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ÄKBV-Veranstaltung zum 8. Mai. Verantwortung für gestern und heute

Am 8. Mai 1945 ging nicht nur der 2. Weltkrieg zu Ende, sondern auch ein dunkles Kapitel der deutschen Ärzteschaft. An Krankenmorden starben im damaligen Deutschen Reich rund 230.000 Menschen – verübt durch regimetreue Ärzte. Anlass genug für den ÄKBV und die Liste Demokratischer Ärztinnen und Ärzte, am 8. Mai dazu einen kritischen Gedenktag zu veranstalten.

Welches Menschen- und Patientenbild stand hinter den Verbrechen der damaligen Ärzte? Warum handelten sie so, wie sie es taten? Und inwiefern spielten menschenfeindliche Weltanschauungen schon vor 1933 eine Rolle?

Sich diesen Fragen ehrlich zu stellen war ein Ziel der Veranstaltung. Es ging aber auch darum, die Nachkriegszeit aufzuarbeiten: Warum gelang direkt nach Kriegsende kein guter Neuanfang? Welche Kontinuitäten bestimmten die Nachkriegszeit? „Es waren erschreckend viele Ärzte – und ich gendere hier bewusst nicht – die damals nicht nur gezwungenermaßen mitmachten, sondern sich aus Überzeugung an der der menschenfeindlichen Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten beteiligten“, sagte Dr. Irmgard Pfaffinger, 1. Vorsitzende des ÄKBV, in ihrer Begrüßung.  

„Leugnen oder sich stellen?“ lautete der Vortragstitel von Prof. Dr. Michael von Cranach. Als ehemaliger Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren hat sich der Psychiater ausgiebig mit den ärztlichen Verbrechen besonders in der Psychiatrie beschäftigt. Dabei entdeckte er nicht nur, dass die Vorstellung von einem unterschiedlichen Wert menschlichen Lebens offenbar bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts grassierte. Er beschrieb auch, wie es nazitreuen Ärzten gelang, durch Intrigen nach Kriegsende ihre Posten zu behalten und eine Aufarbeitung der Krankenmorde zu verhindern. Schließlich schlug er auch einen Bogen zur heutigen Zeit, in der Menschen, etwa aufgrund ihrer sozialen Voraussetzungen, noch immer eine bessere bzw. schlechtere medizinische Versorgung erfahren.

(Dis-)Kontinuitäten des ärztlichen Selbstverständnisses angesichts der nationalsozialistischen Medizinverbrechen waren das Thema des Vortrags von PD Dr. phil. Mathias Schütz vom Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der LMU. Unter den Überschriften medizinische Menschenbilder, Menschenwürde und Vergangenheitsbewältigung spannte er einen Bogen der Geschichte von Hildegard von Bingen bis heute. So zeigte er auf, wie sich das Menschenbild von einem in die kosmische Ordnung eingebetteten Menschen im Mittelalter über Rudolf Virchows Interesse für Zellen und die Eugenik der Nazizeit bis hin zur heutigen modernen Medizin wandelte. Er nannte Beispiele für ethische Diskrepanzen bei medizinischem Handeln auch in der heutigen Zeit, in der etwa einerseits der Schutz des ungeborenen Lebens einen großen Wert darstelle, andererseits aber ein geborenes Leben, ein verstorbener Fötus, im Krankenhausmüll lande. Gleichzeitig warnte er davor, die Verbrechen der Nazizeit durch unangemessene Vergleiche zu verharmlosen.

Dass man den Verbrechen der Ärzte im Nationalsozialismus auch heute noch konkret nachspüren kann, zeigte Julius Poppel in seinem Vortrag. Der Assistenzarzt und Mitgründer der Kritischen Medizin München organisiert seit einigen Jahren medizinhistorische Stadtrundgänge durch LMU-Kliniken mit Bezug zu dort stattgefundenen Nazi-Verbrechen bzw. zu nazitreuen Ärzte. Studierende, aber auch sonstige Interessierte können die Rundgänge buchen oder einen virtuellen Rundgang unternehmen (s. QR-Codes).

„Die medizinische Versorgung heute – ohne Diskriminierung?“ war schließlich das Thema einer Podiumsdiskussion mit Julius Poppel, der städtischen Gesundheitsreferentin Beatrix Zurek, der Präsidentin des Sozialverbands VdK Verena Bentele, dem Geschäftsführer von Refugio Jürgen Soyer und Annemarie Weber von Ärzte der Welt / open. med München. Die Teilnehmer*innen der Diskussion sprachen von Gesundheit als Menschenrecht und beklagten Ungerechtigkeit im Gesundheitswesen. So erinnerte Annemarie Weber daran, dass immer wieder Menschen aufgrund fehlender Ressourcen im Gesundheitswesen abgewiesen würden und beklagte mangelnde Augenhöhe zwischen Ärzt*innen und einigen Patient*innen aufgrund von Unterschieden bei Bildung und Sprache. Auch im Gesundheitswesen seien individuelle und systemische Diskriminierung häufig. Es gebe Barrieren auf vielen Ebenen. Viele Patient*innen bei open.med fragten sich: „Warum bin ich der Einzige, der keine Krankenversicherung hat?“.

Jürgen Soyer erinnerte daran, dass 80 Prozent aller Geflüchteten Frauen und Kinder seien, die häufig schreckliche Erlebnisse hinter sich hätten. Aus der Forschung an Holocaust-Überlebenden wisse man, dass diejenigen, die nach einer Flucht gut aufgenommen würden, später viel weniger psychische Probleme hätten. Gleichzeitig hätten viele Geflüchtete keine reguläre Krankenversicherung, und der Zugang von Geflüchteten zu Psychotherapie sei in Deutschland derzeit nahezu unmöglich.

Verena Bentele sprach von einer strukturellen Diskriminierung vieler Menschen aufgrund der Struktur und Finanzierung des Systems. Die Vielfalt menschlicher Geschichten und Herausforderungen könnten sich viele einfach nicht vorstellen. Gerade Menschen mit Pflegebedarf und ihre Angehörigen hätten es oft sehr schwer. Ähnlich sei es bei Menschen mit Behinderung. Sie selbst habe erlebt, wie statt ihr selbst eine Begleitperson gefragt wurde, ob sie sich selbst an- und ausziehen könne. Zurek äußerte sich erfreut darüber, dass die Stadt verschiedene Projekte wie das Mental Health Center Ukraine von Refugio und einen Medikamentenfonds unterstützen könne. Poppel kritisierte, dass das Gesundheitswesen zu sehr auf Profit ausgerichtet sei und die sozialen Umstände dabei oft vergessen würden. Gesundheit dürfe sich nicht instrumentalisieren lassen. Sie müsse ein politisches Anliegen sein und bleiben.

Stephanie Hügler

MÄA 12/2025