Leitartikel

Diabetes bei Kindern, Den Zucker im Griff

Kindern mit Typ-1-Diabetes eine normale Kindheit mit möglichst wenig Schmerz und Aufwand zu ermöglichen, ist das Ziel von neuen Pumpensystemen mit automatisierter Insulinabgabe (Automated Insulin Delivery – AID). Die MÄA sprachen mit der Kinderdiabetologin Dr. Silke Schmidt und zwei weiteren Mitarbeiterinnen am Klinikum Dritter Orden über deren Vor- und Nachteile und den Wunsch nach einer besseren Inklusion.
Diabetes bei Kindern, Den Zucker im Griff
Diabetes bei Kindern, Den Zucker im Griff

Foto: Kliniken Dritter Orden gGmbH

 

Warum nutzen Sie zunehmend AIDSysteme?

 

Schmidt: Noch vor ein paar Jahren mussten sich die betroffenen Kinder zu jeder Mahlzeit in den Finger stechen, um ihren Blutzucker zu kontrollieren und Insulin zu spritzen. Zudem war es notwendig die Therapie in einem Diabetestagebuch zu dokumentieren. Heute tragen unsere Patient*innen zumeist Gewebeglukosesensoren und Insulinpumpen. Diese beiden Komponenten können zu einem AID-System kombiniert werden. Vorteil dabei ist, dass kaum mehr blutige Stoffwechselkontrollen notwendig sind, das Insulin zu den Mahlzeiten über eine Eingabe in das System verabreicht werden kann und die Kinder weiterhin altersentsprechend essen dürfen. Außerdem erzielen die Patient*innen durch die AID-Systeme eine bessere Stoffwechseleinstellung. Das sehen wir am HbA1c, der bei uns inzwischen durchschnittlich bei 6,8 Prozent liegt. Eine Dokumentation in einem Blutzuckertagebuch ist in der Regel auch nicht mehr notwendig, da alle Daten über den PC ausgelesen werden können. Insgesamt machen die Systeme damit das Leben für die Kinder und ihre Familien sehr viel leichter.

 

Wie funktionieren die Systeme?

 

Schmidt: Bei den AID-Systemen, auch Closed-Loop-Systeme genannt, werden Insulinpumpe und Gewebeglukosesensor miteinander gekoppelt. Ein Algorithmus reagiert auf Abweichungen des Glukoseverlaufs im Sinne einer Feinregulation. Dies geschieht durch eine Reduktion oder Erhöhung der basalen Insulinzufuhr oder durch automatische Korrekturboli. Außerdem wird der Anwender mit einem akustischen Signal alarmiert, sollte eine Unterzuckerung erreicht werden. Den Insulinkatheter muss man lediglich alle zwei bis drei Tage erneuern, den Sensor alle sieben bis vierzehn Tage, wodurch man die Kinder sehr viel seltener stechen muss. Hierdurch steigen Sicherheit und Lebensqualität, so dass besonders die Kleineren und ihre Familien davon profitieren.

 

Macht die Pumpe also mittlerweile alles alleine?

 

Busse-Widmann: Leider nein, die Patient*innen oder ihre Eltern müssen sich weiterhin mit der Therapie und mit Ernährung beschäftigen. Sie müssen wissen, welche Kohlenhydratmenge in wieviel Gramm in welchem Lebensmittel enthalten ist, wieviel ihr Kind wahrscheinlich isst und dies der Pumpe vor dem Essen „sagen“ bzw. entsprechende Insulinboli über einen Knopf abgeben. Das ist leider noch nicht automatisiert. Schmidt: Vor der Verwendung moderner Systeme mussten die Eltern jedoch vor jeder Mahlzeit zusätzlich die notwendige Insulindosis anhand des aktuellen Glukosespiegels und des Kohlenhydrat-Insulin- Verhältnisses berechnen. Diese Rechenschritte sind in den Pumpen schon hinterlegt und können individuell programmiert werden. Die Eltern müssen also nur noch ausrechnen, wie viele Kohlenhydrate in der Nahrung enthalten sind.

 

Was passiert, wenn kleine Kinder mehr essen möchten oder nicht aufessen?

 

Schmidt: Die Kinder leiten ihre Mahlzeit mit der Eingabe der Kohlenhydratmenge

in das System ein, woraufhin die passende Insulindosis für die Mahlzeit abgegeben wird. Wenn sie im Anschluss noch einmal etwas möchten, können sie den Vorgang wiederholen und sich einfach eine weitere Dosis verabreichen. Käsmayr: Wenn sie nicht aufessen, ist es etwas schwieriger. Unser Ziel ist natürlich, dass die Kinder das essen, was sie sich oder ihre Eltern für sie ausgesucht haben. Wenn sie das nicht schaffen, geben wir ihnen andere Kohlenhydrate - was immer das Kind noch essen oder trinken mag. Inzwischen haben wir herausgefunden: Gummibärchen oder Apfelsaft gehen immer.

 

Für wen kommen die Systeme in Frage?

 

Schmidt: Wenn Sie uns fragen: für alle. 80 Prozent unserer Kinder tragen eine Pumpe. Davon nutzen 90 Prozent ein AID-System. Wir glauben, dass es die beste Therapieform ist, weil wir damit die besten Ergebnisse erzielen. Und je besser die Einstellung, also je niedriger der HbA1c und je höher die Zeit im Zielbereich, desto geringer ist ja langfristig das Risiko für Folgeerkrankungen. Wir wollen, dass die Kinder gesund alt werden und dauerhaft ohne Folgeerkrankungen leben können. Leider werden die AID-Systeme immer noch nicht überall eingesetzt, oder die Behandler entscheiden sich nur für ein einziges System, weil die Modelle teilweise sehr verschieden sind und mit unterschiedlichen Algorithmen arbeiten. Nicht alle Systeme sind aber für alle Altersgruppen zugelassen. Wir bieten alle Systeme an und finden für jeden das passende.

 

Warum nutzen noch nicht alle Familien diese Systeme?

 

Schmidt: Einzelne Eltern oder Kinder entscheiden sich bewusst dagegen. Manchmal werden die Systeme den Familien aber auch von ihren Behandlern schlichtweg nicht angeboten, weil Betreuungs- und bürokratischer Aufwand höher sind. Unserer Erfahrung nach übernehmen die Krankenkassen die Kosten für alle Kinder unter sechs Jahren jedoch im Allgemeinen unkompliziert, sodass wir bei ihnen sofort während des sieben- bis zehntägigen Krankenhausaufenthalts bei Manifestation mit der Therapie beginnen. In der Regel können wir die Pumpentherapie aber auch für alle Über-Sechsjährigen realisieren, wenn sie dies möchten. Manchmal braucht es dazu allerdings etwas Zeit, diverse Telefonate und Gutachten. Busse-Widmann: Die Eltern müssen erst einmal lernen, die Krankheit zu akzeptieren. Dass ihre früher „ganz gesunden“ Kinder plötzlich eine lebenslange Stoffwechselerkrankung haben, ist für viele Familien emotional nicht einfach. Manche haben anfangs Widerstände dagegen, dass Fremdkörper an diesen kleinen Körpern angebracht werden. Einige Eltern befürchten, dass ihr Kind dadurch in der Öffentlichkeit stigmatisiert wird. Wenn sie aber die vielen Vorteile kennenlernen, stimmen die meisten zu.

 

Kann es auch Probleme mit den Systemen geben?

 

Busse-Widmann: Wie beim Umgang mit einem neuen Handy lernen die Eltern auch den Umgang mit dem AID-System. Aber natürlich kann es passieren, dass die Technologie ausfällt, die Batterien leer sind oder der Katheter verstopft. Dann fangen die Pumpen an zu piepen. Damit müssen sie dann im Alltag auch zurechtkommen. Schmidt: Daher müssen wir die Eltern so gut ausbilden, dass sie überbrückend auch ohne das geschlossene System klarkommen.

 

Welche Probleme können bei der Inklusion von Kindern mit einem Typ-1-Diabetes auftreten?

 

Schmidt: Leider gestaltet sich die Rückkehr in Krippe, Kindergarten oder Schule oft nicht so, wie wir uns das wünschen. Erzieher*innen und Lehrer*innen fühlen sich oft durch die Betreuung eines Kindes mit einer chronischen Erkrankung wie Diabetes zu stark gefordert. Eines unserer Kinder darf daher aktuell zum Beispiel nicht mehr in den Religions und Sportunterricht und soll dieses Jahr auch keine Proben mehr mitschreiben. Wir möchten jedoch, dass jedes Kind wieder ganz normal in seinen Alltag zurückfindet und auch an Schulausflügen, Skifreizeiten oder Landschulheimübernachtungen teilnehmen darf. Busse-Widmann: Natürlich verstehen wir die Unsicherheit der Pädagog*innen, und wir verstehen, dass diese auch noch andere Kinder mit Problemen betreuen müssen. Trotzdem: Es gibt eine Schulpflicht, ein Kindergartenrecht und seit 2009 auch die UNKonvention zur Inklusion.

 

Wie gehen Sie mit Ängsten um?

 

Schmidt: Wenn die Kinder nach Hause entlassen werden, stehen wir in sehr engem Kontakt mit den Familien, anfangs fast jeden zweiten Tag telefonisch, später wöchentlich und dann alle zwei Wochen bis drei Monate – je nachdem, was die Familie braucht. Nach dem Krankenhausaufenthalt kommen die Familien in der Regel in unsere Ambulanz, wo wir sie regelmäßig weiter beraten und schulen. Busse-Widmann: Den Erzieher*innen oder Lehrer*innen bieten unsere Diabetesberater*innen Schulungen an – in Präsenz bei uns in der Klinik und online. Durch eine fundierte Wissensvermittlung lassen sich die meisten Ängste nehmen. Käsmayr: Wenn die Pädagog*innen die von uns voreingestellte Pumpe während der Präsenzschulungen in der Klinik schon einmal gesehen haben, sind sie oft beruhigt. Denn man kann eigentlich nichts falsch machen. Meistens müssen die Betreuer*innen die von den Eltern für die Brotzeitboxen berechneten Kohlenhydrate nur noch in das System eingeben. Es hilft natürlich auch, wenn die Eltern bei Problemen jederzeit erreichbar sind, damit sie z.B. im Notfall den Katheter neu setzen können. Lehrer*innen oder Erzieher*innen dürfen bei Fragen tagsüber aber auch jederzeit bei uns in der Diabetesambulanz anrufen.

 

Was kann und sollte die Politik tun?

 

Busse-Widmann: Es braucht unbedingt genügend Personal in den Einrichtungen. Vor Kurzem hatten wir Kontakt zu einem Kindergarten, der aufgrund von Personalknappheit von der Mutter verlangt hat, jeden Tag anwesend zu sein. Dabei wollte die Mutter eigentlich wieder arbeiten und hatte außerdem noch andere Kinder zu versorgen. Natürlich braucht der Kindergarten in den ersten Wochen zunächst eine Eingewöhnung, um sich sicher zu fühlen, aber danach sollte das kein Thema mehr sein. Schmidt: Es würde auch helfen, wenn es in den Kindergärten mehr Integrationsplätze gäbe, weil dann der Betreuungsschlüssel höher wäre. Oft beklagen sich die Erzieher* innen, dass das Personal eh schon unterbesetzt ist. Busse-Widmann: In anderen Bundesländern gibt es die Idee, dass Gesundheitsfachkräfte an Kindergärten, Kitas oder Schulen in solchen Situationen helfen könnten. In Stuttgart beispielsweise gibt es dazu bereits Pilotschulen. Bayern ist da allerdings leider noch etwas rückständig. Schmidt: Nur an einigen internationalen Schulen hier in München gibt es schon „School Nurses“. Sie helfen nicht nur Kindern mit chronischen Erkrankungen, sondern auch solchen mit einem akuten Gesundheitsproblem. Unsere Diabeteskinder werden dort sehr gut unterstützt, z.B. beim Berechnen der Kohlenhydrate in der Mittagspause. Gesundheitsfachkräfte lohnen sich übrigens auch kostentechnisch, weil die Kinder dadurch weniger oft in die Kliniken müssen, die Notärztin seltener kommen muss. Auch die Eltern werden dadurch extrem

entlastet.

 

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄÄ Nummer 10 vom 06.05.2023