129. Deutscher Ärztetag in Leipzig. Zwischen Technik und Menschlichkeit

Foto: Stephanie Hügler
Fast 300 Jahre vor diesem Ärztetag, am 30. Mai 1723, begann Johann Sebastian Bach seinen Dienst als Thomaskantor in der Leipziger Nikolaikirche. Und ebenfalls dort gaben die wöchentlichen Friedensgebete und darauffolgenden Montagsdemonstrationen 1989 einen wichtigen Anstoß für die Friedliche Revolution der DDR-Bürger gegen den herrschenden totalitären Staat. Auf die historische Bedeutung der Nikolaikirche gingen mehrere Redner*innen bei der Ärztetagseröffnung ein.
Die neue Bundesgesundheitsministerin, Nina Warken, machte bei der Eröffnung am 27. Mai quasi ihren Antrittsbesuch bei der deutschen Ärzteschaft. In einer kurzen, sachlichen Rede äußerte sie ihren Wunsch zu einer guten, vertrauensvollen Zusammenarbeit. Gemeinsam könne und müsse man die notwendigen Veränderungen etwa bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen und der Datensicherheit bei der ePA angehen. Gemeinsam gelte es, Bürokratie und überbordenden Dokumentationspflichten Einhalt zu gebieten und die medizinische Versorgung, besonders auf dem Land, zu sichern.
Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt warnte in seiner Eröffnungsrede vor einem Kollaps des Gesundheitssystems, wenn die derzeitigen tiefgreifenden Herausforderungen nicht durch grundsätzliche strukturelle Veränderungen angegangen würden. Der Bedarf an Versorgung steige durch die doppelte demografische Alterung – die der Bevölkerung und die der Ärzteschaft. Das Gesundheitssystem müsse sich zwingend weiterentwickeln, und zwar „solide in seiner Struktur, solidarisch in seinem Anspruch und getragen von einem belastbaren Vertrauensverhältnis zwischen Politik, Selbstverwaltung und den Menschen, für die wir Verantwortung übernehmen“, sagte Reinhardt. Nachhaltige Lösungen könne man nur gemeinsam erreichen.
Die Politik müsse anerkennen, dass das Gesundheitswesen „kein bloßer Kostenfaktor“ sei, „den man mit pauschalen Sparmaßnahmen auf Effizienz trimmen kann.“ Es brauche immer auch eine kritische Langfristbetrachtung und globale Folgenabschätzung. Gleichzeitig müsse Gesundheit qualitativ hochwertig und zugleich für kommende Generationen bezahlbar bleiben. Reinhardt lobte den aktuellen Koalitionsvertrag. Er benenne die Reformbaustellen klar und zeige eine Bereitschaft für unkonventionelle Lösungsansätze, etwa indem er das vom letzten Deutschen Ärztetag als erwünscht beschlossene verbindliche Primärarztsystem berücksichtige. Dieses müsse aber mehr sein als „ein reines Gatekeeping-System, wie wir es mit allen negativen Auswirkungen aus anderen Ländern kennen“.
Auch dass der Koalitionsvertrag eine Weiterentwicklung der Krankenhausreform und die finanzielle Stabilisierung der Kliniken vorsieht, lobte Reinhardt. Um angesichts des Fachkräftemangels auch künftig noch genügend Fachärztinnen und -ärzte ausbilden zu können, benötige es die ärztliche Weiterbildung in den Krankenhäusern und eine Fortentwicklung des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes (KHVVG). Das Medizinstudium müsse endlich reformiert, die Approbationsordnung an die heutigen Erfordernisse angepasst werden. Auch Ärzt*innen im Ruhestand könnten helfen, den Fachkräftemangel abzumildern – bei entsprechenden steuerlichen Anreizen und attraktiven Arbeitsbedingungen. Insgesamt rief Reinhardt die neue Bundesregierung zur Abschaffung der überbordenden Bürokratie in der Medizin auf, die in den Krankenhäusern rund drei Stunden täglich, in den Praxen pro Jahr mehr als 50 Millionen Nettoarbeitsstunden verschlinge.
Eine Entlastung angesichts des Fachkräftemangels könne auch die Künstliche Intelligenz (KI) bieten. Sie biete große Chancen für die Forschung, eine präzisere Diagnostik und individuelle Therapien, und sie könne Prozesse effizienter machen. Gleichzeitig müsse man die Gefahren einer Manipulation etwa durch programmierte Algorithmen und Meinungsbeeinflussung ernst nehmen. Allein der Mensch könne mit Gesetzen und medizinethischen Leitlinien Vernunft, Empathie und die Angemessenheit der Entscheidung beurteilen: „Verantwortung ist nicht teilbar – auch nicht zwischen Mensch und Maschine“, sagte Reinhardt.
Das Plenum beschäftigte sich am 28. Mai ebenfalls ausgiebig mit dem Thema KI. In zwei Vorträgen beschrieben Prof. Dr. Aldo Faisal von der Universität Bayreuth und dem Imperial College London sowie Prof. Dr. Ulrike Attenberger von der Medizinischen Universität Wien die Vor- und Nachteile der neuen Technik. Faisal berichtete von vielen positiven Beispielen aus England, in denen die KI nicht nur geholfen habe, passen- de Diagnosen auch für seltene Erkrankungen zu stellen, sondern mithilfe von präziseren Therapien auch Leben retten konnte. Durch neue technische Lösungen lasse sich die Versorgung in der Fläche, auf dem Land verbessern.
Attenberger betonte, die Nutzung einer KI sei nur dann sinnvoll, wenn sie von erfahrenen Ärztinnen und Ärzten bedient werde. Probleme könne es z.B. bei der Schnittstellenintegration geben. Unterschiedliche Systeme müssten erst lernen, miteinander zu „sprechen“. Mithilfe von KI könnten die Patient*innen aber über Selbstmanagement aktiv zu ihrer Gesundheit beitragen. Die Technik könne und dürfe allerdings nur ein Werkzeug sein, denn die Gefahr von Halluzinationen bei Chatbots und das Datenschutzproblem seien nicht zu unterschätzen. Damit beispielsweise Frauen und andere Patientengruppen nicht durch die Flut von mit einem Geschlechts- oder anderem Bias versehene Daten benachteiligt würden, sei es wichtig, die KI mit passenden Daten auch dieser anderen Patientengruppen zu füttern.
Das Plenum setzte sich für eine zügige Öffnung der Medizin gegenüber KI ein, betonte aber auch die Unersetzbarkeit des „Human Touch“: „Empathie, Kommunikation und psychosoziale Kompetenz sind unverzichtbare Bestandteile der medizinischen Behandlung und können durch KI nicht ersetzt werden“, stand in einem vom Plenum verabschiedeten Antrag.
Ein weiteres wichtiges Thema an diesem Tag war die Verabschiedung der neuen „Gebührenordnung für Ärzte“ (GOÄ). Obwohl einige Gruppen an den Türen zum Leipziger Kongresszentrum Flyer gegen deren Verabschiedung verteilt hatten, stimmte der Ärztetag dem Entwurf der neuen GOÄ schließlich mit überwältigender Mehrheit zu. Einzelne Punkte könnten im Gespräch mit der Bundesärztekammer noch weiterentwickelt und „nachjustiert“ werden, beruhigte Reinhardt die Zweifelnden. Als Gesamtkonstrukt müsse die neue GOÄ aber nun endlich in der Politik umgesetzt werden.
Der Ärztekammerpräsident lobte die neue Gebührenordnung als zeitgemäß. Sie biete mehr Rechtssicherheit und Transparenz, lasse sich leichter an den medizinischen Fortschritt, z.B. an digitale Leistungen, anpassen und bedeute für die Ärzteschaft insgesamt ein großes Honorarplus. Redner*innen im Plenum freuten sich besonders darüber, dass mit der neuen GOÄ nun auch die sprechende Medizin besser vergütet wird. Ärztliche Zuwendung werde nun endlich auch finanziell anerkannt – mit Vorteilen für alle Fachgebiete.
Am Donnerstag, den 29. Mai wandte sich die Ärzteschaft dem Thema Schwangerschaftsabbruch (§ 218 StGB) zu (s. hierzu auch MÄA 11/2025). Die Delegierten sprachen sich dafür aus, das Thema zu entstigmatisieren und die Regelung aus dem Strafgesetzbuch herauszunehmen. Kein Arzt und keine Ärztin dürfe dazu gezwungen werden, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Doch wer dies tue müsse „wirksam vor Drangsalierungen, Bedrohungen und Angriffen geschützt werden“.
„Zeitnah und niederschwellig“ müsse die Versorgung der Frauen in dieser Notlage sein. Aktuell zeige die ELSA-Studie aber, dass Versorgungsangebote je nach Bundesland und Infakstruktur (Stadt (/ Land) „sehr unterschiedlich“ und teilweise „nicht angemessen“ seien. Zum Schutz des ungeborenen Lebens sprachen sich die Delegierten für eine Beibehaltung der Beratungspflicht aus, die auch den Frauen helfen könne, einem Termindruck zu entkommen. „Sowohl das Recht der Frauen auf Leben, Gesundheit und Selbstbestimmung ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse, als auch das Recht des Ungeborenen auf Leben“ seien zu beachten.
In weiteren Anträgen beschäftigte sich der Ärztetag mit der seit dem Masterplan 2020 angestrebten Reform des Medizinstudiums. Diese müsse innerhalb des nächsten Jahrs kommen, damit das Studium endlich praktischer und patientenorientierter werde. Medizinstudierende im Praktischen Jahr bräuchten eine Aufwandsentschädigung mindestens auf dem Niveau des BaföG-Satzes und eine Fehlzeitenregelung, die auch Krankheit berücksichtige. Derzeit seien in den 30 möglichen Fehl- tagen Krankentage inbegriffen – mit großen Nachteilen für die Sicherheit von Patient*innen und die Gesundheit der Studierenden.
Im Hinblick auf die elektronische Patientenakte forderten die Delegierten erneut eine bessere Nutzenorientierung und wirksame Maßnahmen gegen Cyber-Angriffsszenarien. Mit wachsenden Bedrohungen von Innen und Außen befasste sich das Plenum auch in weiteren Anträgen. Der Ärztetag forderte eine Stärkung der Krisenresilienz im Gesundheitswesen mit einem verbindlichen Stufenplan und klar definierten Verantwortlichkeiten. Der nationale Pandemieplan müsse aktualisiert und die Weltgesundheitsorganisation gestärkt werden – auch finanziell. Im Hinblick auf künftige Pandemien und Krisen brauche es eine passende personelle Ausstattung und eine gute digitale Struktur des Öffentlichen Gesundheitsdiensts.
Die Gesundheit von Kindern muss durch Werbeverbote für zucker- und fetthaltige Lebensmittel sowie eine Zuckersteuer und eine höhere Tabaksteuer geschützt werden. Auch diese langjährige Forderung bekräftigten die Delegierten. Außerdem sprachen sie sich für eine Einschränkung beim Konsum von sozialen Medien, Messenger-Diensten und Medienplattformen aus. Erste Hilfe und Wiederbelebung hingegen müssten wie in Norwegen in der Schule gelehrt werden und sollten in die Lehrpläne der Klassen sieben bis zehn aufgenommen werden. Norwegen habe damit eine Reanimationsquote von 80 Prozent erreicht.
Abschiebungen von Geflüchteten aus Krankenhäusern verurteilten die Delegierten in ihren Beschlüssen ausdrücklich. Das Ärzteparlament sprach sich zudem für ein Suizidpräventionsgesetz aus. Angesichts des Grundsatzurteils des Bundesverfassungsgesetzes vom 26. Februar 2020 brauche es ein Schutzkonzept, das sowohl das Recht auf Selbstbestimmung der Menschen enthalte als auch eine gesellschaftliche Normalisierung des Suizids verhindere. Vertrauensvolle Gespräche über Todeswünsche oder Lebensmüdigkeit gehörten zwar zu den ärztlichen Aufgaben. Ob Ärzt*innen aber an einer Selbsttötung mitwirken wollten, müssten diese frei selbst entscheiden können.
Dieses Gespräch führte Stephanie Hügler
MÄA 13 vom 21.06.2025