Leitartikel

Medizinische Versorgungszentren: Chance oder Risiko

Klassische Vertragsärzte mit eigener Praxis konkurrieren heute mit einer Vielzahl von Medizinischen Versorgungszentren (MVZs). Ist diese Entwicklung gefährlich, oder bringt sie auch Vorteile? Die 134. Delegiertenversammlung des ÄKBV befasste sich am 27. Juni mit diesem Thema.
Medizinische Versorgungszentren

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Herausforderungen und Potentiale, Chancen und Risiken von MVZs für die ambulante Versorgung in München beleuchtete Dr. Pedro Schmelz, erster stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KVB, in seinem Referat. Seit 2016 sei deren Zahl kontinuierlich um 56 Prozent gestiegen. Möglich gemacht habe das die in den letzten Jahren immer wieder veränderte Gesetzeslage:

Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz von 2004 erlaubte erstmals fächerübergreifende ärztlich geleitete Einrichtungen nach dem Vorbild der Polikliniken in der DDR. Eine gleichzeitige Tätigkeit als Vertrags-und Krankenhausarzt ermöglichte dann das Vertragsarztänderungsgesetz von 2007. 2012 schloss der Gesetzgeber Heil- und Hilfsmittelerbringer als Gründungsberechtige aus (GKV-VStG), lockerte die Regelungen
für Ärztinnen und Ärzte 2015 aber wieder, indem er das Kriterium der "fachübergreifenden“ Einrichtungen strich (GKV-VSG). Von da an durften auch mehrere Ärztinnen und Ärzte vom gleichen Fachgebiet zusammenarbeiten. Seit dem TSVG von diesem Jahr dürfen nun auch Arztnetze MVZs gründen. Erbringer nichtärztlicher Dialyseleistungen hingegen dürfen nur fachbezogene MVZs bilden.

Insgesamt steige die Zahl der bei der KVB gemeldeten angestellten Ärztinnen und Ärzte in Bayern um rund 500 pro Jahr, sagte Schmelz. Zwei von drei neuen Ärzten bei der KVB begännen heute als Angestellte. Dabei zeige sich, dass die in MVZs arbeitenden bayerischen Ärztinnen und Ärzte durchschnittlich deutlich jünger sind als ihre Kolleginnen und Kollegen in Einzel- oder Gemeinschaftspraxen. Laut KVB-Statistiken sind in den Einrichtungen alle Fachrichtungen vertreten – am häufigsten die Allgemeinmediziner und fachärztlich tätige Internisten. Die Mehrheit der MVZs werde von Vertragsärzten betrieben (50,7 Prozent), sagte Schmelz. Der Anteil von durch Krankenhäuser geführten Einrichtungen steige derzeit aber überproportional und liege aktuell bei 30,5 Prozent.
Hinter 5,4 Prozent stünden Mischformen, z.B. Kooperationen von Kommunen und Vertragsärzten. Ein Restbestand von 13,4 Prozent aus der Zeit vor 2012 werde noch
von Heil- und Hilfsmittelerbringern getragen. Am meisten Gewinn lasse sich in städtischen Regionen mit MVZs erzielen.

Die Zahlen für München sprechen demgemäß eine deutliche Sprache: Jedes fünfte bayerische MVZ steht in der Landeshauptstadt. 138 Einrichtungen sind derzeit in Stadt und Landkreis zugelassen. Dort arbeiten etwas über 800 Ärztinnen und Ärzte (Stand: Ende Juni 2019). Auch hier tragen meist Vertragsärzte die MVZs, die dort tätigen Ärzte sind im Schnitt jünger als die Ärzte in Einzel- oder Gemeinschaftspraxen, und alle Fachrichtungen sind darin vertreten – neben Allgemeinmedizinern fallen hier besonders die Psychotherapeuten ins Auge. 86 Prozent der in MVZs Tätigen sind angestellt, die Mehrheit ist mit 52 Prozent weiblich.

Gerade jungen Ärztinnen und Ärzten böten MVZs viele Chancen, sagte Schmelz, ermöglichten sie doch einen unkomplizierten Einstieg in die vertragsärztliche Tätigkeit. Gleichzeitig verkörperten sie aktuelle Trends der ambulanten Versorgung: Im Rahmen einer Anstellung könnten die Kolleginnen und Kollegen ihren Beruf flexibel ausüben.
Schließlich ermöglichten sie eine umfassende Patientenversorgung durch mehrere Ärzte unter einem Dach.


Besorgt äußerte sich Schmelz über die zunehmende Rolle von nicht-vertragsärztlichen
Betreibern und Investoren mit finanziellen Eigeninteressen. Vor allem kapitalorientierte
Investoren könnten bestehende Strukturen durch die Bildung von MVZs massiv verändern. Die Behandlungsfreiheit und die freie Arztwahl seien durch solche Konzentrationsprozesse gefährdet. Dabei interessierten sich die meisten Investoren ausschließlich für finanziell attraktive Leistungsbereiche.

Schmelz forderte, reine Kapitalinteressen zurückzudrängen und eine Industrialisierung der Versorgung zu verhindern. Stattdessen müsse die ambulante Freiberuflichkeit gestärkt werden. Kooperationen müssten auch für Freiberufler attraktiver gestaltet werden. Viele Ärztinnen und Ärzte wollten sich eigentlich niederlassen, könnten aber nicht mit der Macht eines Krankenhauses konkurrieren. „Die Versorgung sollte stets im Vordergrund stehen“, schloss der Referent. 

In einem zusätzlichen Vortrag beleuchtete Dr. Wolf von Römer vom Zulassungsausschuss der KVB weitere Aspekte von Medizinischen Versorgungszentren aus Sicht der KVB. Er lobte die Tatsache, dass mittlerweile auch nicht fachübergreifende Haus- und Facharztpraxen möglich seien. Zusätzlich ging er auf mögliche Rechtsformen wie Personengesellschaft, GmbH oder öffentlich- rechtliche Rechtsformen ein. Letztere seien vor allem für Kommunen attraktiv, wenn diese ein MVZ betreiben wollten.

Bei der anschließenden Diskussion forderten ÄKBV-Delegierte unter anderem, bei der Stadt München bekannt zu machen, dass auch sie Medizinische Versorgungszentren gründen dürfe. Dies könne eine Lösung für Stadtteile wie Riem sein, in der Arztpraxen fehlen. Ein Delegierter gab zu bedenken, dass eine konkurrierende Gesetzgebung des  Innenministeriums die Nutzung städtischer Gelder für MVZs verhindere. Andere Delegierte berichteten von Ärzten, die Praxen aufkaufen, ohne sich um die Versorgung von Patienten mit „finanziell unattraktiven“ Erkrankungen zu kümmern.

Die Rolle von MVZs aus Sicht eines privaten Betreibers, der Sana Kliniken AG, beleuchtete im Anschluss Sebastian Holm, Regionalgeschäftsführer für Bayern. Der Konzern betreibt deutschlandweit fünf Pflegeheime und 53 Kliniken, darunter den Münchner Sana Gesundheitscampus. Kliniken stünden aktuell großen Herausforderungen gegenüber, sagte Holm: Einerseits gebe es auf der Angebotsseite ein planwirtschaftliches System, andererseits marktwirtschaftliche Bedingungen auf der Nachfrageseite. Der  Wettbewerbsdruck sei erheblich gestiegen und werde sich weiter verstärken. „Die Reduktion der Kliniken in Deutschland ist politisch gewollt“, beklagte Holm. Die Anzahl an Kliniken werde sich aufgrund deutlich geringerer Finanzmittel reduzieren. Der Trend zur medizinischen Spezialisierung setze sich weiter fort. Gleichzeitig werde eine bessere Vernetzung von stationärem und ambulantem Sektor immer wichtiger – wie dies bei Campus-Modellen, der Verbindung von Kliniken und Gesundheitsdienstleistern an einem Standort, der Fall sei. Auch bei den Vertragsärzten werde sich die Konsolidierung beschleunigen, prophezeite Holm – mit erheblichen Auswirkungen auf das  Zuweisungsverhalten. Dies alles mache eine Neupositionierung on Kliniken im Wettbewerb um Patienten notwendig.

Die Annahme, dass sich Klinikkonzerne wie Sana durch die Gründung von MVZs bereichern wollten, wehrte Holm ab: Nur eine Minderheit aller MVZs werde derzeit von Kliniken betrieben. MVZs seien auch keine „ökonomischen Selbstläufer“. Vielmehr verbuchten 42 Prozent der nicht vertragsärztlich getragenen Einrichtungen derzeit Verluste. Damit sich ein MVZ überhaupt lohne, müsse die kritische Masse von fünf Vertragsarztsitzen überschritten werden, es brauche fähige Praxismanager und Geschäftsführer und eine „gelebte Controlling- und Besprechungskultur“. Es gebe jedoch einen hohen Bedarf an MVZs: Jüngere Angestellte wollten heute anders arbeiten als traditionelle selbstständige Ärztinnen und Ärzte. Aufgrund des Mangels an Ärzten und Praxispersonal bestehe zudem ein „Arbeitnehmermarkt“, auf dem sich die Angestellten in spe die passenden Stellen aussuchen könnten. Außerdem sei eine adäquate Nachfolge für Praxisgründer nach ihrem Ausscheiden aus dem Beruf entscheidend.

Auch Holm warnte vor Investoren mit ausschließlich finanziellen Interessen: Beim Bieterstreit um Arztsitze sähen sich deutsche Kliniken immer häufiger Private-Equity-Fonds als Konkurrenten gegenüber. Zudem kritisierte er die lokale Konzentration auf immer weniger Anbieter ärztlicher Leistungen, was zu einer Art „Monopoly“ führe: Die Kaufpreise für Vertragsarztsitze stiegen teilweise in astronomische Höhen.

Diesen „Ausverkauf“ verursachen laut Holm auch die Jungärzte: Immer weniger wollten sich niederlassen. Die Praxisinhaber hätten ebenfalls ihren Anteil an dieser Entwicklung:
Zwar seien noch etliche KV-Versorgungsbereiche gesperrt, doch weil mit dem Verkauf von Praxen derzeit viel Geld zu verdienen ist, würden viele Inhaber zum Verkauf ihrer Praxis „verführt“. Insgesamt steige der Anteil an älteren Ärzten über 60.

Holm verteidigte die Sana AG ausdrücklich: Der Konzern betreibe zwar MVZs an ausgewählten Standorten. Dies diene aber vor allem der Sicherung von Zuweisungen an Kliniken und deren Bestehen im Wettbewerb. MVZs seien derzeit für Kliniken überwiegend ein Verlustgeschäft. Sie würden daher vor allem an Orten betrieben, an denen kaum andere Ärzte niedergelassen seien, beispielsweise im sächsischen Hoyerswerda. Die Vernetzung der ambulanten und stationären Sektoren sei für die Sana Kliniken existentiell. In München betreibt die Sana laut Holm aktuell keine MVZs.  Langfristig wird für Kliniken nur die nachhaltige Vernetzung mit ambulanten Leistungserbringern, idealerweise räumlich verbunden, erfolgreich sein“, schloss Holm seine Ausführungen.

Stephanie Hügler