Leitartikel

Menschen mit Behinderung, Hilflos im Krankenhaus

Schon vor der Pandemie vorhandene Probleme haben sich in der Krise verschärft. Die MÄA sprachen mit Dr. Gregor Scheible, Leitender Arzt bei der Stiftung Pfennigparade, über die Versorgung von Menschen mit Behinderung in Krankenhäusern – und was sich dringend ändern muss.
Menschen mit Behinderung, Hilflos im Krankenhaus
Menschen mit Behinderung, Hilflos im Krankenhaus

Foto: shutterstock

 

Herr Dr. Scheible, wie viele Patient*innen versorgen Sie ärztlich bei der Pfennigparade?

 In unserer angeschlossen hausärztlichen Praxis betreuen wir derzeit ca. 700 Patient*innen, in unserem Medizinischen Zentrum für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) sind es ca. 300, davon ca. 150 mit einer lebenserhaltenden Beatmung. In der Regel sind unsere Patient*innen geistig nicht behindert, viele haben aber eine schwere körperliche Behinderung. Sie haben ausgeprägte Lähmungen an allen vier Gliedmaßen (Tetraparese), müssen einen Elektrorollstuhl benutzen oder beatmet werden. Einige wohnen in Wohngruppen der Pfennigparade, viele aber auch in eigenen Wohnungen oder bei ihren Eltern. Ihre häusliche Pflegeversorgung reicht von kaum pflegerischer Unterstützung, weil die Angehörigen fast alles machen, bis hin zu einer 24-Stunden-Unterstützung durch eine außerklinische Intensivpflege (AKI). Nicht alle Menschen mit einer Beatmungsplicht müssen allerdings 24 Stunden beatmet werden, aber Menschen mit dem Vollbild einer schweren Tetraparese, einer Trachealkanüle oder einer nichtinvasiven Beatmung, wie dies oft etwa bei einer fortgeschrittenen schweren Muskelerkrankung der Fall ist, brauchen eine solche außenklinische Intensivpflege.

Wie erging es diesen Menschen während der Pandemie?

 Für viele war es sehr schwer. Die Krankenhäuser waren oft belegt, und wir hatten erhebliche Schwierigkeiten, unsere Patient*innen dort unterzubringen – ganz zu schweigen von Assistenz- oder Hilfskräften, die nicht mit in die Klinik durften. Unsere Hilfskräfte konnten dort nur schwer Kontakt zu den von ihnen betreuten Menschen aufnehmen. Es ist aber sehr wichtig, dass Patient*innen mit so schweren Behinderungen von Menschen begleitet werden, die darin geübt sind, mit ihnen umzugehen. Bei vielen unserer Patient*innen ist es zudem notwendig, eine ganztägige Betreuung zu gewährleisten. Wenn nur ab und zu jemand vorbeikommt, fällt meist die ganze Mobilisation, wie z.B. in den Elektrorollstuhl, weg. Sie bleiben die ganze Zeit im Bett und haben eine große Gefahr, einen Dekubitus zu entwickeln. Auch psychisch geht es ihnen im Krankenhaus oft sehr schlecht, weil sie kaum Ansprache haben.

Gab es bei Ihnen schwere Coronaverläufe?

Nein, interessanterweise nicht, auch nicht bei unseren beatmeten Patient*innen. Im weitesten Umfeld hatten wir einen Todesfall, der aber nicht direkt auf Corona zurückzuführen war. Wir hatten zwar Infektionen, auch bei unseren beatmeten Patient*innen. Diese sind aber zum Glück glimpflich abgelaufen. Unsere Patient*innen sind allerdings überwiegend jung, zwischen 18 und 40, und haben das Immunsystem ihres Alters. Zudem leiden sie nur sehr selten unter den bekannten Risikofaktoren wie Gefäßerkrankungen, Diabetes oder Adipositas.

Woran ist diese eine Person verstorben?

Dieser etwas ältere Patient musste zu Anfang der Coronapandemie in ein Krankenhaus, in dem zu dieser Zeit natürlich „Land unter“ geherrscht hat. Das war sehr schwer für ihn. Es muss oft nichts Schlimmes passieren, damit gerade ältere oder in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen im Krankenhaus Komplikationen entwickeln. Ich kann natürlich nicht sagen, ob das zu Hause auch passiert wäre. Durch die Maßnahmen der Isolierung, der Hygienemaßnahmen und der Reglementierung des Zugangs war die Pflegesituation extrem angespannt.

Wie ergeht es Ihren Patient*innen allgemein in Kliniken?

Ein Klinikaufenthalt ist für sie immer eine Gefahr. Das war auch schon vor Corona so. Keine*r unserer Patient*innen möchte in eine Klinik, oder nur so kurz wie möglich. Auf den Normalstationen ist ein Krankenhausaufenthalt nur schwer durchführbar, weil dort nachts nicht selten eine einzige Pflegekraft für 30 oder mehr Patient*innen zuständig ist. Auch auf einer Intensivstation ist es nicht so einfach. Die meisten unserer Patient*innen sind wach und müssen nur deshalb auf der Intensivstation versorgt werden, weil dort die pflegerische Situation besser ist. Das Umfeld dort ist für sie aber nicht geeignet. Es ist nicht vorgesehen, dass Menschen selbstständig im Rollstuhl herumfahren, sondern sie liegen dort in der Regel 24 Stunden im Bett und dürfen maximal eine zeitlang neben dem Bett sitzen, verkabelt an einen Monitor. Unsere Patient*innen haben zwar den Personalbedarf einer Intensivstation, meist aber nicht den medizintechnischen Bedarf. Sie bräuchten ein Zwischending zwischen Intensiv- und Normalstation.

Gibt es so etwas in München?

Meines Wissens noch nicht. In Kliniken, die an Behinderteneinrichtungen angeschlossen sind, gibt es teilweise ein paar Betten für diese Personengruppen – mit höherer Personalbesetzung, aber ohne die klassische Intensivausstattung. Diese Kosten müssen die Kliniken in der Regel aber selbst übernehmen. Viele können das nur deshalb, weil sie nicht so stark auf Kassenleistungen angewiesen sind, sondern – wie wir – auch andere Mittel, etwa aus der Eingliederungshilfe, erhalten. Eine Alternative wäre, dass Assistenzpersonen oder Angehörige ins Klinikum mitkommen, wenn es keine Corona-Einschränkungen gibt. Ihnen ist das zwar prinzipiell erlaubt, obwohl sie dort oft kein eigenes Bett bekommen. Eine von der Krankenkasse bezahlte Intensivpfleger*in wird allerdings nicht weiterbezahlt, wenn die betreute Person ins Krankenhaus muss. Außerhalb der Intensivstationen fehlt es fast immer an Hilfsmitteln wie mobilen mechanischen Liftern, um Menschen vom Bett in den Rollstuhl oder auf eine Untersuchungsliege transferieren zu können. Damit wären viele Untersuchungen viel einfacher durchführbar. Zum Glück es mittlerweile in München am Gesundheitsreferat endlich eine gynäkologische Praxis für Frauen mit Behinderung. Die einzigen Unterschiede zu anderen gynäkologischen Praxen sind dort, dass diese Räume mit einem Rollstuhl betretbar sind, dass sie einen Lifter haben und einen etwas größeren Untersuchungsstuhl. So etwas wäre in vielen Krankenhäusern auch möglich.

Wegen welcher Diagnosen müssen Ihre Patient*innen ins Krankenhaus?

Sie müssen immer wieder in die Klinik – meistens weniger wegen lebensbedrohlicher Erkrankungen als vielmehr wegen einfachen Untersuchungen oder Eingriffen wie Darmspiegelungen, Gastroskopien, einer PEG-Anlage oder bei urologischen Problemen. Manche müssen wegen eines Infekts intravenös therapiert werden, was wir ambulant nicht leisten können. Unsere Patient*innen mit schweren Lähmungen und einer nur nachts notwendigen Beatmung müssen daher bereits bei einer leichten Pneumonie auf die Intensivstation – auch wenn es ihnen eigentlich gar nicht so schlecht geht.

Wurden Patient*innen während der Pandemie in Krankenhäusern abgewiesen?

Abgewiesen wurden sie nicht, aber die Hürden für eine Aufnahme waren hoch. Viele unserer Patient*innen wissen ganz genau, was mit ihnen im Krankenhaus passiert und wehren sich daher gegen eine Einweisung. Dadurch besteht die Gefahr, dass Krankheiten verschleppt werden. Während der Coronazeit konnten sowieso nur Notfälle eingewiesen werden. Viele vergessen: Für Menschen, die sich ein stückweit selbst versorgen können, die sich melden oder ein Handy bedienen können, ist es im Krankenhaus wesentlich einfacher als für jemanden, der ständig auf Hilfe durch eine Pflegeperson angewiesen ist. Ohne eine permanent anwesende Hilfskraft können sich Menschen mit einer schweren Behinderung überhaupt nicht bemerkbar machen.

Wie reagieren die Menschen auf die Nachricht, dass sie dringend ins Krankenhaus müssen?

Die meisten können ganz klar ihren Willen artikulieren und sagen: Sie wollen nicht in die Klinik. Dabei nehmen sie das Risiko in Kauf, dass ihre ambulant durchführbare Therapie nicht optimal ist. Gegen ihren Willen wollen und können wir sie aber nicht einweisen. Noch schwieriger ist die Versorgung von geistig behinderten Patient*innen oder z.B. Demenzkranken, wenn zu einer körperlichen Behinderung noch ein ausgeprägteres Verständigungs- bzw. Verständnisproblem hinzukommt. Ich persönlich habe mit diesem Bereich wenig zu tun, weiß aber von unseren Partnereinrichtungen, dass ihre fachgerechte Versorgung im Krankenhaus auf noch größere Schwierigkeiten stößt.

Was passiert, wenn Patient*innen aus einer Klinik zurückkommen?

Leider gehen nur wenige Kliniken auf die Situation dieser Patient*innen ein. Immer noch wird am Freitagnachmittag oder am Samstagmorgen in die Behinderteneinrichtungen entlassen, wo auch bei uns meist nur der Bereitschaftsdienst verfügbar ist. Das Standardvorgehen mit anschließenden engmaschigen Kontrolluntersuchungen und einer fachärztlichen Weiterbetreuung ist bei unseren Patient*innen meist nicht möglich. Weil viele Praxen baulich für Rollstühle nicht geeignet sind, nehmen nur wenige niedergelassene Fachärzt*innen Menschen mit einer Behinderung auf. Mein Appell an die Kliniken ist daher, alle Behandlungen dort möglichst abzuschließen. Gerade bei Menschen mit einer Behinderung ist dies oft nicht durch ambulante Maßnahmen zu ersetzen.

Wie könnte man die Versorgung von Menschen mit Behinderung in Kliniken verbessern?

Wir bräuchten in München eine bestimmte Anzahl von Plätzen oder womöglich sogar eine spezielle Station für sie – mit guter Personalausstattung, spezieller Schulung des Personals und bestimmten Hilfsmittel wie Liftern. Natürlich kann eine solche Station nicht geplant belegt werden. Und sie müsste sich an einer Klinik befinden, die das ganze Spektrum der Behandlungen anbietet – besonders urologische, gynäkologische, gastroenterologische Dienstleistungen und eine komplette radiologische Diagnostik. Ein Pool an geschulten Mitarbeiter*innen mit ein paar spezielleren Hilfsmitteln in den Kliniken wäre schon ein Fortschritt. Es braucht zudem eine fachgerechte Lagerung von Menschen mit einer Behinderung. Auch bei älteren Menschen im geriatrischen Bereich sind Dekubiti in Kliniken ja nicht selten.

Wie können wir uns auf den bevorstehenden Corona-Herbst vorbereiten?

Ich weiß nicht, ob das vor allem eine Frage des Corona-Herbsts ist. Es muss für diese Menschen in „normalen“ Situationen besser werden, damit es auch in „Stoßzeiten“ wie einer Pandemie besser wird. Nur eine Spezialsituation anzugehen, löst das Problem langfristig nicht. Die Strukturen müssen tiefergehend verändert werden.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 20 vom 23.09.2022