Leitartikel

Neue Leitlinie zu Migräne, Gewitter im Kopf

Laut einem landläufigen Vorurteil ist die Migräne nur eine Lappalie. Dabei leiden viele Betroffene daran lebenslang schwer. Eine neue S1-Leitlinie zeigt neue Möglichkeiten der Behandlung. PD Dr. Stefanie Förderreuther war an ihrer Erstellung beteiligt und sprach darüber im Interview mit den MÄA.
Neue Leitlinie zu Migräne, Gewitter im Kopf
Neue Leitlinie zu Migräne, Gewitter im Kopf

Foto: shutterstock

Frau Dr. Förderreuther, was ist in der aktuellen Leitlinie neu?

In der Akuttherapie haben wir neue Substanzen zur Verfügung. Eine davon, das Lasmiditan, ist seit dem 1. März hier in Deutschland erhältlich. Die zweite neue Substanz ist Rimegepant, dessen Besonderheit ist, dass man es sowohl zur Akuttherapie als auch zur Prophylaxe einsetzen kann. Es ist allerdings in Deutschland bislang nur über die internationale Apotheke zu beziehen. Es gibt aber noch viele andere Neuerungen, auch im nichtmedikamentösen Bereich.

Was können die neuen Substanzen?

Das Lasmiditan setzt wie die Triptane am Serotonin-Rezeptor an, führt aber nicht zu einer Konstriktion der Blutgefäße. Daher ist es besonders für solche Patient*innen interessant, die wegen eines hohes Gefäßrisikos, nach einem Herzinfarkt oder Schlaganfall keine Triptane einnehmen dürfen. In den Studien gab es auch bei zwei und mehr vaskulären Risikofaktoren keine vaskulären Komplikationen. Die Substanz hat andere Nebenwirkungen als Triptane. Weil sie zentral im Gehirn wirkt, fühlen sich viele schnell müde oder schwindlig. Weil solche Symptome aber auch bei einer Attacke auftreten können und nach einer Behandlung oft andauern, sind diese Beschwerden manchmal schwer von einer Migräne zu unterscheiden. Nach Einnahme von Lasmiditan darf man gemäß der Zulassung acht Stunden lang nicht Auto fahren und keine gefährlichen Maschinen bedienen. Wegen der bei Migräne eingeschränkten Reaktionsfähigkeit rate ich aber sowieso davon ab, während einer Attacke Auto zu fahren.

Was ist beim Rimegepant zu beachten?

Es gehört zur neuen Substanzklasse der Gepante, die in das CGRP-System eingreifen. CGRP ist ein Schlüsselmolekül bei der Entstehung von Migräneattacken. Es führt zu einer Entzündungsreaktion an den Meningen mit Vasodilatation und Plasmaextravasation und nimmt auch Einfluss auf die Schmerzverarbeitung an den sensorischen Neuronen. Rimegepant hemmt das CGRP und wirkt ähnlich wie die bereits länger existierenden CGRP-Antikörper und CGRP-Rezeptor-Antikörper. Es ist aber ein kleines Molekül, das zentral wirkt und eine viel kürzere Halbwertszeit hat als die Antikörper. Rimegepant ist zur Behandlung der akuten Attacke wirksamer als Plazebo, allerdings ist es in indirekten Vergleichen nicht so effektiv wie ein Triptan. Interessant ist, dass es im Gegensatz zu allen anderen Akutmedikamenten offenbar nicht zu einem medikamenteninduzierten Kopfschmerz und zu einer Chronifizierung der Migräne führt. Denn bei Einnahme alle zwei Tage zeigte sich in Studien bei der episodischen Migräne ein signifikanter Rückgang der Migränetage. Für die chronische Migräne liegen bislang keine Studien vor. Es ist die erste Substanz, die zur Akuttherapie und Prophylaxe der Migräne zugelassen ist. Die Substanz ist in Deutschland noch nicht verfügbar. Sie ist in USA sehr teuer. Wie sie letztlich in Deutschland zum Einsatz kommen wird, wird stark von den Erstattungsregeln abhängen.

Wann empfehlen Sie eine medikamentöse Prophylaxe?

Ab drei Attacken pro Monat. Dieses Angebot ist wichtig, weil Migräne die Lebensqualität erheblich einschränkt und viele Patient*innen sonst durch eine zu häufige Einnahme von Akutmedikation chronifizieren. Grundsätzlich empfehlen wir allen auch eine nichtmedikamentöse Prophylaxe mit Entspannungsübungen und Ausdauersport. Patient*innen können zudem prüfen, ob sie bestimmte Auslöser selbst beeinflussen können. Wer zum Beispiel regelmäßig an den Wochenenden länger schläft und dadurch eine Migräne triggert, könnte sich einen Wecker zur üblichen Zeit stellen und damit der Migräne „vorgaukeln“, es wäre unter der Woche. Danach können viele Betroffene ohne Probleme weiterschlafen.

Welche Rolle spielen Antikörper aktuell?

Zur Prophylaxe gibt es schon lange die unspezifischen Substanzen, wie z.B. Betablocker. Die extra für Migräne entwickelten CGRP-Antikörper sind effektiv, aber sehr teuer. Bei gesetzlich Versicherten mussten wir daher bis vor Kurzem für eine Verordnung nachweisen, dass die Patient*innen auf unspezifische Medikamente entweder nicht ansprechen oder dass sie Kontraindikationen bzw. Unverträglichkeiten haben. Ein Vergleich des Antikörpers Erenumab mit der Substanz Topiramat hat nun aber in einer Studie ergeben, dass Erenumab nicht nur verträglicher ist, sondern auch etwas günstiger wirkt. Für seine Verschreibung müssen wir daher jetzt nur noch eine Vortherapie nachweisen. Für alle anderen Antikörper gibt es noch immer die genannten Regeln.

Für wen kommen Antikörper in Frage?

Zwar können damit grundsätzlich alle Patient*innen behandelt werden. Im Beipackzettel finden sich so gut wie keine Kontraindikationen. Allerdings wird CGRP üblicherweise bei einer Ischämie, also z.B. bei einem Herzinfarkt oder Schlaganfall ausgeschüttet und führt zu einer Vasodilatation. Durch die Antikörper blockieren wir diesen Mechanismus. Obwohl es bislang keine Anzeichen für Sicherheitsbedenken bei Patient*innen mit vaskulärem Risiko gibt, rät die Leitlinie hier zur Vorsicht. CGRP spielt auch eine wichtige Rolle bei der Regulierung des Darmepithels, sodass der Expertenkonsens auch bei Patient*innen mit entzündlichen Darmerkrankungen zu Vorsicht rät. Antikörper sind zwar sehr gut verträglich, aber nur zur Prophylaxe der Migräne geeignet. Man sollte nicht vergessen, dass die herkömmlichen Substanzen zur Prophylaxe ursprünglich zur Behandlung anderer Erkrankungen entwickelt wurden. Deren zusätzliche Indikationen kann man bei Komorbiditäten nützen. Es ist elegant, mit Amitriptylin nicht nur die Migräne, sondern auch eine begleitende Depression mit Schlafstörungen zu behandeln.

Was gibt es in der Leitlinie Neues bei den nichtmedikamentösen Maßnahmen?

Erstmals haben wir Studien zum CEFALY® berücksichtigt – das ist ein Gerät, das den Nervus supraorbitalis transkutan elektrisch stimuliert. Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass die Stimulation in der Attacke die Kopfschmerzen lindert und in einzelnen Fällen die Attacke sogar beendet. Zudem treten bei täglicher Stimulation signifikant weniger Attacken auf. Ich halte das Gerät für eine sehr wertvolle Ergänzung der Therapiemaßnahmen – besonders für sehr schwer betroffene Menschen, die auf Medikamente nicht gut ansprechen oder ungern Medikamente einnehmen möchten, z.B. auch Schwangere. Allerdings kostet es derzeit 379 Euro, die noch nicht von den Krankenkassen übernommen werden. Immerhin kann man es über die Firma erst einmal mieten und testen.

Wie stehen Sie zu Akupunktur?

Es gibt Studien sowohl zur Akuttherapie als auch zur Prophylaxe. Zur Akuttherapie würde ich es nicht empfehlen, weil dies einfach nicht alltagstauglich ist. Die Studien zur Prophylaxe sind leider qualitativ sehr heterogen. Manche zeigen eine Wirkung, andere nicht. Eine Metaanalyse hat einen schwachen Wirkeffekt errechnet. Ich denke, man muss niemandem davon abraten. Meiner persönlichen Meinung nach muss man daran aber auch glauben. Und man muss wissen, dass nicht alle gesetzlichen Kassen die Behandlung bezahlen.

Was für andere Verfahren können Sie empfehlen?

Die Migräne ist multifaktoriell bedingt. Die Therapie muss berücksichtigen, welche individuellen Faktoren eine Rolle spielen und modifizierbar sind. Wenn begleitend psychische Faktoren eine Rolle spielen, müssen sie in der Therapie bedacht werden. Zum Einsatz kommen dann Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie, wie z.B. Stressbewältigungstrainings oder das Erlernen von Techniken zum Abbau von Attackenangst. Viele Migränepatient*innen haben einen hohen Eigenanspruch und versuchen, trotz ihrer Erkrankung so viel zu leisten wie jemand, der nicht z.B. an drei oder vier Arbeitstagen im Monat komplett ausfällt. Für die Patient*innen ist das eine große Belastung. Sie müssen lernen, auch einmal „nein“ zu sagen.

Kann man auf Medikamente auch komplett verzichten?

Behandelt man eine Migräne nicht, kann nichts am Gehirn passieren. Aber man muss die Schmerzen heutzutage eigentlich nicht aushalten. Bei seltenen Attacken kann man Medikamente großzügig einsetzen. Hat jemand aber sehr häufig Migräne, so sollte er mit der Akutmedikation haushalten. Dann ist eine wirkungsvolle Prophylaxe wichtig. Grundsätzlich sind unsere Medikamente zur Akuttherapie und Prophylaxe sicher. Die Häufigkeit bei der Einnahme von Akutmedikation ist entscheidend. Die Dosis macht das Gift. Wir beraten alle individuell und planen das Vorgehen gemeinsam im Gespräch.

Was halten Sie von telemedizinischen Verfahren oder Apps?

Die Telemedizin ist hinsichtlich der Datenlage leider noch nicht so gut untersucht. Apps können ein wertvolles Tool sein, um Patient*innen zu informieren und zu schulen. Einige bieten zum Beispiel Möglichkeiten, ein Entspannungsverfahren zu lernen. Sie ersetzen die ärztliche Behandlung aber nicht. Digitale Kopfschmerzkalender werden gut angenommen und erleichtern zu erkennen, welche Patient*innen ein hohes Risiko für einen chronischen Verlauf oder einen Medikamentenübergebrauch haben, und diese frühzeitig an Fachärzt*innen zu überweisen.

 Wie ist die derzeitige Versorgungslage aus Ihrer Sicht?

Wir von der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) sind damit noch nicht zufrieden. Noch immer bekommen zu wenige Patient*innen Triptane zur Akuttherapie. Auch die Möglichkeiten zur Prophylaxe werden bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Dabei sind Hausärzt*innen mit unspezifischen Substanzen zur Prophylaxe wie Beta-Rezeptoren-Blockern oder Amitriptylin bestens vertraut. Bis der Termin beim Facharzt möglich ist, sollten sie bereits mit einer Prophylaxe beginnen. Ich weiß, dass der Zeitfaktor bei den Hausärzt*innen eine kritische Rolle spielt. Dennoch, das Thema ist wichtig. Den Wenigsten ist bekannt, dass die Migräne bei Unter-50-Jährigen gemäß der Global Burden of Disease Study der häufigste Grund für Disability ist. Rechnen Sie den Ausfall eines Menschen mit regelmäßiger Migräne an drei Tagen im Monat auf Jahrzehnte hoch – das ist eine enorme Last! Weil eine Migräne mit Übelkeit, allgemeiner Reiz-, Licht-und Lärmüberempfindlichkeit typischerweise im Verborgenen stattfindet, wird sie so oft verkannt. Viele denken, man nimmt einfach eine Tablette und macht weiter, aber die Migräne ist mehr als nur Kopfschmerzen!

Was raten Sie Hausärzt*innen bei der Betreuung von Migränepatient*innen?

Die Awareness-Initiative der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft will Hausärzt*innen bei der Behandlung von Kopfschmerzpatient*innen unterstützen und bietet unter www.attacke-kopfschmerzen.de viel Informationsmaterial. Dieses kann auf der Website kostenlos bestellt oder heruntergeladen und den Betroffenen ausgehändigt werden. Damit wollen wir Hausärzt*innen ermöglichen, Betroffene professionell und zeiteffektiv über Migräne und die verschiedenen Therapien zu informieren. Ich hoffe, künftig denken mehr Kolleg*innen daran, bei Patient*innen mit häufigen Migräneattacken eine Prophylaxe zu beginnen, denn das bringt Lebensqualität zurück und beugt Medikamentenübergebrauch und Chronifizierung vor. Wenn eine Prophylaxe nicht funktioniert, sollte man sie zu Neurolog*innen oder Schmerztherapeut*innen überweisen.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 7 vom 25.03.2023