Leitartikel

Spina bifida: Zukunftsvision Fetalchirurgie

Nur wenige Ärzte führen fetalchirurgische Operationen durch, denn das Fachgebiet steckt selbst sozusagen noch in den Kinderschuhen. Bei Spina bifida könnte die Fetalchirurgie dennoch Vorteile haben. Über Chancen, Risiken und Visionen sprachen die MÄA mit dem Kinderchirurgen Prof. Dr. Stephan Kellnar vom Klinikum Dritter Orden
Spina bifida: Zukunftsvision Fetalchirurgie
Spina bifida: Zukunftsvision Fetalchirurgie

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Prof. Kellnar, wie weit ist die Fetalchirurgie?

Zum heutigen Zeitpunkt ist die Fetalchirurgie keineswegs ein chirurgisches Routineverfahren. Sie sollte nur innerhalb klar definierter, prospektiver und kontrollierter Studien durchgeführt werden. Das ist ganz wichtig. Wenn sich dieses neue Konzept weiterhin bewährt und es nachweislich einen Nutzen für alle Beteiligten bringt, dann könnte ich mir auch vorstellen, dass wir dieses in einigen Jahren auch hier in München durchführen. Momentan operieren wir hier allerdings erst nach der Geburt.

Welche Studien gibt es dazu?

Beispielsweise gibt es eine Studie aus den Vereinigten Staaten, die nach pränatalem Verschluss der offenen Rückenmarksspalte, der Myelomeningozele oder auch der Spina bifida, vielversprechende Ergebnisse nachwies. Es wurde gezeigt, dass Neugeborene, die zwischen der 20. und 25. Schwangerschaftswoche pränatal operiert wurden, ein besseres neurologisches Outcome zeigten als nach einem entsprechenden Eingriff nach der Geburt. Sie wiesen zudem eine geringere Rate an behandlungsbedürftigem Hydrocephalus auf.

Ist damit zu rechnen, dass das Verfahren irgendwann zum Standard wird?

Das kann ich nicht sagen. Es muss in hoch spezialisierten Zentren wie Philadelphia oder Zürich derzeit noch in größerer Zahl durchgeführt werden. Dort gab es bisher knapp hundert solcher Operationen, die die Erfolge aus der Studie bestätigten. Trotzdem bleibt es nicht nur für die Patienten, sondern auch für die Mutter eine Hochrisiko-Operation. Neben den grundsätzlichen allgemeinen OP-Risiken wie Blutung und Infektion droht dabei auch das Risiko einer Frühgeburt. Jede Intervention am Uterus kann diese auslösen. Wenn zur Rückenmarksspalte auch noch die Probleme einer Frühgeburt hinzukommen, ist das im Einzelfall natürlich ein Desaster.

Gibt es noch andere Indikationen, bei denen eine Fetalchirurgie in Frage kommt?

Aktuell noch nicht. In der Vergangenheit wurde versucht, andere Fehlbildungen, Tumoren etc. durch eine Operation pränatal zu entfernen und dadurch die Prognose zu verbessern. Das ist aber leider meist nicht gelungen. Es gibt allerdings heute schon Interventionen, bei denen bestimmte, mit Flüssigkeit gefüllte Hohlräume etwa mit Nadeln oder Kathetern punktiert und entlastet werden. Diese Eingriffe werden fast ausschließlich von Geburtshelfern durchgeführt.

Ist eine Operation der Spina bifida auch vor oder nach dem von Ihnen genannten Zeitraum in der Schwangerschaft denkbar?

Das ist momentan eher schwierig: In einem früheren Schwangerschaftsstadium stößt man operationstechnisch an gewisse Grenzen. Und später macht es keinen Sinn mehr. Denn mit der pränatalen Operation versuchen wir, das überaus empfindliche Nervengewebe der freiliegenden Rückenmarksspalte vor dem in der späteren Schwangerschaft immer aggressiver werdenden Fruchtwasser zu schützen. Gegen Ende der Schwangerschaft enthält das Fruchtwasser durch den Stoffwechsel des Fötus, also durch Stuhlgang und Erbrechen, Darmenzyme, die sehr aggressiv auf das zarte Gewebe einwirken können. Sie fügen dem bereits fehlgebildeten Nervengewebe einen zusätzlichen Schaden zu.

Sie sprachen von Erfolgen, aber auch von Risiken. Wie hoch sind denn die Risiken?

Dazu möchte ich im Moment keine festen Prozentzahlen angeben, denn die Fallzahlen sind so niedrig, dass sich eine statistische Beurteilung dieser Risiken schwer ableiten lässt. Das Risiko einer Frühgeburt ist vergleichsweise gering, aber wenn sie eintritt, dann sind die Folgen für das Kind erheblich.

Haben Sie bereits einmal eine Patientin mit ihrem Kind aus München in Philadelphia oder Zürich behandeln lassen?

Ja, eine Patientin wurde im Universitäts-Kinderspital in Zürich vom Team um PD Dr. Ueli Möhrlen behandelt. Viele Patientinnen lehnen die Behandlung derzeit aber noch ab, weil ihnen das Risiko zu groß ist – bei noch nicht nachgewiesenem Nutzen. Noch immer ist die postnatale Operation der Goldstandard. Man muss dazu sagen, dass auch eine pränatale Operation die Fehlbildung des offenen Rückenmarks nicht beseitigen kann. Wie bei der postnatalen Operation gelingt es lediglich, das freiliegende Nervengewebe mit Gewebsschichten abzudecken. Aber durch den pränatalen Verschluss ist das Nervengewebe eben vor dem Fruchtwasser gegen Ende der Schwangerschaft geschützt.

Wie geht es Mutter und Kind, die damals in Zürich behandelt wurden, heute?

Soweit ich das weiter verfolgen durfte, lief alles gut. Das Kind hat natürlich Einschränkungen. Man kann leider auch nicht sagen, ob diese bei einer postnatalen OP schwerwiegender gewesen wären oder nicht. Denn das Schwierige an dieser komplexen Operation ist, dass man nie echte 1:1-Vergleiche hat, mit denen man den Erfolg des pränatalen Eingriffs messen kann, weil jede Rückenmarksspalte ein einzigartiges Schadensmuster aufweist.

Würden Sie den Eingriff anderen Patientinnen empfehlen?

Mit Empfehlungen halte ich mich in der Regel zurück. Ich erörtere meistens wertfrei die Möglichkeit und sage dazu, dass die Behandlung noch keine Standardtherapie ist.

Wie funktioniert eine solche Operation praktisch?

Sie ist mit einem großen Aufwand verbunden. Die Schwangere wird in Narkose gelegt. Es sind mehrere Anästhesisten, Geburtshelfer, Kinderchirurgen und Pfleger involviert. Zunächst wird, wie über einen kleinen Kaiserschnitt, die Gebärmutter dargestellt und eröffnet. Der Fötus wird in eine bestimmte Position vor dem Uterus gebracht. Und dann wird der Rückenmarksdefekt mit der gleichen Technik wie beim Routineverfahren nach der Geburt verschlossen. Mutter und Kind befinden sich währenddessen in Vollnarkose.

Gibt es dafür überhaupt die passenden Instrumente und Hilfsmittel?

Es gibt keine speziellen Instrumente, sondern man nutzt eine normale mikrochirurgische Ausstattung. Grundsätzlich braucht es keine besonderen Vorrichtungen, aber das Blutungsrisiko der Gebärmutter muss kontrolliert werden. Das Organ ist in diesem Stadium ja extrem gut durchblutet.

Eine weitere Zukunftsvision ist eine künstliche Gebärmutter für Neugeborene, die ein amerikanischer Kollege entwickelt hat...

Diese Forschung steckt ebenfalls noch in den Kinderschuhen. Der Kollege Professor Dr. Alan Flake vom Children’s Hospital of Philadelphia (CHOP) und sein Team haben die „künstliche Gebärmutter“ bisher erst im Tiermodell an Schafsföten entwickelt. Es gibt dabei noch sehr viele Fragezeichen. Grundsätzlich lässt man den Fötus außerhalb der Gebärmutter mithilfe einer Herz-Lungen-Maschine in einem flüssigen Nährmedium heranreifen. Aber das ist noch sehr visionär und steht noch nicht einmal im Ansatz für eine klinische Verwendung zur Verfügung.

Was gibt es aus Ihrer Sicht noch Neues in der Neonatologie und speziell bei Ihnen am Klinikum?

Auch die postnatale Neugeborenenchirurgie ist grundsätzlich eine hoch spezialisierte Chirurgie, die nur in bestimmten Zentren durchgeführt werden sollte. Dazu zählen die Perinatalzentren Level 1, also die Perinatalzentren der Maximalversorgung, wo alle strukturellen und personellen Voraussetzungen für eine kompetente neonatale Betreuung unter einem Dach konzentriert werden, sodass kein Transport eines schwer kranken Früh- oder Neugeborenen notwendig ist. Bei uns im Klinikum Dritter Orden beispielsweise sind die Geburtshilfe, die Operationssäle und die Intensivstation in einem Gebäude untergebracht, sodass das Neugeborene und vor allem das extrem empfindliche Frühgeborene möglichst keiner Belastung durch einen Transport ausgesetzt wird. Das ist aus meiner Sicht ein Schlüssel für eine erfolgreiche und verantwortliche Neugeborenenchirurgie. Außerdem braucht es natürlich neben dem Kinderchirurgen spezialisierte Ärzte, also Kinderanästhesisten, Neonatologen, Kinderradiologen sowie Pflegende, die mit der Betreuung von Neugeborenen und Frühgeborenen vertraut sind.

In München werden ja sehr viele Kinder entbunden. Ist es denn so einfach, in der Neonatologie einen Platz zu bekommen?

Man muss das schon vor der Geburt organisieren. Die Mutter eines Hochrisikopatienten, bei dem im Ultraschall während der Schwangerschaft eine relevante Fehlbildung dargestellt wurde, sollte grundsätzlich in einem solchen Pränatalzentrum entbinden. Diese Weiche muss die Geburtshilfe stellen.

Was ist aus Ihrer Sicht die Zukunft der Neonatologie?

Ich sehe die Zukunft darin, dass sich das Wissen und die Erfahrung auf wenige Zentren konzentrieren wird. Diese weisen ein gebündeltes Spezialwissen und eine Routine auf, die erforderlich ist, um die schwer kranken und komplexen Patienten optimal behandeln zu können. Die Zukunft liegt für mich weniger in einem bestimmten Medikament oder einer besonderen Operationstechnik als vielmehr in genau dieser Bündelung der Kompetenz und Expertise.