Leitartikel

Begleitete minderjährige Flüchtlinge: Die vergessenen Kinder

Das Thema „Flüchtlinge in München“ ist nach wie vor aktuell: Ärztinnen und Ärzte aus dem ÄKBV-Ausschuss für Soziale und Menschenrechtsfragen warnen derzeit besonders vor einer Vernachlässigung der begleiteten Flüchtlingskinder.
Begleitete minderjährige Flüchtlinge: Die vergessenen Kinder
Begleitete minderjährige Flüchtlinge: Die vergessenen Kinder

Foto: Shutterstock

Frau Dr. von Bibra, warum setzt sich der ÄKBV aktuell so stark für begleitete Flüchtlingskinder ein?

Es ist einer der gesetzlichen Aufträge des ÄKBV München, an der öffentlichen Gesundheitspflege mitzuwirken. Der ÄKBV hat von Anfang an die Tätigkeit seiner Mitglieder in der Flüchtlingsversorgung unter- stützt und sieht es weiterhin als eine wichtige Aufgabe an.

Die Situation für die begleiteten Flüchtlingskinder und –jugendlichen in München ist derzeit sehr trostlos – sowohl was die Wohnlage betrifft als auch bezüglich ihrer medizinischen Versorgung. Die unbegleiteten Flüchtlingskinder wurden und werden ja sofort vom Jugendamt in Obhut genommen und entsprechend versorgt. Bei den begleiteten Flüchtlingskindern wollte man davon ausgehen, dass ihre Eltern für sie sorgen können. Die Eltern sind hier aber fremd und dürfen nicht die Infrastruktur nutzen wie wir für unsere Kinder – so leiden diese Kinder an einem Mangel an Tagesstruktur, Anregungen und medizinischer Versorgung.

Woran hapert es denn speziell? Was bemängeln der ÄKBV und sein Menschenrechtsausschuss in diesem Zusammenhang?

Zum einen gibt es häufig keine sicheren Unterkünfte für diese Kinder und ihre Familien bzw. Mütter. Immer wieder sind z.B. zwei Familien bis zu zwei Jahre lang in einem Raum zusammengepfercht. Die Sanitäranlagen sind nicht nach Geschlechtern getrennt und nicht abschließbar. Frauen und Mädchen sind so beim Duschen den Blicken der Männer bis hin zu Überfällen durch sie preisgegeben. Auch die Wohnräume von ledigen oder allein lebenden Frauen mit Kindern sind nicht abschließbar, sodass andere dazu immer Zutritt haben. In vielen Unterkünften prüfen zum Beispiel Sicherheitsleute mitten in der Nacht, ob dort alles in Ordnung ist. All dies gefährdet das Sicherheitsgefühl bei diesen hoch vulnerablen Personen erheblich und führt so zu erneuten Schäden, die ihre weitere Entwicklung zusätzlich gefährden. Wir fordern also für Frauen und Kinder sichere Unterkünfte mit Geschlechtertrennung, verschließbaren Duschräumen und verschließbaren Zimmern mit gesicherter Nachtruhe.

Welche weiteren Forderungen stellt der Menschenrechtsausschuss des ÄKBV?

Die begleiteten Kinder haben aktuell keine feste Tagesstruktur. Unsere Kinder hier in München gehen meist in eine Krippe, einen Kindergarten und mit sechs Jahren in die Schule. Bei den begleiteten Flüchtlingskindern ist dies nicht der Fall. Als Fremde in diesem Land können die Eltern ihnen nicht die gleichen Tagesstrukturen wie zu Hause anbieten, also weitere Familienmitglieder, die ganze alte Umgebung, weil sie diese ja verlassen haben. Es gibt andererseits für diese Kinder keinen Zugang zu Krippen, Kindergärten. Dadurch sind sie häufig sich selbst überlassen, d.h. einer deutlichen Vernachlässigung ausgesetzt. Die Erfahrungen aus der Münchner Funkkaserne zeigen, dass sie dann oft in Gruppen durch die Kaserne laufen und andere so stören. Dadurch wird die Atmosphäre in den Einrichtungen zusätzlich aufgeheizt und die bereits vorhandene Aggressivität – durch eine trostlose Unterbringung und trostlose Aussichten – weiter verstärkt. Das heißt, wir fordern dringend eine tägliche Förderung und Strukturierung des Tages zur gesunden Entwicklung für diese Kinder.

Es gibt aber in Deutschland doch zumindest eine Schulpflicht, die auch für die begleiteten Flüchtlingskinder gilt?

Die gibt es. Bei der Schuleingangsuntersuchung wird aber häufig festgestellt, dass die Sechsjährigen kein Deutsch können, weil sie ohne Kita oder andere Anregungen dies nicht lernen konnten. Manchmal werden sie dann um ein Jahr zurückgestellt. Damit sind sie ein weiteres Jahr der Vernachlässigung ausgesetzt und noch ein Jahr älter, wenn sie endlich die Schule besuchen dürfen. Sprachkurse sind für diese Kinder nicht vorgesehen.

Die Stadt München engagiert sich sehr und will nun auch in der Funkkaserne ein Family House etablieren, das es in der Bayernkaserne bereits gibt. In diesem Family House werden alle Kinder, die noch nicht zur Schule gehen, bereits vormittags betreut, und die Schulkinder erhalten nachmittags eine Hausaufgabenbetreuung. Wir fordern, dass in jeder Einrichtung eine solche feste Tagesstruktur für begleitete Kinder geschaffen wird – mit Kita, Schule und Hausaufgabenbetreuung an fünf Tagen die Woche, und zwar unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Die Kinder können schließlich nichts dafür, dass ihre Eltern die Entscheidung getroffen haben zu fliehen.

Eine feste Tagesstruktur für die Kinder ist übrigens oft schon allein deshalb nicht möglich, weil die vorgekochten Mahlzeiten zu den üblichen Tageszeiten für Erwachsene gegeben werden. Säuglinge und Kleinkinder brauchen aber häufigere Mahlzeiten. Diese können nicht gegeben werden, da z.B. hierfür, angeblich aus Sicherheitsgründen, keine Teekessel genehmigt sind, um zwischendurch oder nachts eine Milchflasche bereiten zu können.

Am 22. Mai fand beim ÄKBV ein Fachabend zu diesem Thema statt. Was wurde dabei besprochen?

In Referaten erklärte unter anderem Prof. Dr. Volker Mall, Ärztlicher Direktor des kbo-Kinderzentrum Münchens, was es bedeutet, wenn Kinder in diesem frühen Alter vernachlässigt werden. Dabei wurde erneut deutlich, was eigentlich schon allgemein bekannt ist: Diese Schäden führen zu Auffälligkeiten, z.B. dass diese Kinder bindungsärmer und dadurch schneller aggressiv oder depressiv werden und dass sie häufiger an körperlichen Krankheiten leiden. Solche Kinder fallen oft aus dem Bildungssystem heraus, weil sie sich durch die frühe Vernachlässigung nicht gut konzentrieren können. Auch unter dem ADHS-Syndrom leiden sie vermehrt. Als Erwachsene müssen sie ihre Schäden dann irgendwie kompensieren – durch psychosomatische Krankheiten, Depression, Angst- oder Suchterkrankungen oder durch Kriminalität. So kann die Vernachlässigung diese Kinder ein Leben lang schädigen.

Welche weiteren Forderungen erheben Sie?

Als Ärztinnen und Ärzte fordern wir, dass bei solchen Schäden eine Diagnostik und gegebenenfalls auch eine Therapie durch Kinderpsychiater, Sozialpädiater, und Kinderpsychotherapeuten erfolgen muss. Es gab immerhin eine kleine, von Prof. Dr. Mall initiierte, Gruppe um Dr. Sigrid Aberl, Kinderpsychiaterin sowie Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik der München Klinik in Schwabing, und andere Medizinerinnen und Mediziner, die auffällige Kinder in der Bayernkaserne diagnostiziert haben. Diese Kinder konnten dann aber leider nicht in weitere therapeutische Maßnahmen vermittelt werden, weil diese – abhängig vom Aufenthaltsstatus – nicht genehmigt wurden. Wichtig ist, dass nötige Therapien sofort eingeleitet werden, damit die Auffälligkeiten nicht chronisch werden und dadurch schwerer und länger zu behandeln sind.

Sollte man nicht auch bei den Eltern ansetzen? Immerhin haben sie doch eigentlich den Erziehungsauftrag?

Wir fordern auch ein Gruppenangebot für Eltern als allgemeine Psychoedukation, „Parents College“, das z.B. im sogenannten „Family House“ durchgeführt werden könnte. So könnte man die Eltern über die hier bestehenden Institutionen aufklären und ihnen Unterstützung bei der Erziehung anbieten. Manche Schwierigkeiten sind „normal“ bei Kindern in einem fremden Umfeld, dessen Sprache sie schlecht sprechen. Diese Psychoedukation sollte mit dem gleichen aufsuchenden Angebot kombiniert werden, das auch für hier geborene Kinder besteht – mit den sogenannten „Frühen Hilfen“ des Jugendamts.

Das Jugendamt muss dazu aber den Zugang zu diesen Kindern bekommen, der bisher nicht genehmigt wurde. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Frühen Hilfen kommen regelmäßig auch in deutsche Familien, sodass jeder genau die Hilfe bekommt, die er braucht.

Wie kann man sicherstellen, dass dies alles auch umgesetzt wird?

Wir fordern, dass diese Maßnahmen regelmäßig durch die Experten des Jugendamts kontrolliert werden. Außerdem sollte die Fachabteilung des RGU regelmäßig die Einhaltung der gesetzlichen hygienischen Standards kontrollieren. Denn bei einer Begehung der Funkkaserne durch verschiedene Landtagsabgeordnete, unter anderem durch die Grünen-Abgeordnete Gülseren Demirel, wurde deutlich, dass dort ein massiver Pilzbefall bestand. Die Presse hat darüber berichtet. Zwar hat die Regierung von Oberbayern mittlerweile den Pilzbefall durch Sanierungsarbeiten überwiegend beseitigt, aber man muss das natürlich weiter kontrollieren, damit er nicht wieder auftritt.

Gelten Ihre Forderungen nur für die Funkkaserne?

Nein, sie gelten auch für die anderen Unterbringungen, Ankerzentren und Ankerdependancen, auch das am Moosfeld in Trudering. Durch die UN-Kinderrechtskonvention, die auch die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet hat, sind wir dazu verpflichtet, Kindern den größtmöglichen Schutz zu gewähren. Nur so können ihre Traumatisierungen wieder verheilen. In Artikel 3 verpflichten wir uns zur „vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls“ und in Artikel 6, „... im größtmöglichen Umfang die Entwicklung des Kindes zu gewährleisten“. Wir beim ÄKBV haben große Sorge vor diesen enormen neuen Gesundheitsschäden, die diese Kinder hier durch uns erleiden.

Wer muss aus Ihrer Sicht jetzt tätig werden?

Das RGU und das Jugendamt müssen ihre Ansprüche durchsetzen, damit sie nicht wieder abgewiesen werden. Es muss ermöglicht werden, das Family House voll zu etablieren und dafür auch Personal  bereit zu stellen. Die Stadt München ist sehr engagiert und will das auch. Auch die Regierung von Oberbayern und die Landesregierung sollten diese Maßnahmen nun unterstützen.