Leitartikel

Von der Erinnerungskultur zur Inklusion Menschenwürde in der Psychiatrie

75 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs und des Nazi-Regimes setzt sich die Psychiatrie immer stärker mit der NS-Zeit auseinander. Wie das gehen kann und auf welche Mechanismen zur Toleranz und Inklusion man heute setzt, darüber sprachen die MÄA mit dem Ärztlichen Direktor des kbo-Isar-Amper-Klinikums Prof. Dr. Peter Brieger
Von der Erinnerungskultur zur Inklusion Menschenwürde in der Psychiatrie
Von der Erinnerungskultur zur Inklusion Menschenwürde in der Psychiatrie

Foto: Ina Koker

Herr Prof. Brieger, in diesem Sommer gab es bei den kbo-Kliniken eine interne Veranstaltung zur Erinnerungskultur. Was verstehen Sie darunter? An wen möchten Sie erinnern?

Jeder, der zu uns kommt, kann sehr schnell herausfinden, dass in unserer Klinik ca. 2.000 Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus ums Leben gekommen sind. Sich dem nicht zu stellen wäre vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung nicht angemessen. Es geht aber auch um die heutige Praxis: Was von dem, was passiert ist, ragt ins Heute hinein? Darf man es z.B. akzeptieren, wenn die AfD Anträge stellt, dass bestimmte Menschen keinen Zugang mehr zu Hilfen bekommen sollen?

Warum kommen Sie gerade jetzt auf eine solche Veranstaltung?

Es gab die Zeit von 1945 bis 1946, als Prof. Dr. Gerhard Schmidt hier Ärztlicher Direktor war. Er hat versucht, die Geschichte auch öffentlich aufzuarbeiten, wurde aber auch nach internem Widerstand von den Alliierten abgesetzt. Danach folgte Anton von Braunmühl, der sehr eng mit den Verbrechen verknüpft war, und daher natürlich kein Interesse an einer Aufarbeitung hatte. Das Gleiche galt für v. Braunmühls Nachfolger Hermann Nadler, der in der NS-Zeit sogar Richter am Erbgesundheitsgericht war. Bis in die 1970er Jahre hinein waren noch sehr viele Mitarbeiter eng mit der Vergangenheit verflochten. Erst in den 1980er Jahren gab es Anstrengungen, sich der Verantwortung zu stellen. In den 1990er Jahren wurde unser Mahnmal für die Opfer der NS-Euthanasie hier in Haar errichtet, aber wir haben es bis jetzt nicht geschafft, unsere verschiedenen Ansätze in einem Gesamtkonzept zusammenzuführen. Das möchten wir jetzt tun.

Welche Maßnahmen haben Sie geplant?

Auf allen Ebenen – Bezirk, Kliniken des Bezirks Oberbayern (Kommunalunternehmen), Arbeitskreise – möchten wir ein Konzept umsetzen, das nach Außen und nach Innen wirkt. Prof. Dr. Jörg Skriebeleit, der Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und designierter Professor für angewandte Erinnerungskultur an der Universität Regensburg, wird uns bei diesem Projekt beraten. Als ersten Schritt möchten wir unser derzeit noch etwas verstecktes Mahnmal zu einer Informationsstätte über Euthanasie und hier passierte Verbrechen ausbauen. Dabei nennen wir in digitaler Form auch die Namen der Opfer und Einzelheiten aus ihrer Biographie, damit diese wieder in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit rücken. Gleichzeitig möchten wir die Täter und ihre Biographien – auch nach 1945 – in einer Ausstellung im Haupthaus zeigen. Öffentlich zugänglich machen möchten wir außerdem die hier noch bestehenden Orte als Mahnmale der Erinnerung: die Rampe, von der aus die Transporte in die Tötungsanstalten gestartet sind, die Hungerhäuser und die Prosektur, in der damals die Gehirne der Getöteten vom Kaiser Wilhelm-Institut zerlegt wurden, die Kinderfachabteilung und den Friedhof. Auch unser Psychiatriemuseum möchten wir zum Thema NS-Zeit ausbauen. Alle diese Maßnahmen sollen durch informative, pädagogische Inhalte ergänzt werden – ähnlich wie in der ehemaligen Tötungsstätte, heute Gedenkstätte Hartheim. Dort geht es um den Wert des Lebens: Was bedeuten die Verbrechen von damals für unsere Praxis heute? Was dafür, wie wir ethisch mit Menschen umgehen, die außergewöhnlich oder benachteiligt sind? Was für unseren Umgang mit Zwang und Gewalt oder für die Ausgrenzung von Minderheiten? Solche Fragen möchten wie sowohl in den Krankenpflegeschulen als auch in den umliegenden allgemeinbildenden Schulen und für Besucher, Mitarbeiter, Angehörige und Patienten stellen.

Hat das auch Auswirkungen auf den täglichen Umgang mit Patienten?

 Grundsätzlich und langfristig schon. Wir brauchen eine Haltung, die sich selbst reflektiert, die Solidarität für Schwache zeigt und ethische Standards einhält. Aktuell möchten wir z.B. ein klinisches Ethikkomitee entwickeln. Zudem diskutieren wir viel über wichtige gesellschaftliche Themen wie Palliativsituationen oder Suizid, die eng mit ethischen Fragen verknüpft sind.

Was können die kbo-Kliniken tun, um heute Menschen mit geistigen, seelischen oder sozialen Behinderungen zu unterstützen?

Eine Säule ist das gemeindenahe Konzept der Behandlung: Inzwischen haben wir viele dezentrale Ambulanzen und Tageskliniken entwickelt. Die Menschen sollen merken, dass Psychiatrie sich nicht irgendwo hinter verschlossenen Mauern abspielt, sondern dass psychische Krisen und Störungen jeden von uns treffen können – Sie oder mich oder auch unsere Freunde.  Ganz wichtig ist uns, dass wir heute in Haar ein offenes Gelände ohne Mauer haben. In der Psychiatrie gilt heute zudem das Grundkonzept des Trialogs. Das bedeutet, dass Erfahrene, Angehörige und wir Profis gemeinschaftlich miteinander reden. Viele unserer Veranstaltungen sind trialogisch, ebenso wie Planungsschritte zur besseren Versorgung. Zum Beispiel haben wir mittlerweile Genesungsbegleiter auf unseren Stationen und teilweise auch in der ambulanten Versorgung. Das sind Menschen, die selbst eine psychische Krise durchlaufen haben und nun andere Betroffene unterstützen. Dadurch gibt es ganz andere Reflektionsmechanismen und Möglichkeiten, miteinander zu sprechen.

Wie wahrt die Klinik die Würde von Menschen mit Demenz?

 Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Wir brauchen einen würdevollen Umgang mit Menschen, die nicht mehr so „funktionieren“ können wie früher. Dabei dürfen wir nicht nachlässig werden, sondern müssen uns immer wieder bewusst machen, dass wir es mit Menschen zu tun haben und dass wir ihnen gegenüber die richtigen Umgangsformen wahren müssen. Wir müssen auch zeigen, dass in Zeiten der Ökonomisierung eine ausreichende Personalausstattung und ausreichende Ressourcen für diese Menschen notwendig sind – und uns dafür stark machen, dass man sie z.B. nicht einfach in ein Heim mit Minimalbesetzung abschieben darf.

Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus sind wieder stärker geworden. Wie kann das kbo-Isar-Amper-Klinikum zu mehr Toleranz beitragen?

Nach Innen gibt es eine Null-Toleranz-Politik bei entsprechenden Vorfällen, in denen wir notfalls auch dienstrechtlich vorgehen. Gleichzeitig schulen wir unsere Mitarbeiter darin, dass eine Inklusion aller Menschen nötig ist – unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, sexueller Identität oder Orientierung. Zur Förderung von Menschen mit einem Flucht- oder Migrationshintergrund haben wir eine eigene Mitarbeiterin eingestellt, Franziska Scheuerecker, die als Ethnologin seit drei Jahren hier eine Stabsstelle besetzt. Bei der Betreuung von Flüchtlingsunterkünften arbeiten wir eng mit dem Referat für Gesundheit und Umwelt zusammen, und halten dort z.B. auch Sprechstunden ab. Insgesamt sorgen wir dafür, dass auf den Stationen kein verdeckter oder offener Rassismus entsteht. In den Zeiten, in denen es in den Flüchtlingsheimen hohe Infektionszahlen gab, bestand teilweise auch bei unseren Mitarbeitern eine gewisse Tendenz zur Abschottung.

Was müsste die Gesellschaft tun, um alle Menschen gleich gut zu behandeln?

 Wahrscheinlich wird man nie alle gleich behandeln können. Man sollte sich aber fragen: Wie kann man die Gesellschaft so gestalten, dass alle Menschen mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und Handicaps eine bedarfsgerechte, ihren Wünschen entsprechende Behandlung erfahren? Von den schwer psychisch Kranken befinden sich derzeit z.B. nur 20 Prozent in Arbeit. Rund 60 Prozent möchten aber arbeiten. Für diese 60 Prozent müsste der Arbeitsmarkt so gestalten werden, dass sie darin eine Funktion übernehmen können. Wir brauchen weniger Schematismus. In der Schweiz, Großbritannien und den USA ist beispielsweise das Konzept des „Supported Employment“ („Unterstützte Beschäftigung“) sehr erfolgreich. Dabei betreut ein Unterstützer oder Jobcoach etwa sieben oder acht Menschen mit Behinderung oder Krankheit und vertritt sie gegenüber dem Arbeitgeber. Dieser erhält eine Kompensationsleistung für deren eventuelle Minderleistung. Das ist langfristig für die Betroffenen besser, und sie finden viel leichter wieder in eine „normale“ Arbeit zurück als wenn sie nur in Werkstätten arbeiten. Es braucht aber auch den Grundkit der sozialen Kohäsion. Der geht mir als Privatperson in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft zunehmend verloren – weil die Tendenz immer mehr in Richtung Ökonomisierung geht.

Was verstehen Sie darunter?

 Was weiß ich zum Beispiel über meine Nachbarn, wenn ich in München in einem großen Gebäude wohne? Wie viele Kontakte haben wir noch miteinander? Rund 60 Prozent der Haushalte in München sind mittlerweile Ein-Personen-Haushalte. Wie funktionieren trotzdem soziale Zusammenhänge? Wie viel Solidarität und wie viel Toleranz gibt es noch untereinander? Hier an der Klinik beobachten wir z.B., dass unsere Patienten sehr schnell ihre Wohnung verlieren, wenn sie sich mehrere Tage hintereinander auffällig benommen haben. Viele von ihnen finden danach nichts mehr. Oft können wir Patienten deshalb erst sehr spät aus der Behandlung entlassen.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler