Leitartikel

Neue G-BA-Richtlinie in der Psychiatrie Bürokratie statt Pragmatismus?

Schon vor der Coronapandemie mussten verschiedenste Kliniken wegen Personalmangels Betten abmelden. Immer neue bürokratische Regelungen machen die Versorgung dabei oft noch schwieriger – zum Beispiel die G-BA-Richtlinie „Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik“ (PPP-RL). Ein Gespräch mit Prof. Peter Brieger und Franz Podechtl vom kbo-Isar-Amper-Klinikum in Haar.
Bürokratie

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Herr Prof. Brieger, die Zahl der Menschen mit Depressionen und Angststörungen hat in der Pandemie zugenommen. Was lässt sich dagegen tun?

Brieger: Die gesamtgesellschaftliche und die infektiologische Situation sind Hintergrund für viele Ängste und können insbesondere vulnerable Personen zusätzlich destabilisieren. Natürlich haben Antidepressiva und Psychotherapie auch in dieser Situation einen Effekt, doch sie beseitigen nicht die Ursachen. Der
Zusammenhalt in der Gesellschaft ist nicht mehr so hoch wie zu Anfang der Pandemie. Die Ausnahmesituation dauert einfach zu lange. Die Zunahme der Infektionszahlen macht mir daher aktuell wieder Sorgen. Wir haben unsere Arbeit in den Institutsambulanzen hochgefahren, Behandlung (StäB) (Anm. der Redaktion:
s. MÄA 08/2019). Für viele Menschen ist es einfach besser, daheim behandelt zu werden, und wir setzen diese Angebote ein, wo immer möglich.
Zusätzlich haben wir seit diesem Sommer das neue Angebot einer Post-Covid-Ambulanz. Wir müssen künftig noch mehr auf die Menschen zugehen und mehr
Öffentlichkeitsarbeit machen. 

 

Spüren Sie aktuell, dass Depression und Angst wieder zunehmen?

Brieger: Ja, insbesondere im ambulanten Bereich merken wir das deutlich. Stationär spüren wir auch in den letzten Tagen die Überlastung des somatischen Versorgungsbereichs. Zu Patient*innen im Grenzbereich zwischen Somatik und Psychiatrie kommen immer mehr Anfragen, diese zu übernehmen. Viele können
wir nicht erfüllen, z.B. wenn die somatische Symptomatik im Vordergrund steht. Zudem müssen auch wir die Indikation zur stationären Aufnahme höherschwelliger ansetzen als vor der Pandemie, denn auch wir selbst haben Engpässe durch Krankheit und Überlastung des Personals.

 

Was kann man gegen den durch die Pandemie verstärkten Fachkräftemangel in Medizin und Pflege tun?

Podechtl: Wir müssen zwischen Somatik und Psychiatrie unterscheiden. Natürlich wäre es vermessen, zu behaupten, wir hätten keinen Fachkräftemangel. Durch unsere multiprofessionelle Arbeit haben wir aber viel mehr Möglichkeiten, Aufgaben an andere Berufsgruppen zu verteilen als die Somatik.

Brieger: Bei uns geht es unter anderem auch um die soziale und berufliche Wiedereingliederung, die Aktivierung im Alltag. Joggen wirkt antidepressiv; dafür brauche ich evtl. keine Sporttherapeut*in, wenn ein*e Sozialarbeiter*in genauso gut eine Laufgruppe anführen kann. Und so manche*r Krankenpflegehelfer*in, der oder die vielleicht schon die eigene Mutter gepflegt hat, macht eine super Arbeit in der Gerontopsychiatrie. In diesen Bereichen können wir viel flexibler arbeiten als die Somatik. Die enge Zusammenarbeit im Team mit anderen Berufsgruppen erhöht erfahrungsgemäß auch die Mitarbeiterzufriedenheit.

 

Das klingt doch eigentlich gut.

Podechtl: Eigentlich ja, nur leider gibt es eine neue G-BA-Richtlinie, die PPP-RL, die uns in vielerlei Hinsicht Probleme bereitet. Durch die in §5 und auch §8 der G-BA-Richtlinie festgelegten Berufsgruppen etwa wird die Multiprofessionalität eher eingeschränkt als gefördert. Viele Menschen mit einer gesundheitsaffinen Ausbildung könnten bestimmte Tätigkeiten auf Station gut ausüben und wären gut integrierbar, dürfen das aber durch die neue G-BA-Richtlinie
bald nicht mehr. Wir wünschen uns, dass unsere Multiprofesssionalität erhalten bleibt.

 

Was kritisieren Sie noch an der PPP-RL?

Podechtl: Zum Glück haben wir wegen der Pandemie bei den Sanktionen noch ein Jahr Aufschub bekommen, bevor diese umgesetzt werden. Doch inhaltlich ändert das nichts. Die PPP-RL ist durch ihre vielen Dokumentationspflichten und schwer zu beschaffenden Daten ein Bürokratiemonster. Unsere Mitarbeiter*innen müssten noch mehr dokumentieren, anstatt Zeit am Patienten zu verbringen. Zudem führt die Systematik der Nachweispflichten für die einzelnen Berufsgruppen dazu,
dass kleine wohnortnahe Standorte sehr schwer zu betreiben sind. Dabei versuchen wir seit vielen Jahren, eine gemeindenahe ambulante psychiatrische
Versorgung mit Ambulanzen, Tageskliniken etc. zu schaffen. Wenn eine einzelne Bewegungstherapeutin nur zu zehn Prozent einer Vollzeitkraft in einer kleinen
Tagesklinik beschäftigt ist und dann wegen eines Unfalls drei Wochen ausfällt, können Sie die in der G-BA-Richtlinie vorgegebenen Anwesenheitszeiten nicht mehr nachweisen und laufen in einen Sanktionsmechanismus.

 

Hat ein Mensch in einer Tagesklinik auf dem Land denn kein Recht auf Sport, nur weil ein Sporttherapeut krank geworden ist?

Podechtl: Natürlich, das hat er. Aber auch eine Pflegekraft könnte das vertretungsweise übernehmen. In der G-BA-Richtlinie ist das aber nicht vorgesehen. Genau diese Flexibilität würden wir uns wünschen. Natürlich gibt es zu Recht bestimmte, ausschließlich Ärzt*innen oder Pflegekräften vorbehaltene Tätigkeiten, wie Medikamente verordnen oder verabreichen. Um die geht es hier aber nicht. Der schlimmste Mechanismus in der G-BA-Richtlinie ist aus unserer Sicht die doppelte Bestrafung: Wir können kaum beeinflussen, wie behandlungsbedürftig unsere Patient*innen sind. Wenn wir nach einer erfolgreichen Behandlung am Ende des Quartals aber feststellen, dass wir unsere Patient*innen nach der Richtlinie nicht hätten behandeln dürfen, weil wir das Personal nicht durchgängig hatten – wegen Krankheit, Urlaubs oder allgemeinen Personalmangels– werden wir rückwirkend dafür bestraft. Dass wegen Corona vorläufig die erste Stufe des Sanktionsmechanismus ausgesetzt wurde hilft kaum, denn nach einem Jahr greift gleich die zweite, die wesentlich schärfer ist.

 

Was wäre die Alternative?

Podechtl: Die G-BA-Richtlinie hat an und für sich eine gute Intention, nämlich durch bessere Verfügbarkeit von Personal auf den Stationen mehr Zeit für die Patient*innen zu schaffen und so eine gute Versorgung zu garantieren. Sie müsste aber praxisorientierter werden. Das dogmatische Festhalten an Minutenwerten und Berufsgruppen müsste überarbeitet werden. So wie es jetzt vorgesehen ist, ist es nicht praktikabel.

Was könnte man tun, um den Mangel insbesondere an gut qualifizierten Pflegekräften zu beheben? Braucht es nicht einen gewissen Druck, damit die Einrichtungen
handeln?

Podechtl: Wir sind schon sehr transparent. Seit dem Jahr 2016 müssen wir gegenüber den Kostenträgern detailliert nachweisen, wie viele medizinische und therapeutische Mitarbeiter*innen wir beschäftigen. Nur für diese bekommen wir Geld. Wer die Bilanzen der Krankenhäuser und die Bundespflegesatzverordnung
lesen kann, sieht: Bei den Krankenhäusern ist die Luft raus. Wir als Einrichtung von kbo sind gemeinnützig und ein guter Arbeitgeber. Schon immer haben wir dafür gesorgt, dass unser Personal wergeschätzt, gefördert und im tariflichen Rahmen adäquat bezahlt wird. Alles, was wir erwirtschaften, investieren wir wieder.
Zwar gibt es bestimmt auch in der Psychiatrie schwarze Schafe, die Gewinne an Stakeholder ausschütten. Auf kommunale Träger und die bayerischen Bezirke, die die Pflichtversorgung hier übernehmen, trifft das aber nicht zu.

 

Trotzdem ist das Problem Personalmangel ja da. Was könnte man tun?

Podechtl: Es ist schwer, kurzfristig Pflegekräfte zu finden, die es auf dem Markt einfach nicht gibt. Wir können nur durch die Steuerung von Belegung durch Vermeidung und Verkürzung von stationären Aufenthalten und Ausbau der Angebote in der ambulanten und Stationsäquivalenten Versorgung helfen. Auch wir
mussten und müssen aufgrund rechtlicher Vorgaben planbare Behandlungen verschieben und ggf. Einheiten zeitweise schließen, um das für die Coronaversorgung notwendige Personal umsteuern zu können. Wir stellen ein, wo es geht, nutzen Leiharbeit oder Honorarkräfte oder Dienstleister. Aus unserer eigenen Berufsfachschule für Krankenpflege und –pflegehilfe übernehmen wir in guten Jahren um die 85 Prozent der Absolvent*innen. Für die Zukunft braucht es aber
noch andere Mechanismen und Werkzeuge: Wenn die Babyboomer ab 2025 in Rente gehen, werden massiv Pflegekräfte fehlen. Daher brauchen wir weiterhin so viele Mitarbeiter*innen wie möglich, aber auch mehr alternative Versorgungsformen, die mit weniger Personal zu betreiben sind. Schon jetzt behandeln
wir dreimal so viele Patient*innen ambulant wie stationär, stärken massiv die teilstationäre und Stationsäquivalente Versorgung. Es braucht viele verschiedene Lösungsansätze.

Brieger: Ambulante Versorgung funktioniert dann, wenn sie flexibel, bedarfsorientiert und aufsuchend ist. Wir haben eine alternde Gesellschaft. Wer als älterer, kranker Mensch im Hasenbergl im dritten Stock wohnt, kommt nicht so einfach zu einem MVZ in die Maxvorstadt und wird vielleicht allein deshalb in ein Krankenhaus eingewiesen. Die Wartezeiten auf einen Platz in den Tageskliniken müssen deutlich kürzer werden. Wenn ich sechs Wochen auf einen Platz warten muss, ist das akute Problem oft schon chronifiziert. Auch dass viele Niedergelassene keine Patient*innen mehr annehmen, entlastet die Krankenhäuser nicht. Und wie viele Niedergelassene können noch Hausbesuche machen? Hinzu kommt unser schwer verständliches Versorgungssystem: Die „Patient Journey“, bis man herausfindet, wer einem wobei hilft, dauert oft zu lang. Dadurch entstehen unnötig Frustration, es befördert die Chronifizierung und zusätzliche Kosten. 

Podechtl: Hinzu kommen die wenig durchlässigen Sektorengrenzen. Oft wäre es hilfreich, Patient*innen nur für ein paar Tage während einer Krise stationär zu behandeln und sie dann wieder in die ambulante Versorgung zu entlassen. Wenn Sie aber sehen, wie viele bürokratische Hürden das multiprofessionelle Team
auf Station dabei jedes Mal überwinden müssen – ein Buch schreibt man schneller. Es gibt im Patientenmanagement zu viele bürokratische Hürden, die die Durchlässigkeit des Versorgungssystems und damit die Qualität der Versorgung behindern.

 

Wie werden Sie als psychiatrisches Krankenhaus auf die erneute Verschärfung der Pandemie reagieren?

Brieger: Zum Glück hatten wir auch schon vor der Pandemie klare und eindeutige Regelungen zur Hygiene und eine ausreichend große und qualifizierte Hygieneabteilung. Für uns ist die Prävention zentral. Ansonsten kontrollieren wir weiterhin die Einhaltung der AHA-L Regeln penibel, müssen leider bereits wieder
alle Aktivitäten, die mit viel persönlichem Austausch über Stationen hinweg einhergehen, einschränken. Wir prüfen Besucher*innen, Dienstleister etc. sehr genau. Ganz wichtig ist heute und künftig die enge Abstimmung mit den anderen, somatischen Kliniken. Die Vernetzung und kollegiale Zusammenarbeit dort und mit den Ärztlichen Leiter*innen der Führungsgruppe Katastrophenschutz helfen uns sehr.

 

Das Gespräch führte Stephanie Hügler