Leitartikel

Selbstorganisation im Krankenhaus, Arbeiten, wie es uns gefällt

Chefärztin, Pflegedienstleitung, Stationsleitung – aus den meisten Krankenhäusern ist diese vorgegebene Struktur kaum wegzudenken. Nicht so beim Projekt „meine Station“ am Klinikum Aschaffenburg-Alzenau: Seit einem Jahr organisiert sich die Station selbst. Die MÄA sprachen darüber mit Pflegekraft Stefanie Schwinger.
Selbstorganisation im Krankenhaus, Arbeiten, wie es uns gefällt
Selbstorganisation im Krankenhaus, Arbeiten, wie es uns gefällt

Foto: Shutterstock

Frau Schwinger, was ist „meine Station“ und wie sind Sie auf dieses Projekt gekommen?

Wir sind eine allgemein- und viszeral-chirurgische Station mit 20 Betten und haben viele onkologische Patient*innen mit Tumor-Operationen. Ursprünglich dachten wir, wir hätten vor allem elektive Patient*innen. Nach der Auswertung eines Jahrs wissen wir nun, dass wir etwa gleich viele elektive wie Akutpatient*innen haben. Die ursprüngliche Idee zum Projekt „meine Station“ kam von unserem Chefarzt, Prof. Dr. Hubertus Schmitz-Winnenthal. Er hatte sich schon länger mit dem Thema Selbstorganisation beschäftigt und wollte die Patientenversorgung so gestalten, dass auch die Ausführenden damit zufrieden sind und sich wohl fühlen. Daraufhin hat er eine Ausbildung zum Loop Fellow gemacht und angefangen, Menschen um sich zu scharen, die seine Vision teilen. Loop ist ein System, um Teams in einem Transformationsprozess zu mehr Selbstorganisation zu bringen.

Können Sie dies genauer beschreiben?

Beim Loop Approach werden in drei Modulen sieben „Tugenden“ vermittelt. Darin geht es um Klarheit (klare Ausrichtung, gut genutzte Potentiale, verteilte Verantwortung), gute Ergebnisse (individuelle Effektivität, Effektivität als Team) sowie Evolution als Team (Anpassungsfähigkeit sowie Feedback- und Konfliktkompetenz). Die Tugenden tragen dazu bei, sich effektiv selbst zu organisieren, aber auch Spannungen zwischen Menschen oder verschiedenen Positionen zu lösen. In Schulungen erhält man feste Werkzeuge, um eine eigene Struktur zu bilden und einzuhalten. Häufig ist es ja so, dass man z.B. eine Idee zu einer Veränderung hat, der nächste Schritt geht aber im Stationsalltag wieder verloren. Früher hatten wir oft dreistündige Meetings, nach denen wir alle genauso schlau waren wie vorher. Jetzt haben wir festgelegte Meetingformate und Regeln, an die sich alle halten, die im Konsens mit dem Team beschlossen werden. Es gibt nicht mehr die eine Person, die sagt, wie alles gemacht wird, sondern das Team bestimmt die Regeln selbst. Das Grundgerüst dafür hat uns der Loop-Prozess vorgegeben.

Wie funktioniert die Selbstorganisation?

Wir haben zwar z.B. eine Pflegedienstleitung, aber grundsätzlich organisieren wir uns in der Pflege und der Ärzteschaft selbst. Manche Teammitglieder sind z.B. für den Dienstplan zuständig, andere wiederum kümmern sich um das Qualitätsmanagement oder um die Hygiene. Dazu haben wir geschaut: Was braucht eine Person, um eine Aufgabe auszuführen? Wer hat damit Erfahrung? Wer hat Lust und die Fähigkeiten dazu? Je nachdem haben wir die Menschen in diese Rolle gewählt. Wir wollten die Verantwortung auf mehrere Köpfe verteilen. Unser Dienstplan z.B. wird inzwischen nicht mehr von einer Person, sondern durch das Team erstellt: Jede*r trägt sich dabei zunächst so ein, wie es ihm oder ihr gefällt. Wenn es dann z.B. zu viele Leute im Frühdienst sind, entscheiden die Betroffenen selbst, ob sie vielleicht stattdessen auch einen Spätdienst übernehmen können, damit möglichst wenig Spannungen entstehen.

Ich stelle mir das nicht so einfach vor.

Anfangs gab es natürlich zunächst etwas Chaos, wie immer, wenn man etwas ganz Neues ausprobiert. Aber inzwischen läuft es gut. Wir haben natürlich trotzdem noch Leute, die für den Dienstplan zuständig sind, den Überblick haben und andere darauf ansprechen, wenn an manchen Tagen z.B. noch Spätdienste fehlen. Diese Dienstplanmaster haben den Gesamtüberblick und stellen sicher, dass beim Dienstplan auch alle rechtlichen Belange eingehalten werden. Den Großteil schafft das Team aber inzwischen alleine. Der Dienstplan muss in jedem Fall stehen, und die Patientenversorgung muss gewährleistet sein. Bestimmte Richtlinien im Haus müssen erfüllt werden. Die verantwortliche Person hat immer die Möglichkeit durchzusetzen, dass dies auch geschieht.

Was ist das Ziel, und wie ist dies mit Patientensicherheit vereinbar?

Wir möchten die beste uns mögliche Patientenversorgung garantieren und gleichzeitig unsere eigenen Bedürfnisse berücksichtigen. Zum Beispiel mobilisieren wir unsere Patient*innen möglichst früh nach der Operation, damit sie nicht lange auf Hilfe von Außen angewiesen sind und frühestmöglich wieder den Zustand erreichen, mit dem sie ins Krankenhaus gekommen sind. Wenn der Patient schon zwei bis drei Tage nach der Operation wieder mobil ist und sich komplett selbst versorgen kann, ist das nicht nur optimal für ihn selbst. Es bedeutet auch für mich als Pflegekraft eine deutliche Entlastung. Diese Änderung ist also für alle eine Win-Win-Situation.

Wie erreichen Sie die Mobilisierung bei den Patient*innen?

Wir vereinbaren mit den elektiven Patient*innen schon vor der Aufnahme in die Klinik eine Schulung, bei der wir ihnen zeigen, wie sie post-operativ am besten aufstehen und dabei die Bauchmuskeln entlasten können. Dabei erklären wir ihnen Prophylaxen, etwa Pneumonie-Prophylaxen, und was sie schon zu Hause üben können, solange sie noch keine postoperativen Schmerzen haben. Darauf können wir später gut zurückgreifen.Die Visite findet nicht im Patientenzimmer statt, sondern in einem speziellen Visitenzimmer, damit sich die Patient*innen möglichst viel bewegen. Und in den Sommermonaten holen sich die Patient*innen ihr Essen im Bistro ab. Da wir derzeit Maskenpflicht im Klinikum haben, ist dies aktuell leider nicht möglich. Derzeit nutzen wir das Bistro für die Angehörigen oder für Patient*innen, die dort ihren Geburtstag feiern.

Wie reagieren die Patient*innen darauf?

Manche sind schockiert, wenn sie am Tag nach der Operation schon wieder aufstehen sollen. Wir erklären ihnen aber dann die Vorteile, dass z.B. der Darm früher wieder in Gang kommt. Zur Visite vereinbaren wir mit ihnen Termine, damit niemand schon zwei Stunden früher im Gang sitzen muss. Viele schätzen es, dass bei der Visite kein Nachbarpatient zugegen ist, vor dem sie sich ausziehen müssen. Im Visitenzimmer hat man einen geschützteren Rahmen und kann auch mal alleine mit der Pflegekraft und der Ärztin oder dem Arzt sprechen. Wenn uns Patient*innen aber sagen, dass sie es nach der Körperpflege und dem Frühstück am Tisch einfach nicht mehr schaffen, noch einmal aufzustehen, ist das für uns auch in Ordnung. Auch bei älteren Patient*innen, die schon vor der OP nicht mehr besonders mobil waren, muss man abwägen.

Gibt es noch weitere Änderungen und Besonderheiten?

Zum Beispiel fängt unsere Übergabe morgens mit einem sog. „Check-In“ an, bei dem man auch sagen kann, dass man zum Beispiel sehr schlecht geschlafen hat, weil das eigene Kind wach war. Dadurch weiß man Bescheid, wenn bei jemandem die Nerven gerade blank liegen. Wir alle sind ja auch Menschen und kommen als Menschen zur Arbeit. Außerdem haben wir einen Zwischendienst eingeführt, der mittags die OP-Rückläufer*innen und Intensivaufnahmen versorgt. Früher haben das diejenigen übernommen, die sowieso schon mit der Patientenversorgung beschäftigt waren. Wenn man aber mit der Station beschäftigt ist, ist es schwierig, sich zusätzlich noch um fünf Patient*innen aus dem OP zu kümmern.

Hinter allem steht die Frage: Was brauchst Du, um dieses Problem zu lösen?

Es klingt sehr banal, einen Zwischendienst einzuführen, aber auf einer Station mit einer „normalen Hierarchie“ muss so etwas erst von der Pflegedirektion genehmigt werden. Wir hingegen entscheiden im Team gemeinsam: Macht das für uns Sinn? Und wenn ja, wie müsste es aussehen? Wenn es „safe enough to try“ ist, ist es beschlossen. Das klingt nach einem langen Prozess, geht aber tatsächlich super schnell

Wie läuft es bei den Ärztinnen und Ärzten?

Auch ein Teil von ihnen hat den Loop Prozess mitgemacht und arbeitet damit sogar schon länger als wir. Auch sie haben morgens eine Frühbesprechung im gleichen Format wie wir, und auch sie haben große Team-Meetings. Wir binden sie bei unseren Workshop-Tagen mit ein, damit wir nicht vor uns „hinwurschteln“ und sie nichts davon mitbekommen. Viele Vorschläge kommen direkt von den Ärztinnen und Ärzten. Damit schaffen wir eine Schnittstelle, damit nicht zwei parallele Systeme nebeneinander herlaufen. Veränderungen wie bei der Visite schaffen wir auch nicht alleine.

Wie einfach war es, die Geschäftsführung von diesem neuen Modell zu überzeugen, und wie verlief Ihr Weg zu diesem Modell?

Natürlich war zunächst schon etwas Überzeugungskunst nötig, aber schließlich hat unser Geschäftsführer darin die Möglichkeit gesehen, neues Personal zu gewinnen. Wenn sich die Mitarbeitenden wohlfühlen, kommen sie lieber zur Arbeit und auch andere Probleme werden geringer. Die meisten jetzigen Beschäftigten auf unserer Station kamen aus anderen Krankenhäusern. Im Frühjahr 2022 haben wir mit der Planung begonnen. Im August 2022 gab es einen ersten Workshop, bei dem uns erzählt wurde, was wir uns unter der Selbstorganisation vorstellen können. Nach dem Workshop konnten wir uns entscheiden, ob wir darauf Lust hatten und dann entsprechend in Teamfindungsworkshops starten. Seit Februar 2023 arbeiten wir auf der Station zusammen.

Was waren Ihre größten Herausforderungen?

Das erste halbe Jahr bestand vor allem aus Teamfindung. Wir hatten alle noch nie miteinander gearbeitet. Dieser Prozess ist jetzt abgeschlossen. Es kommen natürlich noch neue Kolleg*innen hinzu, die dann eigene Fähigkeiten und Talente mit ins Team bringen. Eine Herausforderung war die Selbstorganisation: Das ist nichts, was man über Nacht lernt, sondern ein Prozess. Immer wieder stellen wir aber fest: Solange wir in unseren Formaten bleiben, sind wir effizient. Nur wenn wir wieder in alte Muster abdriften, geht diese Effizienz verloren. Wenn wir früher Probleme hatten, blieb uns meist nur, uns darüber zu beschweren. Heute wissen wir: Wenn ich diesen Weg gehe, kann ich eine Lösung finden oder zumindest einen nächsten Schritt festlegen.

Was waren Ihre wichtigsten Lernerfahrungen?

Ich habe im letzten Jahr sehr viel über mich und andere Menschen gelernt. Ich habe gelernt zu reflektieren und Lösungen zu suchen. Auch fachlich habe ich viel gelernt, weil Chirurgie für mich ein neues Fach war. Zudem habe ich kommunikativ dazugelernt. Wir nutzen im Team die gewaltfreie Kommunikation. Dabei geht es darum, zu verstehen, um verstanden zu werden. Das ist zunächst schwierig, weil man dies anders gelernt hat. Gerade in Krankenhäusern ist der Ton ja oft ein bisschen rauer. In der gewaltfreien Kommunikation wird z.B. viel wiederholt. Wir üben dies, indem z.B. eine Kollegin etwas erzählt, und ich wiederhole, was sie gesagt hat. Dabei stellt man oft fest, dass man etwas anderes gehört hat als eigentlich gesagt wurde. Die gewaltfreie Kommunikation funktioniert auch im Dialog mit aufgebrachten Patient*innen gut.

Wie einfach ist es, Rollen nach Talenten zuzuschreiben? Gibt es nicht Aufgaben, die niemand machen möchte?

Darüber haben wir tatsächlich am Anfang gesprochen, weil auch wir diese Befürchtung hatten. Aber diese Situation ist nicht eingetreten. Es gab nie etwas, von dem jemand gesagt hat: Das möchte ich auf keinen Fall machen. Und es kam auch nicht vor, dass 20 Leute das Gleiche machen wollten. Tatsächlich haben die Menschen unterschiedliche Talente und Wünsche. Ich denke, dass die Interessen der Kolleg*innen so breit gefächert sind, dass es keinen Konflikt gab.

Gab es Krisensituationen, in denen Sie sich Ihr altes System zurückgewünscht haben?

Ja, die gab es. Etwas Neues zu schaffen ist immer anstrengend. Aber das waren nur Momentaufnahmen. Danach hat man wieder gesehen, dass man viel mehr Möglichkeiten hat, wenn man selbst mitgestalten kann, als wenn man gerade auf eine Verantwortung keine Lust hat. Wenn ich zurückdenke, wie oft ich auf meiner früheren Station genervt und frustriert war, dann ist das kein Maßstab mehr. Hier kann ich mich einbringen und meine Ideen teilen. “Das geht nicht“ - dieser Satz hat mich in meinem vorherigen Berufsleben immer begleitet. Seit einem Jahr habe ich diesen Satz nicht mehr gehört, denn es gibt für alles eine Lösung. Und wenn man sie selbst nicht findet, kann man die Schwarmintelligenz des Teams zur Lösung nutzen.

 

Stephanie Hügler

MÄA 06/2024 vom 09.03.2024