Leitartikel

Wenn Kinder daheim bleiben wollen

Ein bisschen die Schule zu schwänzen ist doch nicht so schlimm, denken viele. Doch, es ist ein ernst zu nehmendes Problem, sagt Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität München (LMU). Denn nicht immer, aber allzu häufig, steckt dahinter eine psychische Krankheit.
Schulabsentismus

Herr Prof. Schulte-Körne, in der Vergangenheit hat die Polizei immer wieder Schulschwänzer und ihre Familien am Flughafen aufgegriffen. Ist die Verfolgung durch die Polizei aus Ihrer Sicht ein angemessenes Mittel, um mit dem Thema Schulabsentismus umzugehen? 

Absolut nicht. Dabei handelt es sich aber natürlich um spezielle Situationen, die sich aus familiären Interessen ergeben. Es gibt durchaus sinnvolle Interventionen durch die Polizei, etwa wenn sie, wie in manchen Städten Bayerns, die Jugendlichen aus sogenannten „Hotspots“ herausholt, also aus Orten, an denen sie sich statt in der Schule aufhalten und wo sie womöglich auch Drogen konsumieren. 

Rund vier bis sechs Prozent aller Schüler gehen einer baden-württembergischen systematischen Untersuchung zufolge an vier bis zehn Tagen im Monat unentschuldigt nicht zur Schule. Woran liegt das? 

Die Zahlen sind unter einem gewissen Vorbehalt zu betrachten, denn es handelt sich dabei ja um eine einzelne Studie. In Deutschland wird nicht wie in den USA oder in England systematisch und täglich erfasst, wie viele Schüler von denen, die in der Schule sein sollten, tatsächlich dort sind. Insgesamt wissen wir also nicht genau, weder für Bayern noch für ganz Deutschland, wie hoch der tägliche oder jährliche Anteil der Kinder ist, die Schulabsentisten sind. Das ist ein großes Problem. Außerdem muss man unterscheiden zwischen denen, die entschuldigt und denen, die unentschuldigt fehlen. 

Wäre es denn sinnvoll, das Schule schwänzen systematisch zu erfassen? 

Unbedingt, denn man will ja wissen, warum Schüler nicht in die Schule kommen. Wenn man es nirgends zentral registriert und dies keine Aktivität auslöst, dann ist das fatal hinsichtlich der Intervention und auch der Prävention von chronischem Fernbleiben von der Schule. 

Was weiß man über die Ursachen für das Fernbleiben von der Schule? 

Internationale Studien zeigen, dass die Gruppe dieser Schülerinnen und Schüler sehr heterogen ist. Für Deutschland wurde aber nachgewiesen, dass etwa drei Viertel der Schüler, die länger der Schule fernbleiben, psychische Probleme ganz unterschiedlicher Art hat. Von Schulabsentismus hauptsächlich betroffen sind 14- bis 16-Jährige. Darunter gibt es Jugendliche, die Probleme in der Schule haben, die etwa Mobbing oder andere Stressoren erleben, mit denen sie nicht umgehen können. Die zweite große Gruppe sind Schüler mit einer familiären Problematik, also zum Beispiel bei einer Trennung der Eltern. Das betrifft oft jüngere Kinder, die manchmal sogar mit Billigung der Eltern nicht zur Schule gehen. Die dritte Gruppe schwänzt eher aufgrund von aggressiven und dissozialen Verhaltensweisen. Diese Schüler sagen oft: „Die Schule ist mir nicht wichtig. Ich möchte lieber andere Dinge tun“. Auch in diesen Fällen steckt aber oft eine familiäre Komponente dahinter, weil sich die Eltern aufgrund einer eigenen Erkrankung oder sozialen Problemen nicht um sie kümmern können. 

Gibt es Einschätzungen zur mengenmäßigen Verteilung dieser verschiedenen Gruppen und Abwesenheitsgründe? 

Das einzuschätzen ist schwer möglich, weil es häufig Mischkonstellationen gibt. Man kann aber sagen, dass die psychische Belastung der Kinder und Jugendlichen mit Schulabsentismus sehr groß ist. Viele leiden unter Schulangst, andere haben psychische Belastungen und Erkrankungen, darunter Depressionen, Verhaltensstörungen oder Substanzmissbrauch bis hin zur Suizidalität. 

Kann man – außer zum Alter – noch etwas Genaueres sagen, welche Kinder und Jugendlichen besonders häufig betroffen sind? 

In Deutschland haben wir das dreigliedrige Schulsystem mit allen damit verbundenen Selektionen. Das führt zu einer Häufung der Schulabwesenheit an den Mittel- bzw. Hauptschulen. Eine deutlich geringere Anzahl gibt es an den Realschulen, und am geringsten ist die Zahl an den Gymnasien, auch wenn in Gymnasien Schulabsentismus nicht selten vorkommt. Hinsichtlich des Geschlechts hängen die Häufigkeiten von den zugrunde liegenden Ursachen ab: Von dissozialen Verhaltensweisen sind eher Jungen betroffen, von Angststörungen eher Mädchen. 

In manchen Fällen gehen Kinder und Jugendliche sechs bis neun Monate lang „fast unbemerkt“ nicht zur Schule. Wie kann so etwas vorkommen? 

Wir hatten einzelne Fälle in unserer Klinik mit unglaublich vielen Krankschreibungen, bei denen sich die Fehlzeiten derart summiert haben, sodass ein fast einjähriges Schulfernbleiben ärztlich begründet wurde. Letztlich handelte es sich dabei um ein entschuldigtes Fernbleiben. Es gab aber auch Fälle, in denen die Schüler lange Zeit unentschuldigt gefehlt haben. In diesen Fällen können wir nur davon ausgehen, dass dies billigend in Kauf genommen wurde, z.B. bei Jugendlichen, die unangenehm, verhaltensauffällig, dissozial und aggressiv sind. Man kann den Eindruck bekommen, dass es den Schulen teilweise recht ist, wenn diese Jugendlichen zu Hause bleiben. 

Was kann man tun? 

Schulabsentismus tritt meist nicht von heute auf morgen auf. Er hat fast immer eine Vorgeschichte, die die Jugendlichen, ihre Familie und natürlich auch die Schule betrifft. Wenn man sich die teils sehr unterschiedlichen Biographien ansieht, findet man häufig schon früh Hinweise: Wenn ein Kind z.B. schon in der Grundschule Probleme mit der sozialen Integration hatte, vielleicht auch Mobbing erlebt hat und das nicht erkannt und mit adäquaten Interventionen behandelt wurde, kann das Problem chronifizieren. Viele dieser Kinder ziehen sich nach dem Übertritt auf die weiterführende Schule immer mehr zurück. Später werden sie oft mit körperlichen Symptomen wie Bauchschmerzen, Schlafstörungen usw. beim Kinderarzt vorgestellt. Viele Kinderärztinnen und –ärzte schreiben das Kind dann erst einmal wegen einer Belastungssituation krank. Das ist aber falsch, denn dann verselbstständigt sich die Situation. Das Kind wird mit seinen Symptomen verstärkt und lernt, dass körperliche Symptome dazu führen, dass sie zuhause bleiben können. Man sollte stattdessen früh professionell intervenieren. Wenn ein Kind z.B. eine chronische Mobbingsituation erlebt, darf man nicht mit der Unterstützung warten. 

Was für andere, familiäre, Gründe gibt es? 

Kinder psychisch kranker Eltern bleiben oft zu Hause, um jüngere Geschwister zu versorgen, wichtige Aufgaben im Haushalt zu übernehmen oder aus Angst um den erkrankten Elternteil, etwa wenn die Mutter oder der Vater suizidal sind, also lebensmüde Gedanken haben. In diesen Fällen gibt es häufig auch niemanden, der die Kinder gegen ihren Willen zur Schule bringen kann. Das ist nur ein Beispiel. Es gibt viele unterschiedliche Konstellationen, in denen ein Familiensystem überfordert ist und wo es fatal ist, wenn die Schule das nicht wahrnimmt und die Familien nicht dabei unterstützt, sich Hilfe zu suchen.  

Was sollten Schulen tun?  

Zunächst sollten sie ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Schulabsentismus ein ernst zu nehmendes Problem ist. Sie sollten genau hinschauen, wenn Kinder wiederholt nicht in der Schule waren, und die Eltern zu einem Gespräch einladen. Dann sieht man ja, ob die Angebote wahrgenommen werden. Die meisten Eltern, die oft zeitlich stark unter Druck stehen, sind froh, wenn jemand überhaupt Interesse an ihnen und ihrem Kind zeigt. Man kann ihnen z.B. sagen: „Wir machen uns große Sorgen um Ihr Kind. Gehen Sie mit ihm doch mal zu einem niedergelassenen Arzt oder einer Ärztin, um die Ursachen des Schulabsentismus herauszufinden. Oder suchen Sie sich psychotherapeutische Hilfen.“ Außerdem sollten die schulinternen Hilfsangebote, z.B. der Schulpsychologe, empfohlen werden. Diese müssen nicht sofort spezifisch sein, aber eine Schule sollte Hilfen initiieren.  

Was sollten Ärztinnen und Ärzte tun?  

Primär ist es in der hausärztlichen sowie kinder- und jugendmedizinischen Versorgung wichtig, Schüler nicht lange krank zu schreiben, die wiederholt wegen Bauch- und Kopfschmerzen vorgestellt werden, ohne dass ein organisches Korrelat vorhanden ist. Man darf solche pathologischen Systeme auf keinen Fall durch lange Krankschreibungen stützen. Es ist ein großes Problem für uns, Kinder nach einem halben oder dreiviertel Jahr Schulabsentismus in die Behandlung zu bekommen. Und wenn wir sie dann behandeln, ist dies oft prognostisch äußerst ungünstig. Viele haben dann bereits so viel in der Schule versäumt, dass sie hinsichtlich der Schulformen absteigen und schulisch nur schwer wieder zu integrieren sind.  

Was sollten z.B. Kinder- und Jugendpsychiater tun?  

Wenn Betroffene sich bereits in der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung befinden, ist es wichtig, die ursächliche Konstellation herauszufinden: Ist es eine Angststörung? Oder handelt es sich eher um eine dissoziale Entwicklung? In der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung gibt es genügend Expertise, um die Diagnostik spezifisch durchzuführen und eine Intervention einzuleiten. Eine stationäre Behandlung ist leider oft zwingend nötig, wenn die Kinder schon sehr lange unter einem Schulabsentismus leiden. Das Problem in München – und nicht nur dort – ist allerdings, dass unsere stationären Bettenkapazitäten viel zu gering sind. Manche Kinder müssen ein halbes Jahr auf einen Behandlungsplatz warten.  

Wie aussichtsreich ist eine ambulante Intervention?  

Je eher das Problem festgestellt wird und je weniger ausgeprägt die Symptome sind, desto eher kann man den Kindern auch ambulant helfen und die Familien entlasten. Auch die Ressourcen der Familie spielen eine Rolle: Wenn sie sehr gering sind, braucht es mehr entlastende Maßnahmen, auch aus der Kinder- und Jugendhilfe.  

Verschärft eine stationäre Behandlung das Problem nicht noch, weil das Kind dort schulisch noch mehr versäumt?  

Nein, das ist nicht der Fall, weil die versorgenden Kliniken alle ein eigenes Schulangebot vohalten. Das ist genau unser Vorteil, dass wir dabei einen sehr individualisierten, auf die individuellen Bedürfnisse ausgerichteten Unterricht anbieten. Die Kinder haben oft Angst vor der Schule und extreme Defizite in der Leistungsentwicklung. In den Kliniken können wir mit ihnen auf einem Niveau starten, bei dem sie in der Schule wieder Erfolge erleben – in kleinen Gruppen und in einem angepassten, auf die individuellen Bedürfnisse ausgerichteten, Unterricht.  

Wie lang dauert eine solche Intervention in der Regel und wie leicht ist für das Kind anschließend der Übergang in die normale Schule?  

Das ist individuell sehr unterschiedlich. Die meisten Behandlungen dauern mehrere Monate. Meistens nehmen danach die Schulen an den Kliniken Kontakt zu den Heimatschulen bzw. der zukünftigen Schule auf und begleiten den Übergang. Das ist eine Herausforderung und klappt nicht immer, und manchmal ist auch ein Wechsel der Schulform nötig. Dieser wird aber immer vorbereitet.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler.