Leitartikel

157. Delegiertenversammlung zur Suchthilfe. Hilfe für Suchtkranke

Noch stärker als ihre Patient*innen sind Ärztinnen und Ärzte suchtgefährdet. Das war eine wichtige Botschaft der 157. Delegiertenversammlung am 26. Juni 2025. Prof. Dr. Oliver Pogarell und PD Dr. Gabriele Koller vom LMU Klinikum sowie Birgit Gorgas vom Gesundheitsreferat der Stadt München präsentierten dort Aktuelles aus der Suchtmedizin und -hilfe.
157. Delegiertenversammlung zur Suchthilfe. Hilfe für Suchtkranke
157. Delegiertenversammlung zur Suchthilfe. Hilfe für Suchtkranke

Foto: Shutterstock

Ein Viertel aller Ärztinnen und Ärzte zeigen ein riskantes Alkohol-Konsumverhalten, bei dem langfristig mit gesundheitlichen Schäden zu rechnen ist. Dies war das Ergebnis einer 2018 im Journal of Occupational Medicine and Toxicology veröffentlichten Studie von Pförringer et al. Der ÄKBV hat auf diese Zahlen reagiert und bietet schon seit zwei Jahren immer mittwochs von 17 bis 18 Uhr eine anonyme Suchtberatung für Ärztinnen und Ärzte an (s. hierzu auch MÄA 21/2023). Am anderen Ende der Leitung sitzen die beiden Psychiater*innen Pogarell und Koller, die bei der Delegiertenversammlung erneut auf das Angebot aufmerksam machten.


Kein Arzt, keine Ärztin muss bei einem Anruf Angst haben, in irgendeiner Weise berufsrechtlich verfolgt zu werden. Denn obwohl der ÄKBV-Vorstand das Angebot ins Leben gerufen hat (s. Kasten auf S. 8), erfährt beim ÄKBV niemand von den Gesprächspartnern und -inhalten. Stattdessen stehen kollegiale Beratung und Hilfe bei den Telefonaten im Vordergrund. Inzwischen hätten einige Betroffene, Ex-Betroffene und Angehörige die Chance genutzt, berichtete PD Dr. Gabriele Koller bei der Delegiertenversammlung und warb für das kostenlose Angebot. Auch an einer Selbsthilfegruppe wurde bereits Interesse bekundet.

Alarmierende Zahlen beim Alkoholkonsum zeigen sich aber auch in der Allgemeinbevölkerung, wie Prof. Dr. Pogarell in einem ausführlichen Vortrag zur allgemeinen Suchtmedizin zeigte. Einer Studie von Jacobi et al. von der LMU München aus dem Jahr 2013 zufolge steht Alkoholabhängigkeit nach den Diagnosen Angststörungen und Depressionen in der Statistik der psychischen Erkrankungen an dritter Stelle. Die Substanzkonsumstörung ist die häufigste stationäre Behandlungsdiagnose überhaupt – mit Alkohol als häufigstem Verursacher. 327.000 Fälle von alkoholbedingten psychischen Problemen und Verhaltensstörungen verzeichneten die Kliniken hierzulande laut Spiegel online im Jahr 2015. Nur die Herzinsuffizienz schlug in der Statistik mit 444.632 Fällen stärker zu Buche.

Auch heute, zehn Jahre später, dürften die Zahlen kaum niedriger ausfallen. Das zeigte Pogarell bei seinem Vortrag. Obwohl wir uns gesellschaftlich häufig stärker mit illegalen Drogen und Cannabis beschäftigen, ist Alkohol der häufigere Krankmacher im Alltag. Noch immer gelte Wilhelm Buschs alte Weisheit: „Wer Sorgen hat, hat auch Likör“, sagte Pogarell bei der Delegiertenversammlung. Und obwohl der Alkoholkonsum weltweit sinke, treffe dies leider nicht auf Deutschland zu. Immerhin 17,6 Prozent der Bevölkerung (9 Mio. Bundesbürger*innen) zwischen 18 und 64 Jahren weisen dem Epidemiologischen Suchtsurvey von 2022 zufolge einen problematischen Alkoholkonsum auf, der zu negativen Folgen für die Gesundheit, das soziale Umfeld oder die Arbeitsfähigkeit führt.

Auch wenn jeder dritte Mann und jede vierte Frau im Laufe ihres Lebens mindestens eine illegale Droge oder Cannabis konsumierten: Das Häufige sei im Vergleich doch viel häufiger. Alkoholkonsum ist ein Hauptfaktor für die weltweite Krankheitslast und führt zu substantiellem Verlust der Gesundheit, sagte Pogarell mit Verweis auf die „Global Burden of Disease Study“ von 2016, die 2018 im Lancet veröffentlicht wurde. Demnach steigt mit steigen- dem Konsum das gesamte Mortalitätsrisiko, insbesondere aber das Risiko für Krebserkrankungen. Nur durch einen kompletten Verzicht auf Alkohol lasse sich das Risiko für den Verlust von Gesundheit minimieren, sagte Pogarell.

Es brauche eine Überprüfung der politischen Strategien zur Alkoholkontrolle, um den Konsum der Bevölkerungen weltweit zu senken, forderte der Referent. Ein einfaches Screening zu riskantem und schädlichem Alkoholkonsum lasse sich mit dem Alcohol Use Disorders Identification Test (AUDIT-C) durchführen. Drei Fragen genügten, um das Ausmaß der Erkrankung zu messen: Wie oft? Wie viel? Wie exzessiv? Anticraving-Medikamente könnten gegen den Suchtdruck helfen.

Pogarell informierte die Anwesenden auch über Problematiken bei verschiedenen anderen Drogen – beginnend mit Cannabis, das bereits 3.000 vor Christus in China und im 19. Jahrhundert in der britischen Mainstream-Medizin gegen verschiedene Beschwerden eingesetzt wurde. Er schilderte die verschiedenen Darreichungsformen des medizinischen Cannabis – von der Blüte bis zur Fertigarznei, wies aber auch auf gesellschaftliche Probleme hin: Obwohl man seit der Legalisierung theoretisch 25 Gramm Cannabis bei sich tragen und teilweise auch in der Öffentlichkeit konsumieren dürfe, könne man es nach wie vor noch nicht legal kaufen. Daher werde der aktuelle „Freizeitmarkt“ möglicherweise vor allem mit medizinischem Cannabis versorgt. Auch wenn die zunehmende Nutzung von medizinischem Cannabis offenbar nicht zulasten der Krankenkassen gehe, besorgten sich offenbar einige Konsument*innen den Stoff über ein Privatrezept.

Anschließend gab Pogarell eine Übersicht über verschiedene süchtig machende Medikamente und illegale Drogen – von Stimulanzien wie Amphetamin, Metamphetamin (Crystal Meth), Fenetyllin, „Badesalzen“ und Kokain bis zum Methylphenidat und dem (Lis)Dexamphetamin, das bei ADHS im Jugend- und Erwachsenenalter eingesetzt wird – mit einem großen Versorgungsdefizit bei ADHS im Erwachsenenalter. Er ging auf verschiedene Psychedelika, Tryptamine und Arylcyclohexylamine ebenso ein wie auf GHB / GBL („Liquid Ecstasy“), das zu häufig als K.-O.- Tropfen und „Date Rape Drug“ eingesetzt wird (s. hierzu MÄA 19/2024) und bei geringer therapeutischer Breite ein hohes Suchtpotential besitzt.

Im Hinblick auf eine mögliche Opioid-Krise mit vielen Abhängigen von legal erwerbbaren Schmerzmitteln wie in den USA sagte Pogarell, dass die Verschreibung von Langzeit-Opi- oiden in Deutschland zwar ebenfalls zunehme. Eine vergleichbare Krise wie in den USA halte er jedoch nicht für wahrscheinlich. Deutschland sei aktuell eher noch unterversorgt, zumal die Taliban bereits 2022 den Anbau von Schlafmohn in Afghanistan verboten hätten. Zugunsten der Versorgung von Abhängigen von illegalen Opioden forderte Pogarell, die Substitutionstherapie auszubauen. „Abstinenz ist nicht angemessen“, sagte der Psychiater. Maximal 10 Prozent der Betroffenen könnten langfristig abstinent leben.

Über die aktuelle Situation von Suchtkranken in München und verschiedene Angebote für sie berichtete Birgit Gorgas, Leiterin der Abteilung „Angebote für sucht- und seelisch erkrankte Menschen“ beim städtischen Gesundheitsreferat.
Außer auf das Thema Alkohol ging sie auch verstärkt auf Glücksspiel- und Mediensucht, Essstörungen sowie auf verschiedene illegale Drogen ein. So liege München laut verschiedenen Abwassermessungen beim europaweiten Vergleich des Kokainkonsums auf Platz 5 der an der Untersuchung beteiligten deutschen Städte. Kokain sei derzeit vergleichsweise günstig und in guter Qualität erhältlich. Obwohl der Heroin-Konsum aufgrund von entsprechenden TikTok-Videos unter jungen Menschen wieder „chic“ sei, gehe der Trend aktuell grundsätzlich weg vom Heroin und hin zum Kokain. Auch der Crack-Konsum nehme zu. Eine kleine Anzahl heroinabhängiger Jugendlicher stelle die Sucht- und Jugendhilfe aber vor große Herausforderungen. Die Situation im öffentlichen Raum im nördlichen und südlichen Bahnhofsviertel, aber auch am Sendlinger Tor und Nussbaumpark werde zunehmend schwierig.

Zum Schutz der Abhängigen vor Infektionskrankeiten haben Suchthilfe und Aidshilfe ein Spritzentauschprogramm eingerichtet, bei dem jährlich ca. 150.000 Spritzen ausgegeben werden. Dies wirke der Übertragung von HIV und Hepatitis entgegen, sagte Gorgas. Sechs durch die Münchner Aidshilfe betriebene Präventionsautomaten im ganzen Stadtgebiet sicherten den Spritzenbedarf abends und am Wochen- ende. Das als Opioid-Antagonist bei Überdosierungen eingesetzte Naloxon werde voraussichtlich ab 2026 rezeptfrei erhältlich sein. Schulungen für Konsumierende zu dessen Verwendung gebe es in allen Münchner Kontaktläden.

Gorgas stellte verschiedene weitere Angebote für suchtkranke Menschen in München vor, darunter städtische und von freien Trägern angebotene Beratungsstellen, die
„SuchtHotline“ München mit telefonischer Beratung von 6 Uhr morgens bis Mitternacht und die Online-Beratung DigiSucht. Mittlerweile gebe es auch Beratungsangebote speziell für abhängige Frauen und eine Jugendsuchtberatung von Condrobs e.V. und Prop e.V.. Neben Kontaktläden für Abhängige von illegalen Drogen und Streetwork seien auch einige Selbsthilfeorganisationen in diesem Bereich tätig.

Ca. 2.000 bis 2.150 opioidabhängige Menschen in München erhielten aktuell eine Substitutionsbehandlung mit verschiedenen Ersatzstoffen. Versorgt würden sie durch niedergelassenen Ärzt*innen oder in den Ambulanzen von Caritas oder Prop e.V. in Kooperation mit dem kbo-Isar-Amper-Klinikum. Die Stadt betreibe außerdem eine Clearing- stelle zur Suchtberatung. Gorgas nannte verschiedene Angebote zur Entzugsbehandlung in den Kliniken von Stadt und Landkreis, etwa die Suchtambulanz und Tagklinik des LMU Klinikums in der Nussbaumstraße oder die Entzugsbehandlung an der Abteilung für Klinische Toxikologie am Klinikum Rechts der Isar. Sie machte auch auf unterschiedliche Varianten zur Rehabilitation und Entwöhnung aufmerksam (stationär / ganztägig ambulant, ambulant, Nachsorge) und nannte Angebote zum Betreuten Wohnen, therapeutischen Wohngemeinschaften und Übergangseinrichtungen.

Ihre aktuellen Beobachtungen: Crack sei mittlerweile in München angekommen. Der vermehrte Konsum von neuen Drogen / Neuen Psychoaktiven Substanzen führe zu immer mehr rastlosen, aggressiven und agitierten Konsumierenden, die schlechter erreichbar seien. Dadurch entstünden zunehmend Konflikte im öffentlichen Raum. Gleichzeitig nähmen Wohnungslosigkeit und Existenzsorgen zu. Gorgas wies auch auf die Zunahme von Ess- und Internetnutzungsstörungen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen hin. Insgesamt brauche es mehr Frühinterventionen bei jungen Menschen, aber auch im Alter.

Der Fachkräftemangel und die verschärfte Haushaltslage könnten zu weiteren Veränderungen führen, befürchtete Gorgas. Künftig werde es wahrscheinlich weniger Substitutionsärzt*innen in München geben. Und es gebe noch keine Drogenkonsumräume in Bayern. Derzeit kämpfe man aber für geduldete Aufenthaltsmöglichkeiten für Abhängige. Ein Modellprojekt zum Drug Checking fehle ebenfalls, um Gesundheits-, Ordnungs- und Sicherheitsbehörden in die Lage zu versetzen, vor gefährlichen Stoffen und neuen Trends auf dem Drogenmarkt zu warnen. Nach- holbedarf bestehe außerdem bei der Partizipation von suchtkranken Menschen, wie sie bei anderen psychisch Erkrankungen zunehmend möglich ist.
 

Stephanie Hügler

MÄA 15 vom 19.07.2025