Leitartikel

„Irren ist ärztlich“ Interview mit Prof. Dr. Eckhard Frick zu Irrtümern und Fehlerkultur

Wo Menschen arbeiten, geschehen Fehler. Doch gerade Medizinern fällt es noch immer schwer, diese zuzugeben. Was sich in der ärztlichen Kultur und im Klinikalltag ändern muss, damit möglichst wenig Fehler entstehen, erläutert Prof. Dr. Eckhard Frick, Leiter der Forschungsstelle für Spiritual Care am Klinikum rechts der Isar. Als Facharzt für Psychosomatik und für Psychiatrie, als ausgebildeter Psychoanalytiker und Theologe kennt Frick die medizinischen, organisationstechnischen und spirituellen Bedürfnisse von Patienten und Klinikmitarbeitern.
Irren ist ärztlich

Herr Prof. Frick, warum sind ärztliche Fehler noch immer ein Tabu?

Das hängt einerseits mit dem begrüßenswerten Anspruch von Ärztinnen und Ärzten zusammen, exzellente Medizin machen zu wollen. Andererseits wird das Zugeben von Fehlern durch die rechtliche Situation erschwert. Ärztinnen und Ärzte müssen mit Schadenersatzklagen rechnen, wenn sie über eigene Fehler sprechen. Hinzu kommt: Traditionell ist die Medizin von hierarchischen Strukturen geprägt. Auf Fehler reagieren viele Vorgesetzte eher mit Tadel als mit Unterstützung. Innerhalb von Gruppen wirkt dann noch der so genannte „Sündenbock-Mechanismus“, durch den Fehler häufig auf eine einzelne Person geschoben werden. Man darf aber nicht vergessen: Dadurch wird so schließlich auch der zum Opfer, der einen Fehler gemacht hat. Diesen Vorgang nennt man „sekundäre Viktimisierung“. Weil er mit seinem Fehler nicht offen umgehen kann, bekommt der Mitarbeiter Angst davor, in Zukunft weitere Fehler zu begehen. Er versucht, sich nach allen Richtungen abzusichern. Betroffene Klinikmitarbeiterinnen und -mitarbeiter blockieren so jeglichen Fortschritt. Sie ziehen sich oft zurück, sind weniger bereit, kalkulierbare Risiken einzugehen und sind auch oft weniger fortbildungswillig. So werden sie schließlich zu einer langfristigen Gefahr für die Patienten.

Wie kann sich etwas verändern?

Das System Krankenhaus braucht eine andere Fehlerkultur. Wir haben dabei einen großen Nachholbedarf. Aus anderen Branchen, zum Beispiel aus der Luftfahrt, könnten wir lernen, wie man es besser macht. Dort wird der Umgang mit Fehlern regelmäßig trainiert. Die Erfahrung aus der Luftfahrt, etwa bei der Analyse von Fast-Zusammenstößen zeigt, dass eine systematische Fehlerkultur und eine systematische Beobachtung helfen, aus nicht optimalen Verläufen zu lernen. Dies kann auch anonymisiert erfolgen und wird in manchen Kliniken bereits praktiziert. Aus Fehlern kann man lernen – das gilt auch in der Medizin.

Was verstehen Sie unter den Begriffen Fehler und Irrtum?

Hinter einem Fehler oder einem Irrtum kann ein Mangel an Ausbildung oder Information stecken. Das ist ein vermeidbarer Irrtum. Es gibt aber auch Dinge, die wir nicht vorhersehen können, bei denen wir uns einfach in der Einschätzung irren. Aus solchen kognitiven Irrtümern können auf der Handlungsebene Fehler entstehen – auch bei großer Erfahrung. Je riskanter ein Behandlungsverlauf ist, desto höher ist die Gefahr von diagnostischen, prognostischen und therapeutischen Irrtümern. Zwar gibt es in der Medizin eine hohe Krisenkompetenz. Denken Sie etwa an die Intensivmedizin, in der Sie sehr häufig schnell auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren müssen. Aber der menschliche Organismus ist keine vorhersagbare Maschine, sondern sehr komplex. Medizin bedeutet daher immer, mit einer gewissen Unsicherheit zu leben und sich im Umgang mit Patienten und Angehörigen, aber auch im Team, diese Unsicherheit einzugestehen und damit umzugehen. Gerade Angehörige von Intensivpatienten brauchen eine kontinuierliche Begleitung in der oft quälenden Zeit des Wartens und der Unsicherheit.

Sie sprachen vorher von einer anderen Fehlerkultur. Was verstehen Sie darunter?

Bereits im Medizinstudium sollten Studierende zum Beispiel eine andere Feedback-Kultur einüben: Statt zu kritisieren sollten sie lernen, erst wertzuschätzen und zu beschreiben, und erst dann zu korrigieren. Später im Arbeitsleben sollten Kollegen und Vorgesetzte mehr Verständnis für Fehler anderer und Empathie für sie aufbringen. Auch Mediziner sollten die Möglichkeit haben, unliebsame oder unerwartete Ereignisse im Rahmen einer Supervision, wie sie aus der Psychotherapie und Sozialarbeit bekannt ist, auf Augenhöhe zu betrachten und zu besprechen. Pausen haben eine sehr wichtige Funktion, um über bestimmte Vorgänge nachzudenken. Denn der sprichwörtliche Schritt zurück kann einen neuen Blick darauf ermöglichen. Auch Störungen im Team sind dann besser erkennbar. Wenn Mitarbeiter aufgrund von Störungen im Team häufig krank oder schlecht gelaunt sind, kann dies Fehler nach sich ziehen. Und schließlich hilft ein Debriefing-Gespräch mit Kollegen nach psychisch belastenden Situationen, zum Beispiel nach Todesfällen oder schwierigen Situationen im Umgang mit Patienten. Damit solche Maßnahmen funktionieren, müssen sie jedoch in die Team-Routine eingebaut werden.

Wie realistisch sind solche Veränderungen? Zeit ist im Klinikalltag doch sowieso schon knapp bemessen?

Wenn man durch etwas inneren und zeitlichen Abstand die Abläufe verbessern würde, könnte man sehr viel Zeit einsparen und damit die Qualität der Arbeit erhöhen. Maßnahmen, die nur aufgrund von Fehlern durchgeführt werden müssen, werden dann überflüssig. Wichtig ist, dass Veränderungen der Fehlerkultur gleichzeitig von oben und von unten, also von der Leitungsebene und aus dem Team heraus, angestoßen werden müssen. Maßnahmen aus der Chefetage heraus zu verordnen genügt nicht. Der Umgang mit Fehlern muss innerhalb eines Teams etabliert werden. Die Mitarbeiter müssen aufeinander eingehen. Ein gutes Beispiel ist ein Team-Time-Out bei Operationen. Wenn sich das OP-Team kurz Zeit nimmt und sich Abstand verschafft, können Fehler wie Patientenverwechslungen, Operationen auf der falschen Körperseite und Ähnliches vermieden werden.

Wie kann man die von Ihnen genannten hierarchischen Strukturen in der Medizin aufbrechen?

Es braucht in der Medizin fachliche Autorität und Entscheidungskompetenz. Ergänzend dazu brauchen wir aber auch dringend eine Peer-Ebene, d.h. ein Miteinander, eine Stärkung des Team-Gedankens. Im Krankenhaus bestimmen traditionell Ärzte. Wir lernen aber mehr und mehr, dass Medizin von verschiedenen Berufsgruppen gemacht wird. Ich denke dabei vor allem an die Pflege, aber auch an Hebammen, Sozialarbeiter, Physiotherapeuten und andere Berufsgruppen. Nehmen wir mal ein Beispiel: Wenn ein Patient nach einer Darm-OP einen künstlichen Darmausgang bekommt, dann braucht er eine Stomatherapeutin oder einen -therapeuten, die ihm zeigen, wie er damit umgehen muss, damit alles passt und funktioniert. Ohne diese Ergänzung ist die wichtige Arbeit des Chirurgen unvollständig, weil der Patient unbedingt Unterstützung braucht, um mit dieser neuen, schwierigen und unangenehmen Situation umzugehen. Gerade bei der Entscheidungsfindung und der Fehlerkompetenz braucht es neben der hierarchischen Ebene die Unterstützung durch die Peers, durch Kollegen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. In bestimmten Bereichen kommen wir alle immer wieder in ähnliche Situationen, etwa, wenn wir damit umgehen müssen, dass wir in der Medizin nicht alles erreichen können, dass es Grenzen gibt. Bei diesem Thema befinden wir uns alle in einem Boot, egal, wie viel wir studiert und wie viele Titel wir erworben haben.

Lässt sich eine solche Unterstützung durch Fachkollegen institutionalisieren?

Ja, wichtige Institutionen sind dabei Einrichtungen wie der Verein PSU-Akut e.V., der sich aus einem Projekt des ÄKBV herausgebildet hat. Der Verein ist heute unabhängig und bietet immer wieder Unterstützung und Seminarangebote für Ärztinnen und Ärzte an (www.psu-akut. de) (s. dazu u. a. MÄA 01/2018). Solche Selbsthilfe-Mechanismen unter Ärzten sind wichtig – als psychosoziale Not- und Krisenbetreuung für Menschen, die selbst medizinisch tätig sind.

Was kann man tun, um solche Veränderungen in den Klinikalltag einzubringen?

In unserem Simulationszentrum können künftige Mediziner schwierige Situationen üben und lernen, ihren Mitstudierenden Feedback zu geben. Doch es reicht nicht aus, nur bei den Studierenden anzusetzen. Natürlich ist es in großen Strukturen wie einem Uniklinikum schwierig, die Kultur zu verändern. Einfacher ist es, in einzelnen Abteilungen anzusetzen. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Mitarbeiter etwas verändern wollen. Alle müssen lernen, den Umgang mit Fehlern als Teil der Fachkompetenz und als Beitrag zur Effizienz zu sehen, und nicht als Sahnehäubchen, das man auch mal weglassen kann. Gute Erfahrungen gibt es mit BalintGruppen, wie sie in der Psychotherapie etabliert sind. Dabei handelt es sich um eine Methode der Organisationsentwicklung, die aus der Psychoanalyse kommt. Sie geht davon aus, dass in allen Institutionen neben dem, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wahrnehmen, ein großer Bereich existiert, der ihnen nicht bewusst ist. In den entsprechenden Gruppen berichtet jemand von einem Problem. Die anderen Gruppenmitglieder ergänzen, was bisher nicht erwähnt wurde, was auf der Beziehungsebene los sein könnte etc. Dadurch bekommen die Teilnehmer ein Bild von der Situation und können gemeinsam Lösungen entwickeln. Im Rahmen der Institution Klinik müssen Räume und Ressourcen für Balint-Gruppen und Supervision geschaffen werden. Das geht natürlich nicht zum Nulltarif. Aber es ist nötig, denn es zeigt die Wertschätzung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Welche konkreten Empfehlungen haben Sie für den Klinikalltag? Würden Sie einem Kollegen oder einer Kollegin raten, einen vermeidbaren oder nicht vermeidbaren Fehler einzugestehen?

Entscheidend ist die grundsätzliche Bereitschaft aller Teammitglieder, sich auf einen Veränderungsprozess einzulassen. Das Zugeben von Fehlern ist nichts, was man einer Person allein raten kann oder soll. Wünschenswert ist aber ein Klima, in dem es möglich ist, auch über schwierige Dinge zu sprechen. Dann tun es die Betroffenen auch eher. Sonst lasten wir Fehler einseitig einem Menschen an, der möglicherweise oder auch nicht, etwas falsch gemacht hat. Der juristische Aspekt des Eingestehens von Irrtümern und Fehlern im ärztlichen Alltag wird oft überschätzt: Wir brauchen natürlich auch den Rat von juristischer Seite zum individuellen Fall. Bei einer Veranstaltung zum Thema „Irren ist ärztlich“ im vergangenen Jahr am Klinikum rechts der Isar hat der dort zum Vortrag eingeladene Jurist aber die Ängste von Ärztinnen und Ärzten gedämpft. Der offene Umgang ist demnach oft auch juristisch gesehen ratsam. Der Jurist machte klar: Die Ängste vieler Ärztinnen und Ärzte vor Staatsanwälten und Richtern sind oft überzogen. Sie sind zwar verständlich, aber daraus eine vollkommene Intransparenz im ärztlichen Beruf abzuleiten, macht das Problem eher größer als kleiner.

Kennen Sie Beispiele von Kliniken außerhalb Münchens, in denen eine andere Fehlerkultur gelebt wird?

Im Albertinen-Krankenhaus in Hamburg gibt es so genannte EKS-Teams, die sich um „Existenzielle Kommunikation und Spiritualität“ kümmern. Jedes Team und jeder Mitarbeiter auf Station oder im OP kann sich kurzfristig die Unterstützung eines EKS-Team holen, wenn es etwa Schwierigkeiten mit einzelnen Patienten gibt oder Todesfälle zur Belastung werden. Dieses Angebot ist völlig neutral. Es gibt dafür weder Belohnung noch Kritik. Ein solches Angebot ist eine lohnende Investition im Interesse der Mitarbeiterschaft und der kranken Menschen, um die es in der Medizin geht.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler auf der Grundlage eines bereits vorhandenen Interview-Texts