Leitartikel

Mit Daten gegen Long Covid - Der steile Weg zur Gesundheit

Noch weiß die Wissenschaft zu wenig über mögliche langfristige Folgen von Covid-19-Erkrankungen. Ein Münchner Familienunternehmen hat nun die digitale Plattform Health4Future zu Long Covid entwickelt. Sie soll Betroffenen und Ärzt*innen mithilfe einer groß angelegten Datenanalyse helfen.
Mit Daten gegen Long Covid - Der steile Weg zur Gesundheit
Mit Daten gegen Long Covid - Der steile Weg zur Gesundheit

Foto: shutterstock

Frau Poetis, wer hat Health4Future gegründet und warum?

Meine Schwester Penelope und ich haben das Unternehmen gemeinsam gegründet. Als Soziologin hatte ich mich in meiner Forschung stark mit digitalen Plattformen beschäftigt und später die Entwicklung medizinischer Apps begleitet. Schon früh haben wir gesehen, dass die Pandemie wahrscheinlich längerfristige Folgen haben würde – für Betroffene wie auch für Ärzt*innen und Pflegekräfte. Wir wollten helfen, die Foto: Shutterstock Prozesse im Gesundheitswesen mit digitaler Unterstützung so zu optimieren, dass sich Ärzt*innen auf ihre Hauptarbeit konzentrieren können. In den letzten 2,5 Jahren ist daraus das Projekt Health4Future entstanden. Der Auslöser für unsere Gründung war die erste Studie in Wuhan im Oktober 2020, bei der ca. 2.000 Personen zu Beginn der Hospitalisierung befragt wurden. Sechs Monate später waren Hunderte verstorben, nicht mehr auffindbar oder hatten schwerwiegende Folgeschäden.

Wer arbeitet mit?

Wir sind ein sehr interdisziplinäres Team aus Wissenschaftlerinnen und Strategen, aber auch interdisziplinären Fachärzt*innen. Dazu zählen Hausärzte und Internistinnen genauso wie Neurologinnen, Kardiologen, Pneumologinnen und Gynäkologen. Gleichzeitig arbeiten wir mit Prof. Göran Kauermann und Dr. Ursula Berger vom Institut für Statistik und Institut für medizinische Informationsverarbeitung und Epidemiologie an der LMU zusammen. Sie helfen uns, die richtigen Fragestellungen zu finden, die Daten zu validieren und sie für die Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Uns ist wissenschaftliche Evidenz sehr wichtig. Unsere Daten müssen sauber erhoben sein, damit wir anhand dessen Ursachenforschung betreiben und Therapiekonzepte entwickeln können.

Wie kamen Sie darauf, einen eigenen Fragebogen zu entwickeln?

Wir müssen wissen: Was für Long-Covid-Symptome gibt es? Alle Betroffenen – wir nennen sie „Heroes“ – können im Fragebogen ihre Symptome benennen. Die Schwere der derzeit bekannten 26 Symptome stufen die Heroes auf einer Likert-Skala von 1 bis 5 ein. Weitere Informationen können sie in Textfelde hinzufügen. Den Fragebogen möchten wir im Austausch mit unseren Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen immer weiterentwickeln, denn über manche Symptome wissen wir wahrscheinlich noch nicht genügend – zum Beispiel über Hormon- und Zyklusänderungen bei Frauen.

Was für Fragen stellen Sie beispielsweise?

Wir erheben einige medizinische Basisdaten wie Größe und Gewicht, aus denen wir beispielsweise den BMI errechnen können. Zudem fragen wir ganz genau, wann die Coronaerkrankung war, wie sie verlaufen ist, wann die Betroffenen ggf. geimpft wurden und wann die Long-Covid-Symptome hinzukamen. Auch bei möglichen Vorerkrankungen gehen wir stark ins Detail. Wir möchten wissen: Welche Vorerkrankungen, welches Alter und welches Geschlecht haben die Betroffenen? Haben sie „nur“ Probleme mit dem Geruchs- und Geschmackssinn, oder gibt es weitere organische Symptome?

Wie viele Menschen haben den Fragebogen bereits ausgefüllt?

Stand heute (Anmerkung der Redaktion: 27. Juni) sind es fast 5.700. Das ist für deutsche Verhältnisse großartig. International stammen viele Studien derzeit aus den USA und Großbritannien. Wir hier in Deutschland hinken leider noch sehr hinterher. Die erhobenen Daten analysieren wir anschließend selbst, stellen sie aber auch wissenschaftlichen Institutionen wie der LMU, Kliniken und Praxen zur Verfügung. Wir möchten, dass mit ihrer Hilfe Fragen von Betroffenen beantwortet werden können.

 Wie repräsentativ sind die Daten?

 Noch haben wir einen kleinen Bias beim Alter, weil wir derzeit noch ausschließlich digital arbeiten. Schließlich haben wir zunächst alles eigenfinanziert. Um auf unser Projekt aufmerksam zu machen, nutzen wir sehr aktiv Social Media und unsere „Botschafter“, die auf ihren eigenen Social-Media-Kanälen von Health4Future berichten. Damit sprechen wir natürlich vor allem jüngere Menschen an. Mittlerweile können Praxen, Kliniken und Apotheken unsere Flyer aber auch von unserer Website downloaden, ausdrucken und bei sich auslegen. Seither beteiligen sich zunehmend auch ältere Menschen. Wir möchten alle erreichen, die dieses Thema betrifft.

Was sind Ihre ersten Erkenntnisse aus der Datenanalyse?

Leider betrifft Long Covid offenbar besonders Frauen, gerade auch jüngere zwischen 30 und 40 Jahren. Viele leiden schon sehr lange daran. Dass die Symptome meistens nach sechs oder sieben Wochen wieder verschwinden, können wir nicht bestätigen. Manche haben bereits seit den ersten Coronawellen Symptome und einen regelrechten Ärztemarathon hinter sich. Einige fühlen sich nicht ernstgenommen. Viele stellen fest, dass ihre Ärzt*innen völlig ratlos sind. Daher unterstützen wir auch Haus- und Fachärzt*innen. Wir möchten dazu beitragen, dass Long Covid als somatische Krankheit anerkannt wird, denn es betrifft nicht nur die Psyche. Es erkranken nicht nur depressive Menschen, die durch einen langen Lockdown gestresst sind. Es gibt organische Ursachen, und wir müssen herausfinden, welche das sind.

Inwiefern decken sich Ihre Erkenntnisse mit bisherigen anderen Studien?

Dass Frauen häufiger von Long Covid betroffen sind und dass es wahrscheinlich eine organische Ursache hat, geht auch aus anderen ersten Studien hervor. Neu bei uns ist, dass wir sehr viele Menschen befragen und dass sich daraus ein holistisches Bild ergibt. Viele andere Studien konzentrieren sich z.B. aufs Herz oder aufs Blut. Wir verfolgen einen anderen wissenschaftlichen Ansatz, sind aber hinsichtlich der Ergebnisse nicht weit von bisherigen Studien entfernt.

Man kann manchmal den Eindruck gewinnen, dass Long Covid eine Modediagnose geworden ist, wenn Menschen sich schlecht fühlen.

Deshalb fragen wir sehr viele konkrete Daten bis ins Detail ab. Wir fragen nicht: Wie fühlst Du Dich heute?, sondern: Wann hattest Du Corona? Wie verlief die Erkrankung? Was sind Deine heutigen Symptome? Interessanterweise gibt es nur wenige, die auf der Skala von 1 bis 5 immer nur 5 anklicken. Den Fragebogen auszufüllen dauert außerdem fast 40 Minuten. Jemand, dem gerade nur langweilig ist, wird dies wahrscheinlich nicht tun. Wir sehen eher, dass viele Menschen krank sind, schon lange, und dass sie Hilfe brauchen. Zur genaueren Analyse und Qualitätssicherung haben wir außerdem eine zweite Säule entwickelt, die Helping Hour: In einem ersten Gespräch zwischen Betroffenen, Ärzt*innen und uns sehen wir: Gab es bestimmte Symptome schon vor der Erkrankung? Wie zeigt sich das Unwohlsein im Gespräch? So können wir oft schon früh klären, ob unsere Gesprächspartner*innen nur erschöpft sind oder Aufmerksamkeit brauchen oder ob sie wirklich Symptome haben. Nach sechs Monaten fragen wir die Symptome außerdem anhand eines zweiten Fragebogens erneut ab. So können wir den Prozess der Erkrankung verfolgen.

Wie sicher sind Ihre Daten?

Wir haben sie nach bestem Wissen und Gewissen so sicher wie möglich gemacht. Unsere komplette Serverstruktur liegt in Deutschland und wurde extra für diesen Zweck aufgebaut. Unsere Datenbankspezialistinnen und Programmierer arbeiten seit Jahrzehnten in diesem Bereich. Auch unsere Anwält*innen haben diese Struktur lange geprüft, weshalb wir auch erst im Januar 2022 online gegangen sind.

Was haben die Menschen davon, dass sie 40 Minuten lang Ihren Fragebogen ausfüllen?

Unsere Hauptziele sind eine individuelle Handlungsempfehlung, Therapie und schließlich Heilung für jede*n einzelne*n Betroffene*n. Um dahin zu gelangen, müssen wir bei dieser sehr neuen Krankheit mit der Datensammlung anfangen. Da diese komplett anonymisiert ist, wird jede Person geschützt. Anschließend begleiten wir die Menschen in einzelnen Schritten bei der Therapieentwicklung. Nach der Symptomanalyse und der Helping Hour wird geklärt, welche Untersuchungen vielleicht noch fehlen, die wir aus der S1-Leitlinie schon kennen. Wir unterstützen die Menschen auch bei der Symptomlinderung, soweit wir dazu schon etwas wissen. Bei Einbußen beim Geruchs- und Geschmackssinn empfehlen wir bestimmte Riechtrainings, bei pneumologischen Problemen Coaches für Atemübungen, bei Wortfindungs- und Konzentrationsstörungen haben wir Videos dazu online gestellt. Wir sprechen auch intensiv mit den Krankenkassen, damit Behandlungen beziffert und schließlich von ihnen übernommen werden. Mit unseren Heroes können wir täglich kommunizieren – über Social Media, Mails oder Nachrichten direkt über die Plattform – damit, jede*r weiß, was gerade geschieht.

Erhält jede*r einzelne Betroffene ein Gespräch?

Das ist der Plan. Wir haben zur Zeit noch nicht genügend Ärztinnen und Ärzte und befinden uns noch in der Testphase. Dabei haben wir zunächst mit den schwersten Fällen angefangen. Wir werden das jedoch konsekutiv ausbauen, damit am Ende wirklich jede*r die Helping Hour bekommt und die nächsten Schritte ermöglicht werden können.

Wie können Ärzt*innen profitieren, helfen oder mit Ihnen Kontakt aufnehmen?

Über Email oder auch direkt auf der Website können sie sich registrieren und erhalten dann einen Zugang zur Plattform. Wenn sie uns bei der Symptomanalyse unterstützen und erste Diagnosen tätigen möchten, weisen wir ihnen bestimmte Fragebögen zu. Ärzt*innen finden bei uns alles, was man aus wissenschaftlichen Studien bereits über Long Covid weiß. Gleichzeitig erleichtern wir ihnen die Prozesse bei der Behandlung von bei uns registrierten Patient*innen, weil wir deren Daten, alle MRTs, Blutbilder etc. in einer digitalen Betroffenenakte zusammenbringen, zu denen sie Zugriff erhalten. Wir befinden uns im täglichen Gespräch mit Ärzt*innen und fragen sie: Was brauchen Sie? Was hilft Ihnen? Wir möchten auf keinen Fall eins von den tausend Programmen sein, die keine*r braucht.

Suchen Sie noch Ärztinnen und Ärzte zur Unterstützung?

Ja, auf jeden Fall! Die Registrierung bei uns ist sehr einfach. Noch arbeiten wir mit einigen wenigen ehrenamtlich tätigen Ärzt*innen zusammen, die sich sehr engagieren. Aber wir möchten das Netzwerk bundesweit ausbauen, damit z.B. auch Betroffene in ländlichen Gebieten ohne Zugang zu spezialisierten Praxen und Ambulanzen Hilfe über unsere digitale Plattform erhalten. Je mehr Ärztinnen und Ärzte mitmachen, umso besser.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 15 vom 16.07.2022