Leitartikel

Mobilfunkgestützte Reanimation, Eine App fürs (Über-) Leben

Bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand muss es schnell gehen. Die No-flow-Zeit durch per Handy alarmierte Helfer*innen zu verkürzen steht im Zentrum der Initiative „München rettet Leben“. Dafür werden dringend weitere Retter*innen gesucht. Ein Interview mit den Notfallmediziner*innen Dr. Katarina Grujic und Dr. Stephan Prückner.
Mobilfunkgestützte Reanimation, Eine App fürs (Über-) Leben
Mobilfunkgestützte Reanimation, Eine App fürs (Über-) Leben

Foto: shutterstock

Frau Dr. Grujic, Herr Dr. Prückner, um was genau geht es beim Projekt „München rettet Leben“, und wie ist es entstanden?

Grujic: Die App „Mobile Retter“ informiert bei einem Notfall mit Herz-Kreislaufstillstand mögliche Ersthelfer*innen, die sich in der Nähe des Einsatzorts befinden, damit diese Wiederbelebungsmaßnahmen durchführen können. Ziel ist, das therapiefreie Intervall bis zum Eintreffen des Rettungsdiensts zu verkürzen. Das Projekt wurde vom Münchner Stadtrat ins Leben gerufen. Es basiert auf einer Kooperation der Landeshauptstadt, des Rettungszweckverbands, der integrierten Leitstelle, des Landkreises München und des Arbeitskreises Notfallmedizin und Rettungswesen (ANR) e.V.. Auch der ÄKBV ist Projektpartner.

Prückner: In der ersten Projektphase haben wir ausschließlich mit aktiv im Notarzt- und Rettungsdienst tätigen Kolleg*innen gearbeitet – also mit Profis. In der derzeitigen zweiten Phase beziehen wir andere Menschen mit medizinischem Vorwissen ein, etwa medizinisches und zahnmedizinisches Fachpersonal. Dazu zählen z.B. nicht notfallmedizinisch tätige Ärzt*innen, ehrenamtliche Helfer*innen oder Sanitäter*innen aus Hilfsorganisationen, privaten Rettungsdiensten, Feuerwehren, Bundeswehr, Bergwacht oder Wasserwacht mit entsprechender Grundausbildung. Für uns ein ganz wichtiger Pool sind die Studierenden der beiden medizinischen Fakultäten. In der dritten Phase schließlich wollen wir Laien ohne spezifisches Vorwissen rekrutieren, sie entsprechend schulen und dadurch für das Projekt qualifizieren.

Im Jahr 2021 hatten wir bereits ein erstes Interview. Damals stand die erste Projektphase unmittelbar bevor. Wie ist es seither gelaufen?

Prückner: Die Technik hat gut funktioniert, und wir konnten mit den damals erstmals rekrutierten Ersthelfer*innen bereits einige lebensrettende Reanimationen durchführen. Insgesamt hatten wir rund 30 Reanimationen und um einiges mehr Alarmierungen, weil sich die gemeldeten Notfälle nicht immer als Reanimationssituationen erwiesen haben.

Grujic: In der zweiten Phase haben wir sehr viel Zeit investiert, die bisherigen Einsätze zu analysieren. Wir wollten herausfinden, wo sich die Einsatzorte befanden und was sehr häufige Meldebilder sind. Wir möchten genügend Vorarbeit leisten, um später gut in die dritte Phase der Laienreanimation zu starten und die Laien bestmöglich auf ihren potentiellen Einsatz vorzubereiten. Die Stadt München ist aufgrund ihrer größeren Bevölkerungsdichte natürlich insgesamt etwas stärker vertreten als der Landkreis, aber auch im Landkreis gab es einige Einsätze.

Prückner: Die Menschen bewegen sich. Daher können wir noch keine genauen Aussagen über signifikante Unterschiede zwischen einzelnen Gebieten in Stadt und Landkreis treffen.

Wie ist die bisherige Resonanz in der zweiten Projektphase?

Grujic: Sie ist sehr gut. Unter Studierenden der Humanmedizin konnten wir einen sehr großen, jungen Kreis an Helfer*innen aktivieren. Es ist toll zu hören, wie engagiert viele junge Menschen sind und wie die Münchner*- innen insgesamt solche Einsätze annehmen. Die Nachbarschafts- und Bürgerhilfe war an vielen Orten wirklich großartig. Unsere Retter*innen brauchten im Durchschnitt nur 1 Minute und 19 Sekunden zur Patientin oder zum Patienten! Aus notärztlicher Sicht ist das ein herausragendes Ergebnis. Die für das Überleben so wichtige No-flow-Zeit wurde wesentlich verkürzt. Aktuell versuchen wir, mit allen Leuten in Kontakt zu treten, die bei den bisherigen Einsätzen dabei waren, um daraus zu lernen. Zum Beispiel erforschen wir mit einem Katalog anhand von fünf Fragen die Erfahrungen und möglichen Probleme der bisherigen Retter*innen.

Prückner: Natürlich könnten sich immer noch mehr Menschen bei uns melden, aber grundsätzlich läuft es gut. Wir sind noch in der Anfangsphase, in der noch einige Anpassungen stattfinden und „Kinderkrankheiten“ behoben werden. Z.B. tauschen wir uns mit der Integrierten Leitstelle darüber aus, ob die verwendeten Alarmierungsschlag- und Stichwörter geeignet sind oder ob man sie noch anpassen muss.

Bieten Sie in der zweiten Phase auch Schulungen an?

Grujic: Aktuell führen wir noch keine Schulungen durch, da sich derzeit nur professionelle Kolleg*innen mit entsprechender Qualifikation registrieren können. Für Beginn der Phase 3 ist aber ein Schulungskonzept geplant, das hauptsächlich über die Hilfsorganisationen und Rettungsdienste angeboten werden soll. Dazu zählen z.B. das Bayerische Rote Kreuz, die Johanniter-Unfall-Hilfe, der Malteser Rettungsdienst, der Arbeiter-Samariter-Bund, die privaten Rettungsdienste und die Freiwillige Feuerwehr. Alle Projektpartner finden Sie auf unserer Website. Über die Schulungen wollen wir den Laien nicht nur ein grundsätzliches Wissen über Wiederbelebungsmaßnahmen vermitteln, sondern sie auch psychisch und emotional auf die Einsätze vorbereiten.

Prückner: Ich erhoffe mir, dass sich auch durch dieses Interview noch mehr Menschen entscheiden mitzumachen. Wir haben größtes Verständnis dafür, dass gerade die in der Akutmedizin tätigen Menschen nach einer Pandemie hinsichtlich ihrer Belastbarkeit am Limit sind und nicht auch noch in ihrer Freizeit alarmiert werden möchten. Trotzdem möchte ich nochmal an alle Kolleginnen und Kollegen appellieren, über eine Registrierung beim Projekt nachzudenken. Die Chancen von Patient*innen erhöhen sich einfach sehr deutlich, wenn wir früh helfen können. Jede*r kann einen Einsatz immer ohne Angabe von Gründen ablehnen.

Thema Pandemie: Welche Rolle hat sie in der ersten Phase gespielt, und wie ist es derzeit?

Prückner: Anfangs waren die Unsicherheiten darüber groß. Wir wussten ja noch nicht viel über Corona, und es gab auch noch keine Impfung. Daher sind wir etwas später als geplant mit dem Projekt gestartet. Unsere Teilnehmer*innen haben wir dann gut in angepassten Abläufen geschult und darin, wie sie sich am besten vor Corona schützen können. Inzwischen haben wir diese Phase hinter uns, und Interessent*innen lassen sich aus meiner Sicht durch Corona nicht mehr davon abhalten mitzumachen. Das merken wir auch an den inzwischen wieder zunehmenden Rekrutierungszahlen.

Wie sprechen Sie die Menschen aktuell in der zweiten Phase an?

Grujic: Hier spielen unsere Projektpartner eine ganz wesentliche Rolle. Vor allem die Hilfsorganisationen rekrutieren sehr viele Retter*innen. In regelmäßigen Abständen bieten wir dort immer wieder Informationsveranstaltungen an, um neue Teilnehmer*innen zu gewinnen. Studierende erreichen wir vor allem über unsere Vorlesungsveranstaltungen und unsere Kursangebote zur Notfallmedizin. Mit ihrem Teilnahmezertifikat können sie sich unkompliziert bei uns registrieren. Das läuft sehr gut. Nach jedem Semester haben wir eine große Zahl an Anmeldungen.

Warum ist die für Phase 3 geplante Laienreanimation aus Ihrer Sicht immer noch wichtig?

Prückner: Wie vorhin angedeutet, gibt es trotz der gestiegenen Anzahl an registrierten Helfer*innen doch immer wieder Notfälle, bei denen wir im näheren Umkreis keine registrierten Ersthelfer*innen finden können. Daher ist die für das Outcome so wichtige No-flow-time ohne Herzdruckmassage vielerorts leider noch immer zu lang. Durch eine Laienreanimation könnten wir das durchschnittliche Überleben verdreifachen! Unter den fünf großen Maßnahmen zur Verlängerung der Überlebenswahrscheinlichkeit hat der Part der Laienreanimation die größte Bedeutung. Jeder Notruf, der zusätzlich beantwortet kann, ist wichtig! Weil die Laienreanimation ein so mächtiges Instrument ist, stehen die nationalen und internationalen Bemühungen zu ihrer Förderung vielerorts im Fokus.

Was müssen qualifizierte Menschen tun, wenn sie jetzt schon mitmachen möchten? Wie funktioniert das technisch und organisatorisch?

Grujic: Sie können die App „Mobile Retter“ einfach für iOS oder Android herunterladen. Sobald Sie sich über unser Portal registriert haben, werden Sie freigeschaltet. Wenn dann ein Notruf bei der Leitstelle eingeht, wird die Information parallel an einen Server gesendet, der die Information an die App weiterleitet. Sie alarmiert alle Registrierten in einem Umkreis von 350 bis 500 Metern und leitet sie bei Annahme der Alarmierung anschließend zur Einsatzstelle. Das funktioniert mit jedem Smartphone, das über mobile Daten verfügt und dadurch geortet werden kann.

Wie ist die weitere zeitliche Planung?

Prückner: Noch konzentrieren wir uns auf die Rekrutierung von Fachkräften. Wir planen aber, im Verlauf dieses Jahres oder Anfang nächsten Jahres mit der Laienreanimation zu beginnen. Darauf müssen wir uns allerdings sehr gut vorbereiten, denn wir müssen die Laien in der Alarmierungssituation gut schützen. Wir möchten die Laien auf keinen Fall in schwierige Situationen schicken, zum Beispiel auf eine gefährliche, viel befahrene Autobahn. Wir starten erst dann, wenn alles gut vorbereitet ist.

Grujic: Neben den medizinischen Fertigkeiten ist es uns sehr wichtig, die Laien nicht nur fachlich, sondern auch psychisch gut vorzubereiten. Für Laien ist jede Reanimation eine Ausnahmesitutation. Schon jetzt können wir auch bei medizinischen Fachkräften das Kriseninterventionsteam im Vorfeld oder auch in der Nachsorge zu Gesprächen einbinden. Beim Schulungskonzept für Laien werden wir uns ebenfalls eng mit Psycholog*innen und dem Kriseninterventionsteam austauschen.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 5 vom 25.02.2023