Beiträge

Patientensicherheit und Resilienz: Kein Second Victim werden

Schwerwiegende Ereignisse im Gesundheitswesen betreff en nicht nur die Patient*innen. Als „Second Victim" leiden behandelnde Ärztinnen und Ärzte häufig mit. Hier in den MÄA und beim zweiten PSU-Symposium am 20. Juli erklärt Prof. Dr. Reinhard Strametz von der Hochschule RheinMain, wie man zum Second Victim werden kann und was man dagegen tun kann.

Herr Prof. Strametz, was ist ein “Second Victim”?

Unter diesem Begriff verstehen wir jede Fachkraft im Gesundheitswesen, die direkt oder indirekt an einem unerwarteten unerwünschten Patientenereignis, einem unbeabsichtigten Fehler in der Gesundheitsversorgung oder einer Patientenschädigung beteiligt ist. Durch den Vorfall kann sie zu einer zweiten betroffenen  Person werden, die ebenfalls beeinträchtigt ist. Der Begriff wurde im Jahr 2000 vom amerikanischen Internisten Albert Wu geprägt. Im Jahr 2022 wurde er vom European Researchers‘ Network Working on Second Victim (ERNST) evidenz- und konsensbasiert erweitert.

 Warum sollten sich im Gesundheitswesen Tätige damit beschäftigen? 

Da bei uns unvermeidbar Situationen auftreten, in denen wir selbst zum Second Victim werden können, ist eine Befassung mit dem Thema schon aus Gründen des Selbstschutzes, aber auch aus Sicht der Patientensicherheit unbedingt erforderlich. Nicht ohne Grund steht im Genfer Ärztegelöbnis: „Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können.“

Wie viele Kolleg*innen sind betroffen und welche Art von Belastungen erfahren sie?

 Es ist absolut normal, eine solche natürliche Reaktion im Laufe des Berufslebens mindestens ein Mal zu erfahren. Unabhängig von der Berufsgruppe geben bis zu acht von zehn Gesundheitsfachpersonen an, schon einmal Second Victim gewesen zu sein. Dies wissen wir aus unseren „SeViD-Studien“ in Deutschland und Österreich. Die Ergebnisse decken sich mit Studien aus vielen anderen Ländern.

 Das häufigste Symptom der Second Victims ist übrigens nicht die Angst vor den möglicherweise bei einem Fehler zu erwartenden juristischen Konsequenzen, sondern vor allem der Verlust des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten. Nicht selten führt dies zu Selbststigmatisierung, Rückzug aus dem sozialen Umfeld bis hin zu Depressionen. Auch Schlafstörungen, das Wiedererleben der Situation (Flashbacks) oder ein gesteigertes Bedürfnis nach Absicherung (defensive Medizin) können Folgen dieser Belastung sein. Für das Second Victim kann die zunächst natürliche und menschliche Reaktion auf ein außergewöhnliches Ereignis zu einer psychischen Erkrankung wie einer posttraumatischen Belastungsstörung und im allerschlimmsten Fall sogar zum Suizid führen. Eine zu defensive Medizin wiederum kann später noch viele weitere nach dem Ereignis behandelte Patientinnen und Patienten schädigen. Es ist also aus mehreren Gründen äußerst wichtig, Second Victims rasche und wirksame Hilfe anzubieten statt sie mit Sanktionen zu belegen.

Was hilft Second Victims bei der Verarbeitung eines schwerwiegenden Ereignisses? Durch fünf Stufen kann man das Risiko reduzieren, ein Second Victim zu werden oder, falls dies bereits geschehen ist, die Auswirkungen begrenzen. Erstens: durch individuelle und organisatorische Präventionsmaßnahmen zur Patientensicherheit. Mit einer OP-Checkliste zum Beispiel verhindert man nicht nur schwerwiegende Schäden bei den Patient*innen, etwa durch Seiten- oder Patientenverwechslung, sondern auch die Gefahr, dadurch selbst zum Second Victim zu werden. Die zweite Stufe befasst sich mit Selbstfürsorge, die ja auch im Genfer Ärztegelöbnis eingefordert wird. Hier gibt es noch viel Nachholbedarf. Zu lange haben wir, auch ich selbst früher, nur auf die Patient*innen geachtet. Wir müssen aber auch gut mit uns umgehen – ähnlich wie ein Leistungssportler, der auch nur durch Selbstfürsorge Höchstleistung erbringen kann. Selbstfürsorge ist kein Zeichen von Egoismus, sondern von Professionalität.

Bei einer bereits geschehenen Second-Victim-Belastung greift die dritte Stufe: kollegiale Unterstützung durch sogenannten Peer Support, also Gespräche und Hilfsangebote von Kolleginnen oder Kollegen. Dies ist sehr hilfreich, denn es ist nicht nur organisatorisch wesentlich leichter z.B. mit einer Kollegin zu sprechen als etwa mit einem Psychologen. Ihr muss ich auch nicht erst meine Rahmenbedingungen auf einer Intensivstation oder während einer OP erklären. Sie kennt sie ja selbst. Peers auszubilden geht übrigens vergleichsweise schnell, und es ist nachweislich die erfolgreichste und im Hinblick auf Personalfluktuation und Krankheitstage auch eine hoch kosteneffektive Maßnahme. In der Mehrzahl aller Fälle genügt diese dritte Stufe. Nur hin und wieder ist eine professionelle Krisenintervention als vierte Stufe notwendig. Eine längerfristige klinische Unterstützung schließlich stellt die fünfte und damit höchste Eskalationsstufe dar. Sie muss zum Glück nur sehr selten genutzt werden. 

Wie finden Second Victims wieder gut ins Berufsleben zurück?

 Bei schneller und wirksamer Hilfe ist die Prognose für Second Victims hervorragend. Selbst bei der höchsten Eskalationsstufe führt sie in über 90 Prozent aller Fälle zur vollständigen Genesung. Es schafft Handlungssicherheit, das Phänomen als normale Reaktion anzuerkennen. Wenn ich weiß, dass ich im Fall der Fälle Hilfe erhalten werde, erleichtert mir dies später den Zugang zu Hilfsangeboten, wenn ich sie brauche. Netzwerke von Peers sind im stationären Bereich die nachweislich beste Methode. Für den niedergelassenen Bereich oder im Fall des Wunsches nach wirklich anonymer Beratung empfehle ich spezialisierte Beratungsangebote wie die Helpline des Münchner Vereins PSU Akut e.V.. Dort können Anrufende bei Bedarf auch schnell in weiterführende Angebote vermittelt werden.

Das Interview führte Stephanie Hügler
MÄA 12/2024