Leitartikel

Praktisches Jahr. Zwischen Ausbildung und Ausbeutung

Keine Zeit zum Lernen, Arbeit auch bei Krankheit und zu wenig Geld zum Leben – darüber klagen viele Medizinstudierende im Praktischen Jahr. Über das Projekt „faires PJ“ sprachen die MÄA mit Yang Yang von der Bundesvertretung der Medizinistudierenden in Deutschland (bvmd) und Lara Kahraman von der Fachschaft Medizin an der LMU.
Praktisches Jahr. Zwischen Ausbildung und Ausbeutung
Praktisches Jahr. Zwischen Ausbildung und Ausbeutung

Foto: Shutterstock

Frau Yang, Frau Kahraman, haben Sie selbst das Praktische Jahr schon absolviert?

Yang: Nein, wir sind Studierende im klinischen Studienabschnitt. Es ist aber üblich, dass sich vor allem Studierende in der Fachschaft für das Praktische Jahr engagieren, da die PJler*innen selbst meist keine Zeit mehr dafür haben. Wir kennen sowohl aktuelle PJler*innen als auch Absolvent*innen und führen regelmäßig Umfragen durch, zuletzt im Frühjahr. Daher kennen wir die Situation und wissen, wo die Mängel liegen und wo Verbesserungsbedarf besteht.

Was sind aus Ihrer Sicht die Hauptprobleme?

Yang: Leider hängt die Qualität der Ausbildung im PJ sehr stark von der Station und den Assistenzärzt*innen dort ab, die meistens die PJler*innen betreuen. Viele Assistenzärzt*innen können sich wegen der Arbeitsbelastung und ihrer eigenen Weiterbildung für die PJler*innen kaum Zeit nehmen. Gleichzeitig läuft ohne die PJler*innen vieles auf der Station nicht mehr oder viel langsamer, etwa wenn sie krank werden. Man verlässt sich auf sie, obwohl sie eigentlich zum Lernen da sein sollten. Bei uns am Klinikum gibt es z.B. täglich PJ-Seminare und Kurse, etwa Ultraschallkurse. Doch oft wird zu den PJler*innen gesagt: „Du kannst erst zu den Seminaren gehen, wenn die Stationsarbeit erledigt ist.“ Es fehlt ein strukturiertes Ausbildungssystem, und die Logbücher werden oft nur oberflächlich geführt. Zudem ist die Aufwandsentschädigung von Klinik zu Klinik unterschiedlich und reicht oft nicht zum Leben. Und wenn jemand krank ist und deshalb fehlt, wird das von den vorgesehenen 30 Fehltagen abgezogen. Die ganze Fehltage-Problematik wird noch dadurch verschärft, dass am Ende des PJs oft nur sehr wenig Zeit zum Lernen üblich ist, sodass sich die meisten PJ*lerinnen 20 Fehltage zur Vorbereitung aufsparen. Effektiv kann man also nur zehn Tage krank sein, ohne Lernzeit fürs dritte Staatsexamen einbüßen zu müssen.

Was sind Ihre Forderungen?

Kahraman: Die bvmd und unsere Fachschaft haben vier Kernforderungen: Erstens ein Mindestabstand zwischen dem Ende des PJ und dem letzten Staatsexamen (M3). Zweitens: Eine qualitativ hochwertige Ausbildung wie in der Approbationsordnung vorgesehen. Drittens: eine klare Trennung von Krankheits- und Urlaubstagen. Derzeit wird nicht unterschieden, ob Du krank warst oder in den Urlaub geflogen bist. Und viertens eine faire, bundesweit einheitliche Aufwandsentschädigung – idealerweise in Höhe des BAföG-Höchstsatzes. Derzeit gibt es nur eine Höchstgrenze für die Bezahlung, und jede Klinik entscheidet selbst. Bei einer 40- bis 50-Stunden-Woche kann man aber nicht noch nebenbei jobben, und nicht alle Eltern können das PJ finanzieren.

Lehre kann auch bedeuten, dass man bei der Visite ein paar Dinge selbstständig machen darf und dass einem die Ärzt*innen zeigen, wie verschiedene ärztliche Aufgaben funktionieren. Aus Umfragen wissen wir, dass sehr viele PJler*innen das Gefühl haben, nie genug Lehre zu bekommen. Daher bräuchte es ein strukturiertes System und eine Möglichkeit, die Lehre zu kontrollieren.

Sie haben am 29.11. eine Podiumsdiskussion veranstaltet (s. MÄA 24/2025). Wie kam es dazu, und wie wurde die Diskussion aufgenommen?

Kahraman: Im Mai 2025 gab es schon Demonstrationen hier in München. Mit der Podiumsdiskussion wollten wir verschiedene Perspektiven zusammenbringen – die der Klinik, der Universität und der Politik. Wir hatten zwei Podien, einmal zur Klinik und zur Universität, unter anderem unter Mitwirkung des Studiendekans Prof. Dr. Martin Fischer, der Frauenbeauftragten PD Dr. Maria Delius, der PJ-Koordinatorin Dr. Mara Müssigmann und Prof. Dr. Marion Subklewe, die u.a. für das Frauen-Netzwerk Female Academic Medical Excellence (FAME) zuständig ist. Auf dem zweiten Podium saßen Claudia Küng als Vertreterin der CSU, Verena Osgyan, Mitglied des Landtags für Bündnis 90/Die Grünen und Dr. Oliver Abbushi, Vorstand der Stiftung BHÄV. Außerdem hatten wir Simon Weißbrod auf dem Podium als Repräsentanten der Medizinstudierenden. Wir wollten wissen: Wo liegen die Probleme, und warum läuft es nicht? Ich bin sehr zufrieden mit der Diskussion und den Gesprächen danach.

Yang: In den Landtagen in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und in Nordrheinwestfalen hatten wir schon Anhörungen. Leider sind wir in Bayern noch nicht so weit. Mit der Podiumsdiskussion wollten wir wieder mehr Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. Wir hatten schon drei Petitionen mit jeweils über 100.000 Unterschriften gesammelt, und trotzdem hatte sich nicht viel getan. Dabei stimmen eigentlich alle unseren Forderungen zu.

Sind Sie auch in Bayern einen Schritt weitergekommen?

Yang: Viele Politiker*innen hier sind uns wohlgesonnen, aber leider ist noch nicht viel passiert. Am LMU-Klinikum haben wir eine Aufwandsentschädigung von 500 Euro, aber das ist nicht genug. Sachsen-Anhalt zum Beispiel zahlt an den Universitätskliniken flächendeckend den Bafög-Höchstsatz. Die Regelungen zu Krankheits- und Fehltagen sind leider bundesweit festgelegt und können nur durch eine Änderung der Approbationsordnung angepasst werden. Zum Mindestabstand zum M3 planen wir, mit den Landesprüfungsämtern zu sprechen, aber in Bayern gibt es viele Zweigstellen. Bei der Lehre fehlt es an klaren Zuständigkeiten: Dozierende sind meist in Vollzeit als Ärzt*innen tätig, und im Klinikalltag fühlt sich niemand wirklich verantwortlich. Die Ministerien verweisen hier auf die Kliniken und die Lehrstühle. Wir müssen also mit vielen verschiedenen Stellen sprechen.

Immer wieder klagen PJler*innen auch über Sexismus, Rassismus, zu impulsive Vorgesetzte oder übermäßige Hierarchien im PJ. Wurde auch das thematisiert?

Kahraman: Ja, Sexismus und Rassismus wurden angesprochen. Einige Fälle sind offenbar schon bekannt. Dieses Thema von studentischer Seite anzusprechen, ist aber sehr schwierig, denn oft ist man ja noch länger auf dieser Station. Daher haben viele PJler*innen Angst, offen über solche Probleme zu reden. Zum Glück gibt es an der LMU dafür inzwischen eine Meldestelle bei den Frauenbeauftragten der Fakultät, an die man sich über eine Email wenden kann. Wir arbeiten in der Fachschaft daran, dass zukünftig auch alle Studierenden von dieser Anlaufstelle erfahren.

Yang: Von Bundesseite fordern wir überall solche unabhängigen Stellen. Eine Kommilitonin von mir wurde im PJ z.B. direkt gefragt, ob sie Kinder haben will. Dann könne sie das mit der Chirurgie gleich sein lassen, hieß es. Für viele Kommiliton*innen ist es außerdem ein Schock, wenn man in einem sehr hierarchischen Fach wie der Chirurgie plötzlich angeschrien wird oder Vorwürfe bekommt, weil man im OP einen kleinen Fehler gemacht oder nicht schnell genug agiert hat.

Welche Erfahrungen gibt es beim Thema Krankheit?

Yang: Während meiner Famulatur wurde zu einer PJlerin mit Influenza gesagt, dass sie jetzt nicht krank sein darf, weil die Station sonst nicht läuft und niemand Zeit dafür hat, Blut abzunehmen. Sie kam dann mit FFP2-Maske auf die Station, und das war kein Einzelfall. Eine andere Kommilitonin ist sogar mit ihrem eingegipsten Fuß in den OP gegangen, weil sie gebraucht wurde und keine Fehltage mehr hatte. Da im Stehen operiert wird, war das natürlich schwierig.

Kahraman: Bei meinem Pflegepraktikum auf der Pneumologie ist eine Kommilitonin wegen ihrer Influenza daheim geblieben, wie es sich gehört. Schließlich lagen dort einige ältere Patient*innen mit schweren Lungenkrankheiten, die Risikopatient*innen darstellen. Einige Pfleger*innen und Ärzt*innen sagten dazu aber: „Wenn sie jetzt schon in der ersten Woche fehlt, weiß man schon, wie es weiterlaufen wird.“ Das hat mich damals sehr schockiert.

Haben Sie konkrete Forderungen zur Lehre?

Yang: Oft fallen Seminare oder Unterricht am Patientenbett aus, weil einfach kein*e Dozent*in kommt. Wir als Fachschaft wünschen uns, dass die Assistenzärzt*innen oder Fachärzt*innen für die Lehre vom Klinikum freigestellt werden. Die Lehrenden müssen zusätzlich zum Personal eingeplant werden. Derzeit passiert es beispielsweise häufig, dass Seminare durch Anrufe unterbrochen werden, weil der/die Dozent*in gleichzeitig noch für die Station verantwortlich ist.

Was müsste passieren, damit mehr Studierende später auch als Ärztinnen und Ärzte arbeiten?

Yang: Viele meiner Kommiliton*innen haben nach dem Studium dort angefangen, wo sie am besten behandelt wurden. Kliniken sollten die PJler*innen also als Chance sehen, gut ausgebildete Mitarbeitende zu gewinnen. Generell fehlt uns im PJ oft die Wertschätzung. Und es schreckt ab, wenn man weiß, dass man als Assistenzärztin keine Wochenenden und auch keinen Schlaf mehr haben wird. Natürlich habe ich diesen Beruf aus altruistischen Motiven gewählt, und ich tue gern viel für meine Patient*innen – aber nicht langfristig auf Kosten meiner eigenen Gesundheit.

Kahraman: Auch mir geht es um die Wertschätzung. Dass man als Person, als Teil der Klinik gesehen wird – auch und besonders im PJ. Wenn man den Studierenden zeigt, wie schön der Arztberuf denn sein kann, hat man die Leute für die Zukunft gewonnen.

Was sind Ihre Hoffnungen für die nächste Zeit?

Kahraman: Wir denken über weitere Demonstrationen nach und arbeiten bundesweit mit anderen Fachschaften zusammen. Als nächsten Schritt möchten wir uns hier in Bayern mit dem Landesprüfungsamt abstimmen und einen Überblick gewinnen, wer für was zuständig ist.

Yang: Von Bundesseite aus gehen wir nun mehr auf die Landtage zu. Wir haben im letzten Jahr und auch zuletzt wieder unsere Erfahrungsberichte an alle Landtage, Bildungs-und Gesundheitsministerien verschickt, und ich war auch in Berlin bei Bundestagsabgeordneten zu Besuch. Zwei unserer Kernforderungen – die Aufwandsentschädigung auf BaföG-Niveau und eine adäquate Krankheits- und Fehltage-Regelung – stehen nämlich schon im Koalitionsvertrag.

Was wünschen Sie sich persönlich für Ihr PJ?

Kahraman: Mein Fokus liegt auf einer guten Lehre, damit ich gut auf meine künftige Arbeit als Ärztin vor-bereitet bin. Als ich gehört habe, dass auf einigen Stationen nicht einmal 20 Prozent der Lehre im PJ wirklich stattfinden können, hat mich das unfassbar schockiert.

Yang: Ich möchte Chirurgin werden. Jetzt schon zu sehen, wie viele PJler*innen in der Chirurgie behandelt werden, ist für mich sehr abschreckend. Ich wünsche mir, dass sich die Atmosphäre in meinem PJ in ca. zwei Jahren geändert hat, dass ich dort als Teil des Teams gesehen werde, und nicht nur als Last für die Ärzt*innen. Ich wünsche mir, dass Fragen gestellt werden und auch etwas erklärt wird. Dass man etwas mitnimmt aus dieser Zeit.

Dieses Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA 01/2026 vom 31.12.2025

 

 

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