Leitartikel

Medizin und Behinderung Startschuss für Veränderung!

Menschen mit einer Behinderung haben es in Pandemiezeiten oft besonders schwer. Im Interview mit den MÄA rief die frühere Paralympics-Siegerin und heutige Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, dazu auf, Probleme wie mangelnde Barrierefreiheit entschlossen anzugehen.
Medizin und Behinderung Startschuss für Veränderung!

Foto: verena-bentele.com

Frau Bentele, wie geht es Ihnen aktuell in dieser Pandemiezeit?

Mir geht es zum Glück gut. Ich bin gesund und habe viel zu tun – im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die derzeit ihre Berufe nicht ausüben können. Mir hilft auch der Sport. Es tut mir gut, draußen zu sein und mich zu bewegen. In jeder Lockdown-Phase fand ich es wichtig, laufen zu gehen. Jetzt, wo der Frühling kommt, habe ich gerade mein Tandem geputzt und fahrbereit gemacht.

Wie geht es Ihren Mitgliedern beim VdK?

Nicht allen geht es so gut wie ich mir das wünschen würde. Viele haben derzeit einen großen Bedarf an Informationen und Rechtsberatung und wenden sich daher an unsere Geschäftsstellen in München und im ganzen Land. Der VdK wächst, auch in dieser Zeit. Das zeigt uns, vor wie viele Herausforderungen der Sozialstaat die Menschen derzeit stellt.

Mit welchen Problemen wenden sich die Menschen an den VdK?

Die sich derzeit sehr schnell ändernden Regelungen sind für viele Menschen eine Herausforderung. Es fehlt an barrierefreien Informationen in leichter Sprache und an Informationen für gehörlose Menschen. Allgemein gibt es zu wenige Informationen auf barrierefreien Webseiten. Hinzu kommt die Impfverordnung: Wer bekommt wann eine Impfung? Uns schreiben zum Beispiel Angehörige von Menschen mit einer Behinderung, dass sie sich nicht mehr auf die Straße trauen. Sie warten dringend auf die Impfung. Andere fragen uns, wie man das Impfzentrum oder eine barrierefreie Teststation erreicht. Wie funktioniert das barrierefreie Testen, wenn Menschen nicht alle Formulare ausfüllen können, weil sie z.B. eine Sehbehinderung oder eine kognitive Einschränkung haben? Von staatlichen Stellen würde ich mir dazu deutlich mehr und vor allem barrierefreie Informationen wünschen.

Wie informieren Sie die Menschen?

Wir sehen uns die neuen Beschlüsse und Regeln an und sagen den Menschen, an wen sie sich zum Beispiel wegen einer Einzelfallentscheidung zur Impfpriorisierung wenden können. Vor allem setzen wir uns politisch für die Mitglieder ein und fordern Änderungen, wie die Aufhebung der Besuchsverbote in Pflegeheimen. Unsere Mitglieder beraten wir über die Landes-, Bezirks- und Kreisverbände und informieren sie über unsere internen Webseitenbereiche. Wir können jedoch zu medizinischen und organisatorischen Fragen nicht die staatliche oder ärztliche Informationspflicht übernehmen.

Wie sehen Sie die derzeitige Impfpriorisierung?

Wir brauchen insgesamt natürlich mehr Impfstoff. Aber wir müssen auch dringend die lokalen Vor-Ort- Strukturen einbeziehen, also die Hausärzt*innen, die ihre Patient*innen kennen und von diesen besser erreicht werden können. Das hätte schon längst passieren müssen. In den vergangenen Jahren haben wir diese Vor-Ort-Strukturen ja auch für die Grippe-Impfung genutzt. Die Bundesregierung sollte den Ärzt*innen vertrauen. Als VdK-Präsidentin verweise ich immer auf die Kompetenz unserer Ärzt*innen, sie kennen ihre Patient*innen und können das häusliche Umfeld besser einschätzen, weil sie in der Regel die Pflege- und Betreuungsstrukturen von Menschen, die alt sind oder eine Behinderung haben, kennen. Wer zum Beispiel pflegebedürftige Eltern sehr eng unterstützt, braucht so schnell wie möglich eine Impfung. Leider fehlt es uns in Deutschland am nötigen Pragmatismus. Wir haben es mit der Bürokratie übertrieben.

Wie schätzen Sie allgemein die medizinische und pflegerische Versorgung von Menschen mit einer Behinderung ein?

Es gibt leider noch immer sehr viel Nachholbedarf, auch in den Arztpraxen. Wir haben dort zu viele bauliche Barrieren zum Beispiel für Menschen, die einen Rollstuhl nutzen, wie Treppenstufen oder zu enge Türen in den Toiletten. Es gibt zu wenige Informationen in leichter Sprache. Gesundheitsversorgung ist aber ein Teil der Daseinsvorsorge. Daher dürfte es heute keine Frage mehr sein, ob wir mehr Barrierefreiheit herstellen können, sondern nur noch, wie wir sie zügig umsetzen. Daran haben alle einen Anteil, nicht nur der Staat. Ärzt*innen können sich aus meiner Sicht nicht mit einem Verweis auf die Kosten aus der Affäre ziehen. Medizinische Leistungen müssen für alle Menschen erbracht werden. Es ist nicht der richtige Weg, sich die Patient*innen auszusuchen und nur fitte Sportler*innen zu behandeln. Ältere Menschen mit einem Rollator oder andere Menschen mit Einschränkungen haben ebenfalls ein Recht auf medizinische Versorgung. Ärzt*innen haben daher eine Mitverantwortung, ihre Dienstleistung barrierefrei für alle zu erbringen.

Was wäre konkret zu tun?

Es ist relativ leicht, neu zugelassene Praxen barrierefrei zu gestalten. Auch Bestandspraxen sollten sich aber mehr dahingehend anstrengen. Von Seiten des Gesetzgebers sollte es eine Verpflichtung zur Barrierefreiheit geben, die auch eingehalten wird. Natürlich wird es zusätzlich spezialisierte Praxen und Kliniken geben. Dies ist aber in einer Großstadt wesentlich leichter möglich als auf dem Land. Schon hier in München gibt es zum Beispiel nur sehr wenige gynäkologische Praxen für Frauen, die einen Rollstuhl nutzen. Im Landkreis oder im ländlichen Bayern sieht es aber noch sehr viel schlechter aus. Man kann die Menschen nicht einfach nur auffordern, nach München zu fahren, um eine Uniklinik oder eine spezialisierte Praxis aufzusuchen.

Was erwarten Sie im täglichen Umgang mit Ärzt*innen?

Ich suche mir meine Ärzt*innen unter anderem danach aus, ob sie mir die nötige Unterstützung anbieten. Wenn ich in einer Arztpraxis keine Unterstützung beim Ausfüllen von Formularen erhalte oder wenn ich höre, dass ich dies doch bitte zu Hause organisieren und nochmal kommen soll, gehe ich nicht mehr dorthin. Als Patientin, die nicht sieht, brauche ich diese Unterstützung, das muss unser Gesundheitssystem ermöglichen. In den Arztpraxen, in denen ich bin, klappt das zum Glück gut.

Was würden Sie sich sonst noch von Ärzt*innen in Kliniken und Praxen wünschen?

Patient*innen sollten noch mehr, bessere und manchmal auch andere Beratungsmöglichkeiten erhalten – zum Beispiel, wenn werdende Eltern erfahren, dass sie ein Kind mit Trisomie 21 bekommen werden. Hinzu kommt: 96 Prozent aller Menschen bekommen irgendwann im Lauf ihres Lebens eine Behinderung. Ärzt*innen sind in diesen Situationen meist die ersten Ansprechpartner*innen und sollten daher dazu eine hohe Beratungskompetenz besitzen. Zusätzlich wünsche ich mir, dass Ärzt*innen Reha-Anträge bei Patient*innen besser unterstützen. Eine Reha kann sehr oft die Lebenssituation verbessern und helfen, wieder arbeitsfähig zu werden. Das wird noch zu wenig genutzt.

Was erwarten Sie von der Politik?

Ich wünsche mir, dass sie unser Gesundheitssystem für alle verfügbar macht – und nicht nur für diejenigen, die möglichst wenig Bedarf haben. Die Verpflichtungen zu einer barrierefreien Gesundheitsversorgung müssen gesetzlich geregelt werden. Aktuell wird zum Beispiel gerade das sogenannte Teilhabe- Stärkungs-Gesetz im Bundestag diskutiert, in dem es unter anderem darum geht, wer eine Assistenz im Krankenhaus finanziert, die zum Glück bei Kindern und Jugendlichen mittlerweile gang und gäbe ist. Das Gleiche wünschen wir uns auch für Menschen mit einer Behinderung, oder auch für Demenzkranke, die im Krankenhaus eine vertraute Person um sich brauchen. Dies muss für alle Menschen mit Assistenzbedarf finanziert werden. Bisher fehlt so eine Regelung im Gesetz. Ärzt*innen rufe ich dazu auf, sich in ihren Berufsverbänden mehr für die Interessen von Menschen mit einer Behinderung oder Krankheit stark zu machen. Schließlich wissen sie am besten, wie es etwa Demenzkranken im Krankenhaus ergeht.

Wie blicken Sie in die Zukunft?

Ich hoffe und wünsche mir, dass wir durch eine gute Test- und Impfstrategie die Gesellschaft bald wieder etwas öffnen und ein bisschen mehr Teilhabe aller ermöglichen können. Denn die sozialen Folgen von langer Einsamkeit – es leben sehr viele Menschen alleine – sind noch gar nicht abschätzbar. Ich bin Optimistin und glaube daher, dass es einen Weg geben wird. Den müssen wir jetzt aber in aller Konsequenz gehen und dabei darauf achten, dass wir niemanden zurücklassen. Gerade jetzt in der Corona-Pandemiehaben wir außerdem viele Möglichkeiten, Regelungen und Vorgänge zu überdenken. Dies sollten wir nutzen. Zum Beispiel halte ich das System der privaten und gesetzlichen Krankenversicherung für nicht mehr zeitgemäß. Aus meiner Sicht wäre eine Krankenversicherung für alle machbar – und sie wäre so möglich, dass Patient*innen eine gute Versorgung und Ärzt*innen ein gutes Einkommen haben. Es müsste künftig zudem viel stärker in Prävention investiert werden. Die derzeitigen Chancen zur Veränderung sollten wir unbedingt nutzen!

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Heft 8/2021 vom 10.04.2021