Leitartikel

Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen - Suizidprävention in der Schule

Psychische Erkrankungen haben ihre Wurzeln häufig schon in Kindheit und Jugend. Wie stark Schüler*innen damit belastet sein können, hat sich in der Pandemie gezeigt. Aktive Prävention betreiben möchte Dr. Joachim Hein mit dem Programm Youth Aware of Mental Health (YAM).
Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen - Suizidprävention in der Schule
Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen - Suizidprävention in der Schule

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Herr Dr. Hein, wie geht es aus Ihrer Sicht derzeit den Schülerinnen und Schülern?

Da wir unser Projekt bei der Mental Health Initiative (MHI) erst im nächsten Schuljahr starten, haben wir noch keinen direkten Kontakt zu ihnen. Ich kann mich daher nur auf Veröffentlichungen und Studien dazu beziehen. Die COPSY-Studie aber zum Beispiel geht von einer deutlichen psychischen Belastung vor allem der jungen Generation durch die Coronapandemie in allen drei Lockdowns aus. Ich denke, diese Daten sind seriös.

Wie sind Sie auf das Programm YAM gekommen?

Die Idee, Prävention bei jungen Menschen anzubieten ist bei mir schon vor Corona gereift. Durch die Pandemie hat das Thema aber eine deutliche Dramatik bekommen. YAM existiert bereits seit über zehn Jahren. In der europaweiten, 2015 im Lancet publizierten SELEY-Studie („Saving and Empowering young lives in Europe“) wurde das Programm in zehn verschiedenen Ländern an über 11.000 Schüler*innen evaluiert. Die Ergebnisse waren hervorragend: Nach zwölf Monaten reduzierten sich Suizidversuche und ausgeprägte Suizidgedanken um 50 Prozent, Neuerkrankungen an Depressionen um 30 Prozent. Diese wissenschaftliche Evidenz hat uns überzeugt. Weil sich Jugendkultur und –sprache immer wieder verändern, wird das Programm ständig angepasst und weiterentwickelt.

Wie funktioniert YAM?

YAM ist ein Gesundheitsförderungs- und Präventionsprogramm für Schüler*innen zwischen 13 und 17 Jahren. Dabei gehen zwei sehr gut geschulte Ehrenamtliche in die Klassen und sprechen dort auf Augenhöhe mit Schüler*innen – in insgesamt fünf Schulstunden an drei verschiedenen Tagen. Zentrale inhaltliche Elemente sind Stress und Krise sowie Depression und Suizidalität. Das Programm ist aber auch flexibel: Die Jugendlichen dürfen die Inhalte mitbestimmen – z.B. Mobbing, Prüfungsstress, Liebeskummer, häusliche Gewalt oder Corona. In Rollenspielen suchen sie Lösungsstrategien für bestimmte Situationen. YAM ist dabei in das lokale Hilfe- und Beratungssystem eingebunden. In der letzten Schulstunde bekommen die Schüler*innen ein Booklet mit den Hilfs- und Beratungsangeboten in München und überregional wie Nummer gegen Kummer usw.

Was für Erfahrungen wurden bis jetzt mit dem Programm gemacht?

Das Programm wurde am schwedischen Karolinska-Institut entwickelt, wird aktuell aber nicht nur in Skandinavien eingesetzt, sondern z.B. auch in Großbritannien, den USA, Australien, Indien, und demnächst in Simbabwe und eben Deutschland. Seit Beginn wurde es in 16 Ländern umgesetzt. Das spricht für seine Flexibilität und dafür, dass eine kulturelle Adaption möglich ist. Weltweit wurden bereits über 85.000 Schüler*innen mit YAM geschult. Wir haben eine sehr gute wissenschaftliche Evidenz: Neben der SELEY-Studie zeigen noch weitere wissenschaftliche Publikationen, dass YAM z.B. die Solidarität unter Jugendlichen stärkt. Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern sind damit sehr zufrieden.

Gibt es YAM auch anderswo in Deutschland?

Nein, wir sind die Ersten hier in München. Dankenswerterweise haben wir eine Förderung durch die AOK Bayern erhalten. Wir planen, YAM zunächst hier zu starten und innerhalb von drei Jahren einen zweiten Standort in Bayern eröffnen. Perspektivisch wünschen wir uns, YAM in allen Regierungsbezirken in Bayern anzubieten. Dazu brauchen wir weitere Förderer. Denn das Programm ist relativ aufwendig und kostenintensiv. Es spart langfristig aber viele Folgekosten von frühen psychischen Erkrankungen. Die Investition zahlt sich also mehr als aus.

Für was benötigen Sie die Gelder?

Seit dem 1. Juli kann unser Kernteam in unserem Münchner Büro arbeiten. Der größte Kostenpunkt ist aktuell die Schulung der Ehrenamtlichen: Im Oktober beginnen wir mit 20 Personen, die anschließend im November an die Münchner Schulen gehen. Das erste Training der Ehrenamtlichen ist bereits ausgebucht. Ebenso die Durchführung von Kursen zum kommenden Schuljahr (2022/23) in den Schulklassen. Anfragen sowohl von Schulen als auch von interessierten Ehrenamtlichen nehmen wir weiterhin gerne an. Mit weiteren Förderungen, etwa seitens der Kommunen, sollte das Programm auch noch an weiteren Schulen möglich sein. Das erste Jahr ist unsere Pilotphase. Wir können und werden natürlich für unser Angebot keine Gebühr von den Schüler*innen erheben. Es wäre aber sehr unterstützend, wenn Schulen das Programm bewerben und ggf. für Spenden aus ihrem Umfeld sorgen.

Welche Voraussetzungen müssen die Ehrenamtlichen mitbringen?

Die beiden Ehrenamtlichen heißen im Englischen „Instructor“ und „Helper“. Wir nennen sie Kursleiter*in und Assistent*in. Bei den Leiter*innen verlangen wir eine relativ hohe Qualifikation, z.B. einen Hintergrund in Pädagogik, Psychologie etc. sowie Erfahrungen in der Jugendarbeit. Bei den Kursassistent*innen, die wir erst im nächsten Jahr schulen werden, sind die Hürden für das Ehrenamt deutlich niedriger. Wir wünschen uns, dass uns die Schulen in der Pilotphase bei der Analyse und kulturellen Adaption unterstützen. Im Gegenzug ist das Programm für die Schulen 2022/23 kostenfrei.

Wie läuft die Schulung der Ehrenamtlichen ab?

Die Schulung dauert eine Woche und findet auf Englisch statt. Dazu fliegen wir vier zertifizierte Trainer*innen aus Skandinavien bzw. dem Rest der Welt ein. Die Materialien liegen mittlerweile alle auf Deutsch vor. Uns ist klar, dass wir mit der Schulung über eine Woche nur ein Fundament legen können. Es wird auf jeden Fall für unsere Ehrenamtlichen Supervisionen und die Möglichkeit geben, sich sehr früh Entlastung bei schwierigen Situationen zu suchen, Stichwort Suizidankündigung. Aus dem internationalen Kontext wissen wir aber, dass solche Fälle bei YAM äußerst selten sind. Der Krisendienst Psychiatrie hat bereits zugesagt, unsere Ehrenamtlichen in solchen seltenen Fällen zu unterstützen. Wir werden mit vielen Münchner Einrichtungen und Organisationen kooperieren und Fortbildungsmodule erstellen, damit sich die Ehrenamtlichen kontinuierlich weiterentwickeln können.

Ist nach den fünf Schulstunden für die betreffenden Klassen noch ein Follow-up geplant?

Die fünf Schulstunden bedeuten für die Kursleiter*innen fünf Stunden Vor- und fünf Stunden Nachbereitung. Im Laufe der Zeit wird sich das durch eine gewisse Routine reduzieren, aber man kann die Schule nicht einfach verlassen und ist dann fertig, sondern muss gut vor- und nachbereiten. Wir werden uns alle im Team mit den Ehrenamtlichen austauschen, um für eine gute Qualität des Programms von Beginn an zu sorgen.

Was können Menschen tun, die sich als Ehrenamtliche bei Ihnen bewerben möchten?

Zwar sind die Plätze für das erste Training bereits ausgebucht, aber es kann immer jemand kurzfristig abspringen. Bei entsprechendem Bedarf und entsprechender Förderung wollen wir natürlich weitere Schulungen für Ehrenamtliche anbieten. Mit einer zweiten Schulung hätten wir bereits vierzig Ehrenamtliche und damit deutlich mehr Möglichkeiten, das Programm umzusetzen. Die Kursassistent*innen werden wir nach den Erfahrungen im Pilotjahr selbst schulen. Wer Lust hat, als Ehrenamtliche*r mitzumachen, kann sich gerne bei uns melden – am besten über die Website.

Was können interessierte Eltern oder Schulen tun?

Wir freuen uns über Anfragen. Wenn wir merken, dass die Wartelisten länger werden, gehen wir gezielt auf weitere Förderer zu. Natürlich freuen wir uns auch, wenn diese uns schon vorher kontaktieren, um den Bedarf zu decken. Ich erwarte eine deutliche Nachfrage – auch weil sich YAM substanziell von anderen Schulprogrammen etwa zur Entstigmatisierung oder zur Begegnung mit Psychiatrieerfahrenen unterscheidet.

Was können Ärztinnen und Ärzte tun?

Ein Medizinstudium wird bei uns selbstverständlich als hervorragen de Qualifikation gewertet. Wir freuen uns über Medizinstudierende, Ärztinnen und Ärzte in Teilzeit oder im Ruhestand. Mediziner*innen bringen alle Qualifikationen mit, die wir uns wünschen – insbesondere, wenn sie bereit sind, den Schüler*innen auf Augenhöhe zu begegnen. Wir freuen uns außerdem über jegliche Form der Empfehlung. Es hat uns sehr geholfen, dass wir im Mai mit dem Bayerischen Innovationspreis Ehrenamt ausgezeichnet wurde. Die Nachfrage ist danach deutlich gestiegen.

Könnte YAM die Auswirkungen von Pandemie und Lockdowns lindern?

Bevor ich das gemeinnützige Unternehmen gegründet habe, habe ich mir dazu viele Gedanken gemacht. YAM ist der erste Baustein, den wir Schüler*innen anbieten. Nach unseren Recherchen werden aktuell in Bayern maximal zehn Prozent der Schüler*innen überhaupt in irgendeiner Form mit dem Thema psychische Gesundheit konfrontiert. Vieles hängt davon ab, wie weit wir YAM in die Fläche bringen. Aktuell kalkulieren wir mit ca. 50 Euro pro Schüler*in. Um alle Schüler*innen zu erreichen, bräuchten wir in München eine halbe Million, in Bayern fünf Millionen Euro pro Jahr. Das klingt nach viel, ist es aber nicht, wenn man bedenkt, dass psychische Erkrankungen in Deutschland jährlich rund 150 Milliarden Euro an Gesundheits- und Folgekosten verursachen.

Wie kann die Politik dazu beitragen, dass künftig weniger Kinder und Jugendliche von psychischen Erkrankungen betroffen sind?

Wir führen Gespräche und merken, dass das Thema zwar bei einzelnen Politiker*innen angekommen ist, aber noch nicht in der Breite. Es gibt Programme, die z.B. versuchen, mehr Schulpsycholog*innen zu etablieren. Bei den Präventionsprogrammen spüren wir von politischer Seite leider noch eine deutliche Zurückhaltung. Idealerweise wünschen wir uns eine Mischfinanzierung durch Krankenkassen, interessierte Kommunen und Spenden von Unternehmen und Privatpersonen am jeweiligen Standort.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 16/17   vom 30.07.2022