Leitartikel

Spurensicherung nach Vergewaltigung, keine Scham!

"Ich möchte eine Frauenärztin sprechen“ – dieser Code weist Münchner Kliniken darauf hin, dass eine Frau* sexuelle Gewalt erlebt hat. Gemeinsam haben Stadt, Kliniken und Hilfsorganisationen ein Konzept zur sensiblen Versorgung von Betroffenen entwickelt. Die MÄA sprachen mit Mitinitiator Dr. Christian Lechner von der München Klinik Harlaching.
Spurensicherung nach Vergewaltigung, keine Scham!
Spurensicherung nach Vergewaltigung, keine Scham!

Foto: shutterstock

 

Herr Dr. Lechner, wie viele und welche Frauen sind in München von sexueller Gewalt betroffen?

Pro Jahr werden bei der Rechtsmedizin München etwa 50 bis 70 Spurensicherungskits eingesendet. Allein in der München Klinik Harlaching hatten wir in 2023 18 vertrauliche Spurensicherungen und zwei nachträgliche polizeiliche Anzeigen, bei denen unsere Dokumentation angefordert wurde. Wir gehen aber davon aus, dass die Dunkelziffer noch um ein Vielfaches höher ist. Die Zahlen steigen regelmäßig, wenn wir, wie jetzt, eine Kampagne durchführen. Die Betroffenen kommen aus fast allen Altersgruppen und sozialen Schichten.

Wie kam es zur Zusammenarbeit und was ist ihr Ziel?

Wir möchten den Betroffenen eine möglichst niedrigschwellige, wohnortnahe Versorgung anbieten, damit sie zeitnah eine Spurensicherung durchführen lassen und auch später noch z.B. Betäubungsmittel nachweisen können. Auch DNA-Spuren sind zeitlich ja leider nur begrenzt auswert- und nachweisbar. Seit vielen Jahren schon gibt es ein gemeinsames Projekt des städtischen Gesundheitsreferats mit den großen Münchner Frauenkliniken, darunter die München Klinik, die Universitätskliniken sowie weitere Frauenkliniken, etwa der Dritte Orden. Auch der ÄKBV München ist durch die Beteiligung der Delegierten Dr. Ursula von Gierke mit von der Partie. Wir haben uns regelmäßig getroffen, um eine Versorgungsstruktur für Frauen nach sexueller Gewalt aufzubauen. Mittlerweile arbeiten wir auch mit der Rechtsmedizin, dem Frauen*notruf München, der Beratungsstelle für Mädchen* und Frauen* IMMA e.V. und dem Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen zusammen. Gemeinsam haben wir im Herbst 2023 eine Kampagne für die Öffentlichkeit gestartet, um Frauen darüber zu informieren, was sie nach sexueller Gewalt tun können – mit Postern an den Litfaßsäulen, Plakatwänden und U-Bahnen und Flyer in Gaststätten, Kneipen oder auch bei uns an den Kliniken.

Warum war ein gemeinsames Projekt nötig?

Im Jahr 2015 gab es eine Anfrage des Stadtrats, wie es um die Versorgungssituation von Frauen nach sexueller Gewalt bestellt ist. Man stellte fest: Es gab keine, jedenfalls keine einheitliche. Es gab keine einheitlichen Spurensicherungskits, keinen einheitlichen Dokumentationsbogen. Im Prinzip hat sich jede Klinik in Eigenregie behelfsmäßig etwas zusammengebaut. Daher haben wir beschlossen, dass wir eine einheitliche gute Versorgung brauchen. Gemeinsam mit der Rechtsmedizin haben wir sukzessive ein sinnvolles, sehr praktikables Spurensicherungskit entworfen, mit einem guten Dokumentationsbogen, der durch die gesamte Untersuchung leitet. Inzwischen nutzen wir ihn seit etwa zwei Jahren. Aktuell arbeiten wir an einer Neuauflage.

Ist Spurensicherung nicht eher ein Thema für Polizei und Rechtsmedizin?

Ein Großteil der Betroffenen geht nicht sofort zur Polizei, weil die Hemmschwelle dafür zu hoch ist. Wir wollten einen niedrigschwelligen Zugang, um auch bei uns in den Kliniken rechtssicher Spuren sichern zu können: Betroffene sollen sich in aller Ruhe über die Situation klar werden und auch noch nach mehreren Wochen oder Monaten eine polizeiliche Anzeige stellen können, wenn sie dies möchten. Außerdem stellen sich in der unmittelbaren Zeit nach einer mutmaßlichen Tat ja gleichzeitig mit der Spurensicherung auch frauenmedizinsiche und soziale Fragen. Hierfür braucht es eine Anlaufstelle, in der diese Fragen auch gleichzeitig adressiert werden. Die bei uns in der Frauenklinik rechtssicher und vertraulich gesicherten Spuren werden zwischenzeitlich in der Rechtsmedizin forensisch korrekt gelagert und nach sechs Monaten ohne weitere Rückfragen vernichtet, wenn sich die Patientin – oder nach einer Anzeige die Staatsanwaltschaft oder Polizei – nicht meldet. Auf Wunsch der Patientin können sie auch schon vorher vernichtet werden.

Wie stellen Sie sicher, dass die Untersuchung wirklich niedrigschwellig ist?

Wer schon einmal am Empfangstresen in einer Notaufnahme gestanden hat, weiß, dass dies kein anonymer Ort ist. Gespräche können dort von Umstehenden leicht mitgehört werden. Um die Hemmschwelle für die Frauen zu senken, sich dort zu melden, haben wir uns in unserem Arbeitskreis auf den Codesatz: „Ich möchte eine Frauenärztin sprechen“ verständigt. So müssen die Frauen nicht offen sagen: „Ich bin vergewaltigt worden“. Natürlich gab es anfangs erst einmal Nachfragen und Schwierigkeiten. Mittlerweile funktioniert es aber super. Übrigens: Auch wenn jemand aus einem anderen Grund einen Gynäkologen oder eine Gynäkologin sprechen möchte, wird häufig nicht nachgefragt, weil wir niemanden in eine unangenehme Lage bringen möchten. Durch die Flyer und Plakate oder auch durch Social Media wird der Codesatz immer bekannter. Er steht auch auf unsere Homepage und auf der Homepage des Frauen*notruf, und es sind weitere Maßnahmen geplant, um ihn noch mehr publik zu machen.

Wie läuft die Untersuchung bei Ihnen ab?

Vor der Spurensicherung klären wir auf: Frauen können nur eine rein gynäkologische Untersuchung durchführen lassen oder auch ein Screening auf sexuell übertragbare Krankheiten. Auf Wunsch führen wir außerdem Schwangerschaftstests durch bzw. verordnen eine Notfallverhütung. Wir beraten bezüglich Nachuntersuchungen wie einem HIV-Test und helfen auf Wunsch beim Hinzuziehen der Polizei mit einer Anzeige. Etwaige Verletzungen im Genitalbereich werden versorgt. Bei Begleitverletzungen wie Würgeverletzungen ermöglichen wir zeitnah Untersuchungen durch Spezialist*innen aus dem Hals-Nasen-Ohren-Bereich.

Schließlich helfen wir den Frauen dabei, wieder sicher nach Hause oder in ein anderes sicheres Umfeld zu kommen. Wenn die Gewalt im häuslichen oder familiären Umfeld stattgefunden hat, organisieren wir gemeinsam mit dem Frauen*notruf eine sichere Bleibe.

Was ist von ärztlicher Seite besonders wichtig?

Wir möchten die Frauen nicht im Nothilfetrubel sitzen lassen. Daher führen wir sie in einen ruhigeren, geschützten Bereich. Bei uns gibt es etwas abseits liegende Aufnahmeräume, in denen sich Kolleg*innen zeitnah um sie kümmern können. Das Wichtigste ist, dass die Frau die Richtung und die Geschwindigkeit selbst vorgibt. Sie darf auf keinen Fall das Gefühl bekommen, dass Schritte durchgeführt werden, die sie nicht möchte. Sie soll keinen weiteren Kontrollverlust erleben. Wichtig ist auch die Aufklärung über die verschiedenen Möglichkeiten. Die Frau weiß von Anfang an, dass sie Untersuchungen oder auch Teile davon ablehnen kann. Sie bestimmt, was sie möchte, und was nicht. Wenn sie keinen DNA-Abstrich oder keine vaginale Untersuchung möchte, wird das akzeptiert. Auch wenn sie den Täter nicht anzeigen möchte oder noch nicht weiß, ob sie eine Anzeige erstatten möchte, ist das ihre freie Entscheidung. Gerade dafür ist die vertrauliche Spurensicherung gedacht. Manche Frauen befinden sich zum Untersuchungszeitpunkt vielleicht noch in einer gewissen Abhängigkeit zum Täter weil sie zum Beispiel noch mit ihm zusammenwohnen. Erfahrungsgemäß ist dieser ja häufig nicht ein Unbekannter, sondern leider stammen die Täter oft mindestens aus dem erweiterten Bekanntenkreis der Opfer.

Gibt es nach der ersten Untersuchung eine weitere Einbestellung?

Nein, in der Regel übergeben wir die weitere medizinische Behandlung dann an die niedergelassenen Frauenärzt*innen, weil sie ja auch die Vertrauenspersonen für diese Frauen sind. Die psychologische Behandlung läuft über den Frauen*notruf. Wir empfehlen dringend eine Kontaktaufnahme mit dem Frauen*notruf weil die Gespräche mit den Psycholog*innen dort bei der Traumaverarbeitung helfen und weitere Möglichkeiten und Hilfsangebote aufgezeigt werden können.

Geht es bei der Kampagne nur um die sexuelle Gewalt gegenüber Frauen?

Man weiß, dass nicht nur Frauen von sexueller Gewalt betroffen sind. Unser Spurensicherungskit ist auch auf beide biologische Geschlechter ausgelegt, die Körperschemen sind von beiden Geschlechtern vorhanden. Tatsächlich übernehmen wir als Frauenklinik nur die Versorgung der Frauen. Betroffene Männer haben nach meinem Kenntnisstand in München derzeit leider keine äquivalente Anlaufstelle. Vielleicht ändert sich das ja nach diesem Artikel.

Wie lässt sich der Datenschutz im Krankenhaus gewährleisten?

Die Patientin wird zwar zunächst bei uns in der Frauenklinik ambulant aufgenommen und erhält bei uns auch Laboruntersuchungen auf HIV, Hepatitis etc. Die Toxikologie und die DNA gehen in die Rechtsmedizin. Der Aufnahmegrund ist jedoch nicht rückverfolgbar. Der Dokumentationsbogen wird gesondert von der ja auch schon durch das Arztgeheimnis hervorragend geschützten allgemeinen Klinikdokumentation verwahrt, sodass auch ich nicht jederzeit an ihn herankomme. Fotodateien wer- den mit besonderen Zugriffsbeschränkungen im System abgelegt, sodass auch hierüber kein Rückschluss auf den Konsultationsanlass möglich ist. Natürlich wird auch bei uns die elektronische Patientenakte kommen, aber diesen Bereich werden wir aus- gliedern. Gerade in einem so großen Unternehmen wie der München Klinik kann es immer sein, dass man eine Woche später eine andere Behandlung braucht. Dann soll niemand sehen, dass die Betroffene kurz vorher vergewaltigt wurde.

Was sollten Leser*innen der MÄA wissen?

Wir möchten vor allem unser niederschwelliges Angebot für die Betroffenen bekannt machen. Wenn Kolleg*innen uns Patientinnen schicken möchten, sollten sie dies möglichst zeitnah tun. Die Betroffenen sollten möglichst nicht duschen, zähneputzen, essen, trinken oder rauchen um möglichst wenig Spuren zu zerstören. Unser Anliegen ist, dass die Niedergelassenen unseren Patientinnen dann für die Nachbetreuung zur Verfügung stehen. Wenn jemand ebenso wie wir eine Akutversorgung anbieten möchte, freuen wir uns natürlich auch über eine Kontaktaufnahme und eine Unterstützung. Erfahrungsgemäß wird der Zeitaufwand in einer regulären Praxis aber zu hoch sein und den Praxisalltag eher sprengen. Vielleicht gibt es auch Kolleginnen und Kollegen, die sich künftig auch der betroffenen Männer annehmen möchten.

 

Stephanie Hügler

MÄA 04/2024 vom 10.02.2024