Leitartikel

Digitalisierung: Zukunft mitgestalten !

Wozu nutzt Ärzten und Patienten die Digitalisierung? Wie sicher ist sie? Und was werden die Herausforderungen der nächsten Jahre sein? Chancen und Grenzen der Digitalisierung standen im Zentrum der 131. Delegiertenversammlung am 27. September.
Digitalisierung
Digitalisierung: Zukunft mitgestalten !

Spätestens seit dem vorletzten Ärztetag in Freiburg
steht die Digitalisierung auf der Agenda von Krankenhäusern und Arztpraxen. Die Zeit drängt: Voraussichtlich Mitte 2019 läuft die Frist zur flächendeckenden Anbindung an die Telematik-Infrastruktur aus. Das seit 2016 geltende E-Health-Gesetz fordert die Einführung einer digitalen Infrastruktur mit höchsten Sicherheitsstandards und verschiedene Anwendungen auf der elektronischen Gesundheitskarte. Es soll einheitliche elektronische Patientenakten geben, und verwendete Programme und Anwendungen sollen mit einander kompatibel sein. Auch das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) vom September dieses Jahres sieht Änderungen vor: So sollen Patienten unter anderem bis 2021 per Smartphone Zugriff auf ihre ärztliche Patientenakte haben und auf einer eigenen „Gesundheitsakte“ auch eigene Daten speichern können.

„Ein schwer fassbares Unbehagen“
stellte der 1. Vorsitzende des ÄKBV München, Dr. Christoph Emminger, fest, sobald unter Kolleginnen und Kollegen das Thema aufkomme. Die Münchner Ärztinnen und Ärzte müssten sich aber mit dem Thema befassen. Denn die Öffnung der Ärzteschaft für die Fernbehandlung etwa sei ohne Digitalisierung nicht denkbar. Es brauche aber womöglich neue ethische Regelungen in Ergänzung zu den bisherigen. „Welche Konsequenzen ergeben sich für uns, aber auch für den Kostenträger, aus der Souveränität des Patienten über seine Daten?“, fragte er. Auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient müsse geschützt werden – bei aller geforderten Transparenz. „Wir alle können noch nicht so recht abschätzen, was auf uns zukommen wird“, sagte Emminger.

Mit seinem Referat
„Digitalisierung im Gesundheitswesen – Herausforderungen für die kommenden Jahre traf Diplom-Wirtschaftsingenieur Gerald Götz, Leiter des Technologiemanagements am Städtischen Klinikum München, dann auch den Nerv vieler Delegierter. „Ihre Kompetenz als Arzt kann nicht durch Digitalisierung ersetzt werden!“, sagte Götz. Zwar habe sich in der Industrie viel getan, neue Produkte und Services seien entwickelt worden, und die Kliniken seien schon heute nicht mehr die Hospitäler von vor 150 Jahren. Die Frage sei aber doch, wie die Digitalisierung Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften und Patienten nützen könne.

Es gehe nicht um die Digitalisierung
im technischen Sinne, sondern vielmehr um die Effizienz im Krankenhaus. „Wir sind in unseren Abläufen nicht effizient“, meinte Götz. Pflegekräfte könnten heutzutage im Krankenhaus nicht nur pflegen, sondern müssten auch Material aus dem Keller holen oder mit Excel oder Papier und Bleistift Dienstpläne erstellen. „Das ist nicht wertschöpfend, und das ist unser Thema“, sagte Götz.

Wichtig bei der Digitalisierung
sei stets ihre unterstützende Funktionalität. Immer wieder werde er beispielsweise von Ärzten, gefragt, warum die Klinik noch nicht über eine bestimmte Software oder ein bestimmtes Gerät etwa zur Bildgebung verfüge. Die Frage sei aber, wofür dies nütze. „Wir führen zum Teil eine absurde Diskussion, die nichts mit Bedarf zu tun hat, sondern mit Wünschen“, bemängelte Götz. Wenn der Prozess schlecht laufe, nütze auch ein neues technisches Gerät oder eine neue Software nichts. Sobald man über Veränderungen nachdenke, müsse man auch über eine Änderung von Prozessen nachdenken, um zu einer höheren Effizienz zu gelangen.

Effizienz
könne aber etwa das neue Ärzteportal für Einweiser („Einweiser- InfoService“) der StKM bringen, das zur Prozessoptimierung beitrage. Denn es helfe den weiter behandelnden und einweisenden
Ärztinnen und Ärzten, an die aktuellen Arztbriefe aus dem Krankenhaus zu kommen. Diese Art der Digitalisierung habe Potential, sagte Götz. „Die benötigten Schnittstellen müssen gestaltet werden“. Wichtig sei, die Anforderungen dafür zu ermitteln: was brauchen die behandelnden Ärzte? Nicht alles, was machbar sei, werde auch gebracht.

Kritische Worte
zu den gesetzlich vorgesehenen Digitalisierungsplänen äußerte auch der ÄKBV-Delegierte Prof. Dr. Wulf Dietrich. „Ich bin kein Gegner von Digitalisierung“, sagte er, „sie muss nur vernünftig sein und dem Patienten dienen“. Der potentielle Nutzen digitaler Maßnahmen müsse immer gegen die Risiken abgewogen werden. Denn in der digitalen Welt gebe es keine absolute Sicherheit, und je komplexer die Systeme seien, desto anfälliger seien sie für Angriffe von Außen und Systemabstürze.

Die Bilanz
falle hier häufig schlecht aus. So sei etwa der Nutzen des ab Ende 2018 vorgesehenen Notfalldatensatzes auf der elektronischen Gesundheitskarte für die Notaufnahme im Krankenhaus, für Bereitschaftsarzt und Notarzt gering. Denn schließlich habe man in einem Notfall nicht die Zeit, Daten über Allergien auszulesen, sondern müsse die Vitalfunktionen des Patienten wiederherstellen. Hinzu kämen technische Probleme, etwa dass man eine sechsstellige Arzt-PIN benötige, um Daten am Notfalldatensatz zu ändern. Die Kosten für den Notfalldatensatz seien aber hoch.

Ähnliches
gelte für den elektronischen Medikationsplan, der ab Ende 2018 Patienten auf freiwilliger Basis auf deren Gesundheitskarte zur Verfügung stehen soll. Zwar sei er persönlich immer ein großer Anhänger des seit 2016 verpflichtenden schriftlichen Medikationsplans für Patienten mit mehr als drei Medikamenten gewesen. Doch wer habe letztlich künftig die Hoheit über den nun geforderten Medikationsplan auf der elektronischen Gesundheitskarte: Hausarzt, Facharzt Krankenhausarzt, oder Apotheker? Alle vier hätten schließlich Zugriff darauf und könnten ihn ändern. Nur der Patient habe keinen Zugriff, sodass er auch weiterhin einen schriftlichen Medikationsplan benötige. Hinzu kämen technische Probleme in Arztpraxen beim Auslesen des Medikationsplans.

Ein besonders kritischer Punkt
sei die vom Gesetzgeber bis 2021 geforderte elektronische Gesundheitsakte für Patienten nach TSVG. Ärztinnen und Ärzte müssten diese elektronische Gesundheitsakte mit Daten füllen, die der Patient auf seinem Smartphone erhalten und speichern könne. Das Smartphone sei dafür aber viel zu unsicher – und dies führe die gesamte Idee einer geschützten Telematik-Infrastruktur ad absurdum. Zudem könne der Patient in einer solchen Akte selbstständig Änderungen vornehmen, also etwa Diagnosen oder Medikationen streichen oder sich neue Diagnosen ausdenken. Dadurch sei die Akte auch medizinisch gesehen unsicher.

Von den Kassen
vorgeschlagene Apps wie etwa die Vivy Smartphone App kritisierte Dietrich als viel zu unsicher, denn sie verwendeten teilweise Tracker, also Nachverfolgungsprogramme, aus den USA. Schließlich sei die Frage, ob sensible Diagnosen, etwa aus der Gynäkologie, für den Augenarzt oder den HNO-Arzt sichtbar sein müssten. Auch über bestimmte Medikationen, wie etwa Psychopharmaka, müsse nicht jeder Facharzt und jeder Apotheker Bescheid wissen. Big Data für die Forschung wiederum seien schwer zu analysieren und brächten nicht viel, da es sich bei den gesammelten Daten vorwiegend um unstrukturierte, administrative Daten handele.

„Es gibt bisher keinen
belegbaren medizinischen Nutzen der Telematik- Infrastruktur und der elektronischen Gesundheitskarte“, sagte Dietrich als Fazit, „zumindest keinen, der in einem vernünftigen Verhältnis zu den Kosten und den Sicherheitsrisiken steht“. Eine starre Datenautobahn dürfe nicht das Ziel sein. Stattdessen brauche es kleine, zielorientierte Lösungen, die den Patienten wirklich einen Mehrwert brächten. Dafür brauche es konstruktive Vorschläge aus der Ärzteschaft. „Man sollte die Medizin im digitalen Zeitalter gestalten statt den Kopf in den Sand zu stecken“, apellierte Dietrich an die Ärzteschaft.

Dietrichs Ausführungen
führten zu einer regen Diskussion. Ein Delegierter kritisierte, dass sich der Staat in technische Abläufe einmische. Ärztinnen und Ärzte sollten diese selbst gestalten. Sich gemeinsam gegenüber der Politik zu wehren forderte eine Delegierte. Es gebe kein Zurück, weil der Gesundheitsminister dies durchsetzen wolle, gab eine andere zu bedenken, doch der Patient müsse stets Herr über seine Daten bleiben. Selbstkritische Stimmen gaben zu, dass sich die Ärzteschaft dem Thema gegenüber zu lange völlig verweigert und keine konstruktiven Vorschläge gemacht habe. Sich Gedanken zu machen, was man selbst wolle und was man Sinnvolles aus der Situation machen könne, forderte daher Emminger. Das Thema wird auch auf dem Bayerischen Ärztetag Ende Oktober im Zentrum der Diskussionen stehen.

Die Versammlung
benannte außerdem Delegierte und Ersatzdelegierte für den nächsten Deutschen Ärztetag in Münster. Mit großer Mehrheit stimmten die Delegierten dafür, das Volksbegehren gegen den Pflegenotstand an Bayerns Krankenhäusern als ÄKBV zu unterstützen. Und der Vorstand erhielt den Auftrag, sich mit der Widerspruchslösung bei der Organspende zu befassen.

Stephanie Hügler