Leitartikel

Sepsis – neu definiert Warum die veränderte Definition auch auf Kritik stößt

Mit einer deutschlandweiten Sterberate von über einem Drittel aller diagnostizierten Fälle zählt die Sepsis zu den häufigsten Todesursachen hierzulande. Ein Grund dafür: Sie wird oft zu spät entdeckt. Eine neue Sepsis-Definition soll seit 2017 dazu beitragen, dies zu ändern. Doch auch sie hat ihre Tücken, wie Dr. Beatrice Grabein, Leitende Ärztin der Stabsstelle Klinische Mikrobiologie und Krankenhaushygiene am Klinikum der Universität München und ÄKBV-Delegierte, weiß.
Sepsis

Frau Dr. Grabein, der ÄKBV hatte lange eine Arbeitsgruppe zum Thema Sepsis. Hat sich seither etwas Wichtiges bei diesem Thema getan?

Ja, seit 2016 haben sich die Sepsis-Definitionen offiziell verändert. Diese Veränderungen bedeuten ein neues Konzept des Themas Sepsis, das Konzept „Sepsis-3“. Es folgte auf die Konzepte „Sepsis-1“ und „Sepsis-2“, die 1995 und 2001 entwickelt wurden. Auf die im ärztlichen Bereitschaftsdienst, in den Notaufnahmen, auf Intensivstationen und im Not- und Rettungsdienst tätigen Kolleginnen und Kollegen hat „Sepsis-3“ deutliche Auswirkungen, weil sich die von ihnen bisher überprüften Kriterien verändert haben. Vorher nutzte man zum Screening die 1991 definierten sogenannten SIRS-Kriterien zur Feststellung eines systemischen inflammatorischen Response-Syndroms („systemic inflammatory response syndrome“) aufgrund einer Infektion, die aber nicht nachgewiesen werden musste. Diese Kriterien wurden nun durch den SOFA-Score („Seqential Organ Failure Assessment“-Score) und den Quick SOFAScore (qSOFA) ersetzt. Der Quick-SOFAScore wurde zur prädiktiven Validierung des neuen Konzepts „Sepsis-3“ benutzt und hilft, das Vorliegen einer Sepsis anhand neuer Kriterien zu überprüfen.

Was ist der Unterschied zwischen den verschiedenen Definitionen und Scores?

Statt der Infektion an sich steht bei „Sepsis-3“ nun stets eine lebensbedrohliche Organdysfunktion durch eine inadäquate Antwort auf Infektionen im Mittelpunkt. Im SIRS-System gibt es verschiedene Kriterien, die auf eine Sepsis hinweisen: Der Patient hat eine Tachykardie mit einer Herzfrequenz von über 90 pro Minute. Er leidet außerdem entweder an einer Tachypnoe, d.h. er atmet häufiger als 20mal pro Minute, oder er hat einen CO2-Gehalt im Blut von unter 33 mm HG. Der Patient hat entweder Fieber über 38 Grad oder eine Temperatur unter 36 Grad. Und die Leukozytenzahl im ersten Labor liegt entweder über 12.000/μl oder aber unter 4.000/μl oder es finden sich im Differentialblutbild mehr als 10 Prozent unreife Neutrophile. Wenn zwei oder mehr dieser Kriterien erfüllt sind und eine Infektion vorliegt, war bisher die Verdachtsdiagnose Sepsis zu stellen. Dann waren entsprechende weitere Untersuchungen durchzuführen, um die Diagnose zu sichern oder auszuschließen. Eine schwere Sepsis lag laut Definition vor, wenn zusätzlich eine Organdysfunktion auftrat. Als septischer Schock galt bisher eine schwere Sepsis, kombiniert mit einer Hypotonie, die durch reine Flüssigkeitssubstitution nicht zu beheben ist. Stattdessen benötigt der Patient laut dieser Definition bei einem septischen Schock kreislaufunterstützende Medikamente, um einen arteriellen Mitteldruck von über 65mmHG zu halten. Bis auf die Leukozytenzahl sind diese Kriterien sehr einfach und innerhalb weniger Minuten zu erheben.

Wie funktioniert nun der (Quick-)SOFAScore?

Um eine Organdysfunktion aufgrund einer Infektion genauer zu messen, die Verdachtsdiagnose zu prüfen und die Prognose abschätzen zu können, hat man auf Intensivstationen den schon vorher existierenden SOFA-Score eingeführt. Dieser lässt sich allerdings im niedergelassenen Bereich oder im Notdienst nicht mehr so einfach ermitteln. Denn dazu muss man sechs Organsysteme betrachten: die Atmung, die Gerinnung, die Leber, das HerzKreislauf-System, das zentrale Nervensystem und die Niere. Dafür braucht man zum Beispiel allein elf Serumparameter, die außerhalb von Intensivstationen nur selten erhoben werden. 

Wie kann man diesem Problem begegnen?

Man hat den Quick-SOFA-Score eingeführt, damit Patienten mit einem hohen Risiko für Sepsis identifiziert werden, noch bevor sie eine Organdysfunktion haben. Denn wenn diese erst manifest ist, ist der Schaden am Organ ja schon eingetreten. Ähnlich wie die alten Kriterien ist der Qick-SOFA-Score leicht am Patienten direkt zu erheben. Auch er nutzt die Atemfrequenz zur Definition, wobei bei Sepsis ein Grenzwert von 22 Atemzügen pro Minute gilt, und nicht von 20. Der systolische Blutdruck muss demnach unter 100 mmHg liegen, nicht unter 90, wie beim SIRS-System. Wesentliches Kriterium Nummer drei beim Quick-SOFA ist eine irgendwie geartete veränderte Bewusstseinslage. Der Patient muss nicht bewusstlos oder komatös sein. Die Verdachtsdiagnose Sepsis ist auch beim Quick-SOFA dann zu stellen, wenn zwei oder mehr der Kriterien zutreffen. Dann muss der Patient im Krankenhaus mittels des SOFA-Scores weiter evaluiert werden.

Warum wurde Sepsis überhaupt neu definiert und die neuen Scores eingeführt?

Es gibt eine Studie aus Australien und Neuseeland. Darin wurde festgestellt, dass jeder achte Patient mit einer schweren Sepsis anhand der SIRS-Kriterien nicht erkannt worden ist. Außerdem zeigte sich, dass die Letalität 24 Stunden nach der Einlieferung in eine Intensivstation nicht davon abhing, ob bei den erkrankten Patienten keines, ein oder zwei der SIRS-Kriterien erfüllt waren. Die Schlussfolgerung war: Wenn wir nur die SIRS-Kriterien anwenden, verpassen wir bei 12 Prozent der Patienten die Tatsache, dass sie eine Sepsis haben. Wir brauchen etwas Sensitiveres.

Sind Intensiv- und Notfallmediziner nun vollkommen glücklich mit der neuen Definition und dem Quick-SOFA-Score?

Leider nein. Interessanterweise ist der neue Score zwar spezifischer als die alten Kriterien, aber nicht sensitiver, sagen Kritiker an der neuen Definition. Die alten und die neuen Sepsis-Definitionen basieren auf Konsensus-Prozessen einer sogenannten „Konsensusgruppe“. Es gibt überwiegend keine eindeutigen Daten, die das Krankheitsbild definieren, und Tests, die durchzuführen sind. Kritiker geben zu, dass der Quick-SOFA-Score wohl tatsächlich eine bessere Abschätzung der Prognose des Patienten erlaubt. Die Prognose wird aber auch dadurch maßgeblich mitbestimmt, wie frühzeitig die Therapie beginnen kann. Eine frühere Therapie ist laut den Kritikern aber nicht einfach möglich, weil eine bereits bestehende Organdysfunktion als wesentliches Kriterium bedeutet, dass die Sepsis zum Zeitpunkt ihrer Feststellung meist bereits weit fortgeschritten ist. Insofern wird die Diskussion in letzter Zeit intensiv geführt, ob der neue (Quick-) SOFA-Score im Hinblick auf die frühzeitige Versorgung wirklich eine Verbesserung bringt. Das heißt für uns als ÄKBV wiederum: Ist es sinnvoll, dass wir die SIRSKriterien einfach so austauschen?

Gibt es denn eine Alternative zu den jeweiligen Sepsis-Definitionen, den alten und den neuen?

Momentan leider nicht. Die alte und die neue Sepsis-Definition stehen sich derzeit gegenüber. Viele Experten der Konsensusgruppe, die bereits an den Sepsis-1 und Sepsis-2-Definitionen mitgewirkt hatten, waren auch an der Entwicklung der Sepsis-3-Definition beteiligt. Kritiker von außen bemängeln allerdings, dass die neue Definition eingeführt und die alte abgeschafft wurde, ohne dass durch Daten klar erwiesen wurde, dass die neue Definition keine Verschlechterung der Diagnose und Therapie der Sepsis mit sich bringt.

Betrifft diese Änderung denn nur die oben genannten Kolleginnen und Kollegen, oder sind auch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte betroffen?

Niedergelassene Kolleginnen und Kollegen sind häufiger mit dem Thema konfrontiert als ihnen möglicherweise bewusst ist. Das war auch der Hintergrund, warum der ÄKBV im Jahr 2012 aufgrund der Initiative des Internisten und Intensivmediziners Jan Hesse die Arbeitsgruppe gründete. Hesse bemerkte, dass viele Patienten mit Sepsis erst zu einem sehr späten Zeitpunkt eingeliefert werden und die Verdachtsdiagnose Sepsis kaum gestellt wurde. Daher haben wir versucht, bereits im präklinischen Bereich, also zum Beispiel im kassenärztlichen Bereitschaftsdienst, darauf hinzuwirken, dass bestimmte Kriterien zur Sepsis früh geprüft werden, damit diese bei entsprechendem Verdacht einen Hinweis an den Rettungsdienst geben können, dass diese Patienten schnell in die Klinik eingeliefert und behandelt werden müssen.

Hat das geklappt?

Ja, es hat dazu geführt, dass Patienten mit der Verdachtsdiagnose Sepsis heute wesentlich früher in dafür geeigneten Kliniken versorgt werden, ähnlich schnell wie bei anderen Notfalldiagnosen wie Schlaganfall oder Herzinfarkt. Aus meiner Sicht haben wir mit unserer Arbeitsgruppe viel erreicht, weil wir in diesen Prozess alle relevanten Institutionen und Strukturen eingebunden haben – die KVBereitschaftsdienste der Niedergelassenen, darunter befinden sich Dr. Siegfried Rakette, Dr. Christoph Männel sowie Dr. Oliver Abbushi als Vertreter niedergelassener Ärzte. Dazu die Rettungstransportdienste unter Führung des Kollegen von der Berufsfeuerwehr München, Thomas Huppertz, die leitenden Notärzte, namentlich Dr. Ruth Koeniger und Dr. Stephan Prückner. Schließlich die Ärzte in den Notaufnahmen der Krankenhäuser – hier sind vor allem Professor Christoph Dodt und Wolfgang Gutsch zu nennen – und die Intensivmediziner, vor allem Jan Hesse und Dr. Claus Peckelsen. Dazu haben wir bei den verschiedenen Berufsgruppen zahlreiche Schulungen für die jeweils Verantwortlichen mit extra dafür von uns erarbeitetem Schulungsmaterial durchgeführt. Dieses Projekt wurde damals in München gestartet und dann auf ganz Bayern ausgeweitet.

Was würden Sie persönlich niedergelassenen Ärzten raten, die sich unsicher sind, was sie bei einem Sepsis-Verdacht aktuell tun sollen?

Ich persönlich würde die alten SIRS-Kriterien für den Notdienst nicht komplett über Bord werfen und sagen: Die taugen gar nichts. In den letzten Jahren konnte man mit diesen Kriterien eine nicht irrelevante Zahl von Patienten mit der Verdachtsdiagnose Sepsis identifizieren, auch wenn man dabei womöglich den einen oder anderen Patienten übersehen hat. QuickSofa und SIRS nutzen im Grunde ähnliche Parameter, auch wenn sich die verwendeten Grenzwerte geringfügig unterscheiden. Eine veränderte Bewusstseinslage eines Patienten sollte man beim Screening jedoch als wichtigen Faktor beachten. Dies ist sicher eher ein Frühsymptom als z.B. Fieber. Gerade von sehr alten Personen weiß man ja, dass sie oft keine Fieberreaktion entwickeln, auch wenn sie eine schwere Sepsis haben. In Sachen Sensitivität sind die SIRS-Kriterien vermutlich im präklinischen Bereich nicht schlechter als die neuen Scores. Doch über diese Meinung muss man wohl erst wieder in einer Arbeitsgruppe diskutieren.

Wie kann es nun weitergehen?

Wenn sich die Experten einig sind, welche Kriterien die besseren sind, ist es sicher sinnvoll, das Thema erneut aufzugreifen, die entsprechenden Unterlagen zu aktualisieren und die Gelegenheit zu nutzen, das Thema Sepsis erneut ins Bewusstsein aller Beteiligten zu rücken. Ob hier der ÄKBV wieder die koordinierende Rolle übernimmt, oder ob dies eine andere Organisation tut, wird sich zeigen.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler