftung ICP, Lebenshilfe München, Regens Wagner und SWW für Blinde und Sehbehinderte gGmbH. Uns ist vollkommen klar, dass wir allen Ärzt*innen einen annähernd wirtschaftlichen Hausbesuch ermöglichen und ihnen daher entsprechende Informationen und eine fachkundige, informierte Begleitung zur Verfügung stellen müssen. Dafür brauchen wir eine ausreichende zeitliche Flexibilität, und die Ärzt*innen müssen zu festen Terminen empfangen werden. Die Infrastruktur und Information der Ärzt*innen vor Ort müssen gesichert sein – sowohl durch eine aussagekräftige Dokumentation als auch durch eine informierte Pflegekraft. Hausbesuche bei Menschen mit Behinderung sind ohne Begleitung meistens nicht möglich. Deshalb brauchen wir in den Betreuungseinrichtungen Menschen, die über die Bewohner*innen Bescheid wissen und die aktuellen medizinischen Befunde bereitstellen können. Sie müssen kompetent Auskunft über den Verlauf und den Zustand der Patient*innen geben können. Das ist nicht selbstverständlich – auch im Seniorenheim und in Pflegeeinrichtungen übrigens nicht.
Wie kann ein von Ihnen geplantes Koordinierungsbüro helfen?
Anfangs wollten wir die ärztliche Versorgung selbst organisieren. Aber aufgrund der zulassungsrechtlichen Hürden ist dies für uns finanziell nicht realisierbar. Denn wenn wir Ärzt*innen mit einer kassenärztlichen Zulassung beschäftigen würden, müssten wir diese anstellen, ein MVZ gründen und Zulassungen erwerben. Das aber ist nicht so einfach, denn laut KV ist München überversorgt – außer man übernimmt eine andere Praxis, was für uns aber finanziell nicht machbar ist. Daher haben wir uns gemeinsam zur Gründung eines Koordinierungsbüros entschlossen. Damit möchten wir zum einen ein Ärztenetzwerk aufbauen und einen Kontakt zwischen interessierten Ärzt*innen und den Einrichtungen herstellen. Zum anderen möchten wir die Voraussetzungen für Hausbesuche in den Einrichtungen deutlich verbessern, sodass diese für die Kolleg*innen attraktiver werden.
Wie möchten Sie das erreichen?
Alle sieben Einrichtungen haben gemeinsam eine Stelle geschaffen.
Aktuell arbeiten wir mit einer Projektleiterin, die derzeit noch unter einer Nummer und E-Mail der Pfennigparade erreichbar ist (Heike.Baumgartner@pfennigparade.de; Telefon 0171/40 14 927). Mittelfristig streben wir einen eigenen Webauftritt und ein eigenes Büro an, in dem wir dauerhaft mehrere Menschen beschäftigen möchten, darunter mindestens eine*n Medizinische Fachangestellte*n. Derzeit dient die Projektleiterin als Ansprechpartnerin für Ärzt*innen und Einrichtungen und kümmert sich gleichzeitig um die weitere Finanzierung dieses Projekts. Gleichzeitig versuchen wir Standards zu schaffen, damit die Kolleg*innen gute Unterlagen und Bedingungen vorfinden, wenn sie zu uns kommen. Wir müssen allerdings schauen, wie lange wir dies weiterfinanzieren können.
Welche Ziele haben dieses Büro bzw. diese Mitarbeiterin?
Wir fürchten, dass wir in naher Zukunft noch mehr Schwierigkeiten bei der Organisation von Hausbesuchen haben werden, wenn noch mehr Hausärztinnen und -ärzte ihre Praxen abgeben und in den Ruhestand gehen. Es ist ja nicht gesagt, dass der*die Nachfolger*in die Arbeit fortsetzt. Viele Praxen gehen heutzutage in großen MVZ auf, und damit endet häufig das persönliche Engagement, auf das wir momentan angewiesen sind. Auch im pädiatrischen Bereich spüren wir das bereits. Zusätzlich brauchen wir eine verbesserte fachärztliche Versorgung für unsere Patient*innen, und wir möchten unseren Menschen mit Behinderung eine adäquate präventive Medizin bzw. Vorsorge bieten. Der ganze Bereich der Heil- und Hilfsmittel ist sehr viel Papierkram, der von der KV nicht bezahlt wird. Auch hierfür möchten wir Strukturen schaffen, damit der Aufwand und die Ausgaben bei den unterstützenden Ärzt*innen möglichst reduziert werden.
Um welche fachärztlichen Bereiche geht es vor allem?
Alle Fachärzt*innen sind gefragt. Unser größtes Problem sind aber Urologie, Gynäkologie, Dermatologie sowie Neurologie und bis zu einem gewissen Grad auch Gastroenterologie. Die Gastroenterologie ist allerdings sehr geräteintensiv. Ein Haus- besuch hilft uns da nur begrenzt, denn man kann in unseren Einrichtungen natürlich keine Darmspiegelung durchführen. Die Neurologie können wir durch unsere Erfahrung mit den Menschen teilweise noch selbst abdecken. Im Bereich der Gynäkologie gibt es nach 15 Jahren jetzt immerhin eine städtische Ambulanz für Frauen mit Bewegungseinschränkungen in der Bayerstraße. Allerdings gibt es dort nur sehr wenige Termine pro Jahr. Von den bereits erwähnten mehr als 8.000 Menschen mit Behinderung sind aber naturgemäß die Hälfte Frauen. Der Bedarf ist also wesentlich höher.
Was wünschen Sie sich von den Münchner Ärztinnen und Ärzten?
Viele wissen gar nicht, dass es uns gibt. Sie kennen vielleicht einige Einrichtungen, wissen aber nicht, wie dezentral das ganze System aufgebaut ist. Anhand der abgebildeten Karte (s. Abbildung) können Sie die Verteilung der Versorgungsland- schaft in München sehen. Wir befinden uns nicht in Problemvierteln oder sozialen Brennpunkten, sondern wir sind überall. Vielleicht sehen einige Ärztinnen oder Ärzte, dass wir uns quasi in der Nachbarschaft ihrer Praxis befinden. Wenn sie uns kontaktieren, können wir über unsere Projektleiterin die Zusammenarbeit koordinieren und dafür sorgen, dass diese gut läuft. Interessierte Ärzt*innen brauchen aber zwingend eine Praxis, denn ohne Kassenzulassung dürfen sie keine Rezepte oder Überweisungen ausstellen. Und sie müssen bereit sein, zu uns zu kommen. Es gibt einen riesigen Bedarf. Dieses Inter- view ist auch ein Aufruf an die ärztlichen Vertretungen, etwa die KV, uns hierbei zu unterstützen. Wir möchten, dass Menschen mit Behinderung in der Versorgung genauso berücksichtig werden wie Menschen ohne Behinderung. Dieser Gedanke von Inklusion ist uns ein großes Anliegen.
Dieses Gespräch führte Stephanie Hügler
MÄA 09 vom 26.04.2025