Leitartikel

Multimodale Schmerztherapie

Wenn Schmerz chronifziert, hat daran häufig die Psyche einen großen Anteil. Was man dagegen tun kann, schildert der am Isar-Amper-Klinikum München-Ost tätige Neurologe und Schmerztherapeut Prof. Dr. Martin Marziniak.
Multimodale Schmerztherapie
Multimodale Schmerztherapie: Schmerz und Psyche

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Herr Prof. Marziniak, warum befassen Sie sich als Neurologe am Isar-Amper-Klinikum München-Ost mit dem Thema Schmerz?

Schmerzen sind eine der Hauptursachen, die unsere Lebensqualität nachhaltig negativ beeinflussen. In der Neurologie haben wir viel mit neuropathischen Schmerzen, Rückenschmerzen oder Migräne zu tun. Von meiner Vita her habe ich zum Thema Schmerz promoviert, mich dazu auch habilitiert und Forschung betrieben und die Zusatzweiterbildung Spezielle Schmerztherapie erworben. Die internationale Schmerzorganisation IASP definiert Schmerz als „ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird." Die Definition zeigt schon, dass Schmerz sehr schwierig zu objektivieren ist. Die subjektive, psychische Komponente spielt beim Schmerz eine große Rolle. Trotz des gleichen Befunds kann der Eine ihn kaum aushalten, während ihn ein Anderer relativ leicht wegsteckt.

Welches Angebot gibt es am Isar-Amper-Klinikum in Haar für Schmerzpatienten?

Seit 2005 verfügen wir über acht Betten für eine multimodale stationäre Schmerztherapie, die an die Neurologische Klinik angegliedert ist. Dort behandeln wir Patienten mit Rückenschmerzen, aber auch mit Schmerzen somatischen und psychischen Ursprungs, im ICD10 klassifiziert als F45.41. Als Ärzte sind verschiedene Fachbereiche, darunter Anästhesisten, Internisten, Radiologen, Neurologen und Psychiater sowie die Schmerzpsychologen eingebunden. Hinzu kommen viele andere Berufsgruppen. Neben Pflegekräften und Mitarbeitern des Sozialdiensts sind dies z.B. Logopäden, Physio-, Ergo-, Kunst- und Musiktherapeuten und Masseure.

Welche Erkrankungen oder Diagnosen spielen in Ihrem Haus eine Rolle?

Wir bieten eine stationäre Therapie – das unterscheidet uns von vielen teilstationären und ambulanten Angeboten, bei denen die Patienten zu Hause schlafen. Zu uns kommen vor allem Patienten, die sich prinzipiell noch gut selbst versorgen können, für die aber der Abstand zu dem häuslichen Umfeld für die Dauer der Therapie hilfreich ist. Dazu zählen Patienten mit chronischen Rücken- oder Gelenkschmerzen, Ganzkörperschmerzen oder Fibromyalgie, chronischen Kopf-, Gesichts- und Bauchschmerzen, neuropathischen Schmerzen, aber auch Patienten mit Phantomschmerzen, Schmerzen als Folge einer Tumorerkrankung oder bedingt durch andere neurologische Erkrankungen.

Behandeln Sie auch Patienten mit MS oder nach Schlaganfall?

Auch diese Patienten können an der multimodalen Schmerztherapie teilnehmen, z.B. MS-Patienten mit einem ambulant-therapieresistenten Restless-Legs-Syndrom oder Schmerzen aufgrund der Spastik.Patienten, die sehr pflegebedürftig sind, mit Pflegegrad 3 und aufwärts, nehmen wir in der Regel auf der Normalstation der Neurologie auf. Auch Patienten, die wegen einer Spastik mit Botulinumtoxin oder Baclofen eingestellt werden müssen, therapieren wir meist außerhalb des Programms der multimodalen Schmerztherapie ambulant. Patienten, die mit ihrem Rollstuhl gut mobil sind, können wir hingegen auch zur multimodalen stationären Behandlung aufnehmen.

Inwiefern spielen psychische Komponenten eine Rolle?

Viele unserer Patienten haben zusätzlich eine depressive Störung. Was dabei Henne ist, und was Ei, ist oft leider schwer zu definieren: War erst der chronische Schmerz da und dann die Depression oder anders herum? Mit der multimodalen Behandlung möchten wir erreichen, dass die Patienten wieder selbstständig und aktiv werden. Einige Patienten verlassen wegen ihrer Schmerzen ja kaum noch das Haus und ziehen sich sozial zurück. Genau das möchten wir aufbrechen. Aus unseren Gruppenstrukturen entwickelt sich häufig eine tolle Dynamik, bei der die Menschen gemeinsam an sich arbeiten und trainieren. Viele spielen abends auch zusammen Karten, gehen aus oder setzen sich im Sommer vor die Tür. Solche Interaktionen fördern wir.

Wie wirken Sie therapeutisch auf die Psyche ein?

Mit Modulation und Ablenkung kann man viel erreichen. Wir kennen das ja alle: An einem Abend sitzen wir zu Hause, langweilen uns und bekommen Rückenschmerzen. Ein anderes Mal sind wir mit Freunden im Kino verabredet und spüren überhaupt keine Schmerzen, weil wir uns gemeinsam einen spannenden Film ansehen. Das ist unsere Chance als Therapeuten: dass wir den Schmerz durch eine Fokussierung auf anderes modifizieren können. In dem Programm der multimodalen Schmerztherapie lernen die Patienten auch durch Entspannungstechniken, aber auch dosierte Aktivität, wieder besser auf Ihren Körper zu hören.

Wie lange ist die durchschnittliche Verweildauer, und was sind die wichtigsten Pfeiler der Behandlung?

Wir haben ein festes Gruppenangebot. Die Gruppen beginnen Montag morgens in der ersten Woche und gehen bis zum Freitag der Woche drei – die Behandlung dauert also zwei Wochen und fünf Tage. Multimodal ist sie deshalb, weil wir viele verschiedene Behandlungsoptionen einbeziehen, also z.B. Bewegungstherapie mit medizinischer Trainingstherapie, Nordic Walking oder Yoga sowie Entspannungstechniken wie Progressive Muskelrelaxation nach Jakobson. Hinzu kommen psychologische und ärztliche Einzelgespräche und Patientengruppen. In den Gruppen geht es zum Einen um Psychoedukation: Was bewirken Schmerzmedikamente? Wie entstehen chronische Schmerzen? Was ist der ursprüngliche Sinn der Schmerzen, der irgendwann sinnlos wird? Zum Anderen gibt es psychologisch geleitete Schmerzbewältigungsgruppen. Neben der medikamentösen Schmerztherapie helfen auch unser Bewegungsbad, Massage und Fango, in ausgewählten Fällen auch Akupunktur.

Was passiert nach der Entlassung?

Nach der zweiten Woche prüfen wir, wie es weitergehen kann. Die meisten Patienten gehen wieder nach Hause. Manche leiden aber weiterhin an psychiatrischen/psychosomatischen Erkrankungen, die sich nachteilig auf den Schmerz auswirken. Diese Patienten haben die Möglichkeit, bei uns z.B. in der Klinik für Psychosomatik oder auf einer Depressionsstation weiter behandelt zu werden. Es gibt auch Patienten, die regelmäßig alle paar Jahre zu uns kommen. Sie stehen häufig im Arbeitsleben, nehmen sich aber diese Zeit, um mit ihrem Schmerz besser leben und arbeiten zu können.

Gibt es Studien zur Wirksamkeit einer multimodalen Schmerztherapie?

Die gibt es natürlich. Die multimodale Schmerztherapie gilt aktuell als eine sehr effektive, nicht invasive Behandlungsform für chronische Schmerzen. Schmerz ist aber sehr facettenreich. Wir haben zum Beispiel immer wieder Patienten mit gravierenden, im Alltag schwer zu lösenden Problemen, für die der Schmerz auch ein Ventil sein kann, weil sie ihre Probleme nicht anders adressieren oder lösen können. Ich denke zum Beispiel an eine Patientin mit Migrationshintergrund, deren Mann ihr nicht erlaubte, sich in die hiesige Gesellschaft zu integrieren. Weil sich der Konflikt aus ihrer Sicht nicht lösen ließ, unterhielt diese Problematik zusätzlich ihre chronischen Kopfschmerzen. Solche Patienten begleiten wir psychologisch, damit sie sich schließlich eigene Ziele zu setzen und diese umsetzen. Dieser Patientin geht es nun deutlich besser und sie nimmt an ambulanten Gruppen und tagesklinischen begleitenden Angeboten in der Klinik für Psychiatrie teil. Nicht immer, aber immer wieder, haben wir damit Erfolg: Vor Kurzem hatten wir zum Beispiel eine Patientin, die vor vielen Jahren in der Türkei gern schwimmen gegangen ist, aber aus Scham hier in Deutschland nie ein Schwimmbad betreten hat. In unserem Bewegungsbad war sie vom Schwimmen so begeistert, dass sie künftig weiter schwimmen gehen möchte. In München gibt es mittlerweile ja einige Schwimmbäder, die Badezeiten nur für Frauen anbieten. Indem wir Patienten helfen umzudenken, erreichen wir viel mehr, als wenn wir nur ein Schmerzmedikament verabreichen. Die Patienten haben mehr Lebensfreude, schlafen besser, und dadurch bessern sich zusätzlich ihre Schmerzen.

Gibt es so etwas wie eine Heilungsquote bzw. konkrete Zahlen?

Eine Schmerzreduktion auf der visuellen analogen Schmerzskala (0-10) von 50 Prozent zählt als Therapieerfolg. Ob und wie sehr die Schmerzen besser werden hängt aber stark von den Patienten ab. Bei Patienten, die hoch chronifiziert sind, stehen die Chancen natürlich schlechter als bei solchen, die erst vergleichsweise kurz unter ihren Schmerzen leiden. Vor Kurzem hatten wir einen Patienten mit langjährig chronischen Kopfschmerzen, der jeden Tag Schmerzmedikamente genommen hat. Jetzt, nach dem konsequenten Entzug der Schmerzmittel, hat er bereits nach zehn Tagen deutlich weniger Kopfschmerztage. Ich bin überzeugt, dass er nach weiteren zehn Tagen seine Migräne zwar nicht ganz los sein wird, aber deutlich mehr Lebensqualität hat. Denn hier hat der Medikamentenübergebrauch den täglichen Kopfschmerz getriggert.

Was sollten Kollegen beachten, die Patienten zu Ihnen überweisen möchten?

Die Patienten sollten bereits ambulante Behandlungsoptionen durchlaufen haben. Sie sollten eine chronische Schmerzerkrankung haben, die über sechs Monate hinweg kontinuierlich besteht. Die Schmerzen müssen nicht täglich auftreten - eine Migräne mit 20 oder 25 Kopfschmerztagen im Monat zählt auch schon als kontinuierliche Schmerzerkrankung. Zudem müssen die Patienten bereit sein, das Angebot in stationärer Form wahrzunehmen. Eine normale stationäre Einweisung reicht aus.

Gibt es Wartezeiten?

Ja, aber sie sind relativ kurz. Vor der Aufnahme gibt es immer ein Vorgespräch (prästationäres Assessment) mit einem Arzt oder einem Psychologen – abhängig davon, wie eindeutig die Diagnose ist. In der Regel können wir dafür innerhalb von drei bis sechs Wochen einen Termin anbieten, wenn es ein Notfall ist auch innerhalb einer Woche auf der neurologischen Normalstation.

Gibt es etwas, das Sie sich von Ihren ärztlichen Kollegen wünschen?

Ja, eine gute konservative Schmerztherapie sollte aus unserer Sicht stets der erste Schritt sein, bevor man zum Messer greift. Wir sehen häufig Patienten, die beispielsweise nach einem Bandscheibenvorfall zu früh operiert wurden, weil dies in den 1990er Jahren so üblich war.Heute wissen wir aber, dass das Outcome bei solchen Patienten nach fünf Jahren konservativer Behandlung mit Physiotherapie genauso gut ist wie nach einer OP. Zwar erreicht man durch eine OP oft schneller Schmerzfreiheit, aber häufig bekommen operierte Patienten nach einer Versteifungsoperation später erneute Probleme.

Wie profitieren die Patienten für ihr Leben nach dem Aufenthalt?

Das Leben nach dem Aufenthalt ist sehr wichtig: Wir möchten eine Eigenverantwortlichkeit schaffen und die Patienten dazu motivieren, aus ihrem Tief herauszukommen. Wenn wir eine Patientin, die wegen ihrer Schmerzen das Haus nicht mehr verlässt, dazu zu bringen, nach der Rückkehr wenigstens einmal am Tag außer Haus zu gehen, ist das schon ein Erfolg. Um solche Erfolge zu erzielen, beziehen wir in der zweiten und dritten Woche häufig die Familie mit ein oder suchen Angebote aus der Nachbarschaft heraus.Wir melden die Patienten aber nirgendwo telefonisch an. Der letzte Schritt muss stets vom Patienten kommen.