Leitartikel

Nordisches Modell gegen Prostitution, Raus aus Gewalt und Menschenhandel

In anderen Ländern existiert es schon – das Sexkaufverbot, auch Nordisches Modell genannt. Deutschland hingegen gilt vielen als „Bordell Europas“. Welche Vorteile hat das Nordische Modell? Und warum kann es ein Ausweg aus Gewalt und Menschenhandel sein? Dies erläuterte die Gynäkologin Liane Bissinger.
Nordisches Modell gegen Prostitution, Raus aus Gewalt  und Menschenhandel
Nordisches Modell gegen Prostitution, Raus aus Gewalt und Menschenhandel

Foto: shutterstock

Frau Bissinger, der Menschenrechtsausschuss des ÄKBV hat Sie im vergangenen Jahr als Expertin für das Nordische Modell eingeladen. Wie sind Sie dazu gekommen?

Von 1996 bis 2000 war ich in Hamburg als Frauenärztin bei der dortigen Gesundheitsbehörde zur Versorgung und Untersuchung von Frauen in der Prostitution angestellt. Dort habe ich sehr direkte, erschütternde Erfahrungen mit dem Thema gemacht. 2016 habe ich hier in München bei einer Fachtagung mit dem Titel „Stopp Sexkauf“ zum ersten Mal bewusst vom „schwedischen Weg“ oder „Nordischen Modell“ gehört. Dies ist für mich der beste Weg, wie Gesellschaften mit Prostitution umgehen können. Derzeit arbeite ich hauptberuflich als Impfärztin und engagiere mich in Vorträgen sowie beim Münchner Kommunikationszentrum für Frauen zur Arbeits- und Lebenssituation (Kofra), für das Nordische Modell.

Welche Erfahrungen haben Sie in Hamburg gemacht?

 Vor dem Hintergrund der Grenzöffnungen in Osteuropa und des weltweiten Transits hat die Hansestadt in den späten 1990ern ein Sondermodell geschaffen: Die Prostitution wurde von der Untersuchungspflicht befreit. Stattdessen gab es freiwillige, anonyme und kostenlose Untersuchungen und ein sehr aufwändiges Angebot – durch Frauenärztinnen, Pflegekräfte, Sozialarbeiterinnen sowie Übersetzerinnen für alle Sprachen als kulturelle Mediatorinnen. Gleichzeitig war in der Prostitution jedoch so gut wie alles erlaubt. Auch ich war zunächst der Meinung, dass dies modern und zeitgemäß sei. Doch als ich dort entsetzlichen, schier unvorstellbaren Zuständen begegnet bin, bin ich von dieser Meinung wieder abgekommen.

Was sieht das schwedische oder Nordische Modell genau vor?

Es besteht je nach Land aus drei oder vier Säulen (s. Grafik), die alle wichtig sind: Säule Nummer 1 ist die Entkriminalisierung der betroffenen Menschen. Im schwedischen Modell ist nicht die Prostitution an sich verboten, sondern der Sexkauf. 95 Prozent der von Sexkauf Betroffenen sind Frauen, daher rede ich im Folgenden von Frauen. Das Gleiche gilt aber auch für prostituierte Männer und Trans*.

Die zweite Säule sind Ausstiegsmodelle: Allen Frauen, die in der Prostitution angetroffen werden, wird Hilfestellung angeboten. Sie dürfen mindestens ein bis zwei Jahre lang in Schutzräumen wohnen, erhalten psychotherapeutische und medizinische Betreuung, Umschulungs- und Ausbildungsangebote, Entschuldungsverfahren. Dafür werden auch staatliche Mittel in die Hand genommen. Die dritte Säule ist die Eindämmung der Nachfrage. Bordellbesitzer und Menschenhändler werden bestraft. Sexkäufer erhalten eine Anzeige und müssen Bußgelder bezahlen, wenn sie erwischt werden. Aktuell wird in Schweden auch über eine Freiheitsstrafe diskutiert. Die vierte Säule ist Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit mit dem Ziel des gesellschaftlichen Umdenkens – durch Kampagnen, antisexistische Erziehung und Aufklärung an Kitas, Schulen, Universitäten und andere Bildungsangebote.

 

Viele Menschen glauben, dass die meisten Prostituierten freiwillig arbeiten. Wie sehen Sie das?

In öffentlichen Auftritten zeichnet eine kleine Minderheit von deutschsprachigen, gebildeten, privilegierten, sozialversicherten Frauen dieses Bild, um ihre „Arbeit“ zu echtfertigen. Viele davon sind Dominas und haben sich sozusagen freigestrampelt. Ich gönne ihnen, dass sie weniger Gewalt in ihrem Leben erfahren, aber sie repräsentieren keinesfalls die überwältigende Mehrheit. Für mich ist Prostitution weder Sex noch Arbeit, sondern Gewalt und Entwürdigung. Wir wissen aus Studien (s. Kasten), dass die meisten Prostituierten in ihrer Vorgeschichte traumatisiert wurden – psychisch, sexuell oder durch Verwahrlosung in der Kindheit. Im Jahr 2016 haben führende deutsche Psychotraumatolog*innen dies in einem Appell bestätigt und sich ebenfalls für das schwedische Modell ausgesprochen (s. Links).

Könnten sich die Frauen nicht einfach andere, bessere Jobs suchen?

Eine Patientin von mir aus Osteuropa konnte nach einem Jahr Corona und 30 Jahren Prostitution nicht mehr. Sie wollte mithilfe des Münchner Frauenobdachs Karla 51 aussteigen, doch hierfür gibt es in Deutschland keine Lösung. Der Ausstieg ist nicht vernünftig geregelt. Denn zum einen befinden sich die meisten Frauen nicht im Sozialversicherungssystem. Nur ein verschwindend geringer Anteil der Frauen ist krankenversichert, und daran konnte auch das „Prostituiertenschutzgesetz“ von 2017 nichts ändern. Das Hauptproblem ist aber, dass die meisten Frauen nach vielen Jahren Prostitution und Leben in einem kriminellen Milieu schwerstkrank und daher nicht arbeitsfähig sind.

Wie geht und ging es den Prostituierten in München in der Coronapandemie? Wissen Sie etwas darüber?

Über das Netzwerk Ella, eine Interessenvertretung von Frauen aus der Prostitution, bin ich gut vernetzt und habe auch einzelne Fälle begleitet. Corona zeigt aus meiner Sicht derzeit noch viel genauer die Ausbeutungssituation und strukturelle Gewalt gegen betroffene Frauen. Ich kenne eine junge rumänische Frau, Mutter von zwei Kindern, die hier in München prostituiert wurde und während des vollständigen Prostitutionsverbots zu Anfang der Pandemie weiter arbeiten musste, um ihre Kinder zu ernähren. Sie wurde deshalb inhaftiert und saß bis vor wenigen Monaten in Stadelheim ein, weil sie die Ordnungsstrafe nicht zahlen konnte. Das Netzwerk Ella hat in einer Spendenaktion mehrere tausend Euro aufgebracht, um sie freizubekommen. Wir wissen, dass die Frauen zu Anfang der Pandemie in den Bordellen regelrecht festsaßen, weil sie nicht nach Hause konnten. Das auch für die abverlangte Bordellmiete erforderliche Geld konnten sie dort nicht erwirtschaften, sodass sie immer weiter in eine Schuldenfalle und in regelrechte Sklaverei getrieben wurden. Derzeit (Stand: 20.12.2021) ist der Betrieb von Bordellen in Bayern wieder verboten, sexuelle Dienstleistungen sind unter 2-G-Bedingungen und „eins zu eins“ erlaubt.

Ein zweites häufiges Argument für die legale Prostitution ist, dass dadurch womöglich weniger Gewalt gegenüber anderen Frauen ausgeübt wird.

Wenn ich das höre muss ich zweimal tief durchatmen. Wollen wir wirklich ein solches Männerbild mittragen und davon ausgehen, dass Männer grundsätzlich ihre Triebhaftigkeit nicht kontrollieren können? Dass sie in irgendeiner Weise ein Recht auf Sex haben? Wollen wir, wie im archaischen Altertum, zwölf Jungfrauen bzw. eine Gruppe von Frauen dafür opfern? Und wer würde diese Gruppe aussuchen? Ich habe ein ganz anderes Bild von Männern. Das schwedische Modell hat außerdem gezeigt, dass das Gegenteil der Fall ist: Vergewaltigungen werden in Schweden seltener. Nur die Anzeigen von Vergewaltigungen nehmen zu, weil betroffene Frauen dort mehr Unterstützung erhalten und kein Victim Blaming mehr stattfindet.

Viele sagen: Wenn man etwas verbietet und bestraft, wird es trotzdem gemacht, aber eben heimlich. Was sagen Sie zu diesem Argument?

Wenn uns bewusst ist, dass Prostitution strukturelle Gewalt an und Ausbeutung von Frauen ist, können wir nur an der Nachfrage in Kombination mit Aufklärung ansetzen. Gesetze schaffen normative Veränderungen. Als das Nordische Modell 1999 in Schweden implementiert wurde, war die Begeisterung der Männer gering. Das hat sich mittlerweile insbesondere bei den jungen Männern komplett geändert. Schwedische Männer sprechen sich heute zu über 60 oder 70 Prozent für das Nordische Modell aus. Was bist Du für ein Loser, wenn Du für Beziehung oder Sex Geld hinlegen musst?, fragen sie. Das zeigt: In den Köpfen ist etwas passiert. Das würde auch in Deutschland funktionieren. Zum Dunkelfeld: Ein schlimmeres Dunkelfeld als hier in Deutschland kann ich mir nicht vorstellen. Es gibt hier so viele nicht angemeldete Frauen, die Opfer von Menschenhandel sind. Der pensionierte Kriminalhauptkommissar Manfred Paulus, Träger des Bundesverdienstkreuzes, hat in seinem Buch „Menschenhandel und Sexsklaverei“ beschrieben, wie junge Frauen hierherkommen und sofort im Rotlichtmilieu landen. Sie haben keine Verbindung zur hiesigen Gesellschaft und sind den kriminellen Strukturen vollkommen ausgeliefert, weil sie weder die Sprache sprechen noch ihre Rechte kennen.

Gibt es Zahlen zum Erfolg des schwedischen Modells?

Ja. Es gibt dort natürlich noch Prostitution, aber sie ist stark zurückgegangen. Tatsache ist, dass Schweden für Menschenhändler mittlerweile uninteressant ist. Interpol hat abgehörte Protokolle veröffentlicht, die dies zeigen. Menschenhandel und Prostitution aber gehören zusammen. Hierzulande gibt es für den Handel mit Frauen als Ware einen offenen, völlig unregulierten Markt. Als Einstiegs-Kriminelle*r ohne Geld kann man zwar noch nicht mit Drogen oder Waffen handeln, aber eine Frau kostet so gut wie nichts, und man kann sie gleich mehrfach verkaufen.

Sie haben die Traumatisierung der Betroffenen erwähnt. Wie bewerten Sie Prostitution als Ärztin und Gynäkologin?

Die Praktiken, die den Frauen heute abverlangt werden, haben sich seit meiner Hamburger Zeit stark verändert. Heute werden standardmäßig alle Körperöffnungen „bedient“. Junge Frauen mit wenig Erfahrung werden täglich mehrfach vaginal, oral und anal penetriert, nicht zärtlich und im gegenseitigen Einverständnis, sondern so, wie sich das der Sexkäufer in seinen Phantasien wünscht. Die Folgen macht man sich oft nicht klar. Beim Oralverkehr zum Beispiel müssen viele Frauen den Würgereflex unterdrücken, weil der Penis so tief und schnell eingestoßen wird. Es kann zu Kehlkopfentzündungen und –verletzungen bis hin zu Kiefergelenksarthrosen und Magenentzündungen kommen. Oft treten Viren, Bakterien und Pilze ein, weil viele Männer kein Kondom benutzen. Bei der vaginalen und analen Penetration kann es zu äußerst schmerzhaften Verletzungen in Vagina, Beckenboden, Vulva und Rektum kommen – bis hin zur Inkontinenz. Hinzu kommen die ganzen sexuell übertragbaren Infektionen. Insgesamt kann jede Körperregion von Kopf bis Fuß von Folgen der Prostitution betroffen sein, und ich spreche dabei noch nicht einmal von den Langzeitfolgen. Um all das auszuhalten sind die meisten Frauen zudem alkohol-, drogen- oder tablettenabhängig.

Was raten Sie Kolleg*innen in Klinik und Praxis, die mit betroffenen Frauen zu tun haben?

Von der Lobbyseite pro Prostitution wird uns oft vorgeworfen, dass wir Frauen in der Sexarbeit stigmatisieren. Das ist aber nicht der Fall. Es ist wichtig, dass sich alle Kolleg*innen ie mögliche Zwangs- und Gewaltsituation dieser Frauen klar machen und alle Hilfen anbieten, die es gibt. In München gibt es z.B. über das Gesundheitsamt eine gynäkologische Sprechstunde für Nichtversicherte, die Anlaufstelle Solwodi (solidarity with women in distress), das Frauentherapiezentrum, Frauennotruf und Frauenobdach. An die Psychotherapeut*innen appelliere ich, dass sie sich mehr für dieses Thema öffnen. Das wäre dringend nötig. Ich habe aber vor allem einen politischen Appell: Wir in Deutschland sollten uns dem Nordischen Modell anschließen und dieses einfordern. Nur so können wir die enorme Gewalt gegen Frauen verhindern, die im Übrigen auch ein großes Gleichstellungshindernis ist. Dazu braucht es noch viele Informationen und Diskussionen, die wir in unseren Fachgesellschaften und Gremien anregen sollten.

 

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 2 vom 14.01.2022