Leitartikel

HIV und SARS-CoV-2 Zwei Viren- zwei Welten?

Welche Parallelen und Unterschiede gibt es zwischen HIV und SARS-CoV-2? Dürfen wir AIDS wegen Covid-19 vernachlässigen? Und was lässt sich aus den Erfahrungen mit HIV lernen? Darüber – und natürlich über die aktuelle Krise – sprachen die MÄA mit dem Infektiologen PD Dr. Christoph Spinner.

Foto: Shutterstock

Herr Dr. Spinner, wie viele Covid- 19-Patienten liegen aktuell bei Ihnen im Klinikum rechts der Isar?

Aktuell (Stand: 9.11.2020) haben wir 25 Patienten auf der Normal- und 11 Patienten auf der Intensivstation. Erfreulicherweise ist die Verweildauer aktuell sehr viel kürzer als im Frühjahr – wir konnten bereits viele Patienten in der 2. Welle entlassen. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass unsere Patienten im Schnitt jünger sind und weniger Risikofaktoren mitbringen. Wir haben den Eindruck, dass Menschen mit den klassischen Risikofaktoren – ältere Menschen, Lungenerkrankte, Menschen mit Übergewicht und Bluthochdruck – besser auf sich aufpassen.

Haben Sie Angst, dass die Betten knapp werden könnten?

Auch in der zweiten Welle war unsere 28-Betten-Station fast voll, aber wir regulieren das täglich nach. Wie es ja schon durch die Presse ging, sind unser Kernprobleme nicht die zur Verfügung stehenden Betten, sondern das mangelnde Pflegepersonal. Ohne Pflegepersonal kann man keine (Intensiv)medizin betreiben. Wir sehen auch einen deutlich höheren Krankenstand bei unseren Pflegemitarbeiter*innen als während der ersten Welle. Die meisten Einträge sind allerdings nicht aus der Arbeit, sondern aus dem privaten Umfeld.

Sind die Mitarbeiter*innen vor allem an Covid-19 erkrankt, oder sind es andere Faktoren wie Überlastung? 

Beides spielt sicher eine Rolle. Wir wissen das oft nicht genau, denn die Diagnose der Arbeitsunfähigkeit müssen uns die Mitarbeiter*innen ja nicht mitteilen. Derzeit sind 15 Mitarbeitende positiv getestet und in Quarantäne. 39 befinden sich wegen Kontakt in Quarantäne. 25 von ihnen sind negativ getestet und dürfen nach Rücksprache mit dem Gesundheitsamt wegen Personalmangels arbeiten. Das klingt nicht nach viel, aber je nachdem, in welchen Bereichen  die Mitarbeiter*innen fehlen, kann es schwierig werden. Der Pflegemangel trifft insbesondere die Intensivmedizin. Gerade dort fehlt es an qualifiziertem Personal. Das macht es für alle Häuser in München schwierig: Niemand kann seine aufgestellten Betten voll belegen.

Was hat man aus der ersten Erkrankungswelle gelernt?

Das Wichtigste ist, dass wir verstanden haben, wie die Übertragung funktioniert und wie wir uns wirksam schützen können. Die AHA-L+App-Regeln Abstand, Hygiene, Alltagsmasken und Lüften sowie Corona- WarnApp kannten wir damals noch nicht genau. Heute haben wir eine zuverlässige und oft rechtzeitige Diagnostik
und wir haben die ersten therapeutischen Optionen. Und wir haben Konzepte fürs Krankenhausmanagement. Es gab zwar auch schon vor der ersten Welle Pandemiepläne, aber die waren veraltet oder so noch nie im Einsatz.

Zuletzt hatten wir in den MÄA (Ausgabe 07/20) über Digitalisierung gesprochen. Hat sich dabei etwas durch Covid-19 getan? 

Covid-19 hat der Digitalisierung einen erheblichen Vorschub geleistet. Früher waren die Digitalisierungsbemühungen in der Lehre langwierig, auch Videokonferenzen waren nicht so selbstverständlich wie heute. Aktuell stellen wir z.B. auf ein zentrales ambulantes Terminplanungssystem um, das auch Videosprechstunden und Selbstbuchungsoptionen für Patient*innen ermöglicht. Und wir haben ein Forschungsprojekt zur Covid-19-Diagnostik per App und Probenselbstgewinnung. Gleichzeitig sehen wir, wo es noch Nachholbedarf in der Gesellschaft gibt – z.B. bei den Gesundheitsämtern, die nach wie vor mit Excel-Listen, Zettel und Stift hunderte Kontaktpersonen nachverfolgen müssen. Auch der Föderalismus hat viele Vor- und Nachteile. Covid-19 zeigt uns schonungslos alle Stärken und Schwächen des medizinischen und gesellschaftlichen Systems.

Hatten Sie in der Klinik auch mit den psychischen Folgen von Lockdown und Isolation zu tun?

Ja, wir hatten einige Patient*innen mit Exazerbationen ihrer psychischen Grunderkrankung. Für viele Menschen war es ein Stresstest, kaum mehr oder weniger soziale Bezugspunkte zu haben. Bei manchen hat sich dann noch die Arbeitssituation geändert oder sie hatten Einkommensverluste. Einige sind dabei dekompensiert, manche haben mit Angst und Aggression reagiert. Auch jede*r einzelne von uns Ärzt*innen hat dieses Jahr als eine Herausforderung erlebt – vor
allem, weil die Arbeitsbelastung bis heute sehr hoch ist.

Am 2.Dezember veranstalten Sie am IZAR ein Online-Symposium zu HIV und SARS-CoV-2. Warum beschäftigen Sie sich in dieser Situation auch noch mit HIV?

Schon früh während der ersten Welle haben wir gesehen, dass wir nicht blind für die anderen Herausforderungen der Medizin werden dürfen. Von der Weltgesundheitsorganisation gab es am Rande der Welt-AIDS-Konferenz im Juli erschreckende Zahlen: Weltweit ist nicht nur die Versorgung mit antiretroviralen Therapien kollabiert, sondern auch die Bereitstellung von Impfkampagnen, Schwangerschaftsvorsorge, etc. In Deutschland sahen wir plötzlich einen deutlichen Rückgang bei den Schlaganfällen und Herzinfarkten in Akutkrankenhäusern während der 1.Welle. Man muss schon Sorge haben, dass die Menschen das
Gesundheitssystem wegen Covid-19 nicht mehr aufgesucht haben. Es macht keinen Sinn, alle Krankenhausbetten und Ressourcen für Covid-19 vorzuhalten und alle anderen Probleme zu ignorieren.

Welche Gemeinsamkeiten sehen Sie bei HIV und SARS-CoV-2?

Auch wenn sie unterschiedlich übertragen werden: Beides sind Viren, die sich relativ schnell weltweit ausgebreitet haben und zuvor nicht bekannt waren. Beide sind vom Tierreich auf den Menschen übergegangen (Zoonosen). Daher auch unser Online-Symposium. Vom 25. bis 27. März 2021 veranstaltet die Deutsche AIDS-Gesellschaft (DAIG) außerdem virtuell den deutsch-österreichischen HIV-Kongress (DÖAK) unter dem Titel „40 Jahre HIV / AIDS. Pandemien – gestern und heute“. Ich finde, man kann aus beiden Pandemien viel lernen, sowohl was Angst und Stigmatisierung als auch was das Management der Erkrankungen anbelangt.

Wie stark gefährdet sind HIV-positive Menschen durch Covid-19?

Menschen, die eine gute antiretrovirale Therapie haben, haben generell kein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe. Diejenigen aber, die eine niedrigere Zahl an Helferzellen haben, sind erhöhter Gefahr komplizierter Verläufe ausgesetzt. Ein höheres Risiko bei Covid-19 haben darüber hinaus Menschen mit Übergewicht,
Lungen- oder Herz-Kreislauf- Erkrankungen einschließlich Bluthochdruck und Diabetes mellitus sowie Patienten jenseits des 60. Lebensjahrs. In Pflegeheimen haben
wir im Frühjahr und auch jetzt relevante Ausbrüche gesehen, bei denen viele Menschen gefährdet sind. Es stimmt natürlich theoretisch, dass wir Risikogruppen besonders schützen müssen. Doch dafür fehlen in der Praxis umsetzbare Konzepte. Vor allem die Möglichkeit eines Eintrags in Einrichtungen der Pflege und Medizin
vor Symptombeginn macht die Prävention sehr schwierig.

Gibt es grundsätzliche Überschneidungen zwischen den Risikogruppen für HIV und Covid-19?

In Deutschland ist die HIV-Population natürlich anders als in den Entwicklungsländern. Ansonsten gilt: In beiden Fällen sind besonders sozial schwächere Menschen stark gefährdet. Menschen die weniger von zu Hause im Home Office arbeiten können, können auch schlechter Abstand halten und haben so ein höheres Risiko für Covid-19. 

Wie realistisch ist ein Impfstoff gegen Covid-19?

Gegen HIV haben wir heute, auch nach 40 Jahren, noch keine Impfung. Dafür gibt es effektive Therapien. Bei Covid-19 besteht zwar Hoffnung auf eine Impfung, aber wie wirksam sie dann sein wird, weiß bisher noch niemand. Die derzeitigen Impfstoffkandidaten haben gezeigt, dass sie das Immunsystem aktivieren und eine Antikörperproduktion induzieren können. Immunität ist möglich – das sieht man auch daran, dass es, bis auf wenige Einzelfälle, nicht sofort zu einer zweiten Erkrankung kommen kann. Doch die Impfstoffentwicklung dauert normalerweise 15 Jahre, und nur etwa sechs von hundert Kandidaten werden zu Ende entwickelt. Jetzt geht alles sehr schnell und mit hohem ökonomischem Risiko: Sicherheit und Effektivität muss dennoch oberste Maxime sein. Unabhängig von Covid-19 wissen
wir von anderen respiratorischen Viren wie der Influenza, dass eine anhaltende Immunität nur schwer erreicht werden kann, sodass wiederholt geimpft werden muss.

Welchen Einfluss hat die Forschung zu SARS-CoV-2 auf die Forschung zu HIV?

Ich fürchte eher keinen positiven: Sehr viele Forschungskapazitäten werden derzeit zu Covid-19 umgelenkt. Das gilt für pharmazeutische Unternehmen und Organisationen, die vorher zu HIV geforscht haben, und auch für uns. Übrigens gibt es für HIV trotz intensiver Forschungsbemühungen bis heute keinen Impfstoff
zur Prävention vor HIV. Mittlerweile gibt es zum Glück eine effektive Präexpositionsprophylaxe (PrEP), die die Wahrscheinlichkeit einer Infektion um 86-99 Prozent reduziert. Im Vergleich dazu muss ein Impfstoff erst besseren Schutz „bringen“.

Können wir aus unseren Erfahrungen mit HIV etwas für Covid-19 lernen?

Definitiv. Auf beides wurde zunächst auch mit Angst reagiert. Es liegt in der Natur des Menschen, sich von Kranken fernzuhalten, um sich selbst zu schützen. Teilweise haben Menschen mit Covid-19 aber wie AIDS-Kranke erlebt, dass sich ein Großteil des sozialen Umfelds von ihnen abwandte. Dabei heilt Covid-19 aus
und bringt danach Immunität mit sich. In beiden Fällen – bei AIDS und Covid-19 – gab es Bestrebungen, Risikogruppen zunächst zu isolieren, weil man Angst vor Übertragung hatte. Meiner Meinung nach können wir aus allen vergangenen Pandemien etwas lernen, auch aus den Influenza- Pandemien. Insbesondere in der
Diskussion der Unterbrechung von Infektionsketten durch Immunisierung oder nach überstandener Infektion kann von anderen Erkrankungen gelernt werden: Das Konzept der Herdenimmunität forderte in der Zeit vor verfügbaren Impfstoffen einen sehr hohen Preis.

Was ist für SARS-CoV-2 noch in der Forschungs-Pipeline?

Ich glaube, dass noch weitere wirksame Arzneimittel zur Zulassung kommen werden, so wie bei HIV. Es wird vermutlich auch Wirkstoffe zur Post- oder Präexpositionsprophylaxe von Covid-19 geben. Beim Thema Impfung gegen Corona muss man  allerdings realistisch sein. Corona wird uns sicher bis 2022 und darüber hinaus beschäftigen, selbst wenn es Impfstoffe geben wird. Der „Normalität vor Covid-19“ werden wir erst wieder nahe kommen können, wenn ein
Großteil der Bevölkerung Immunität gegenüber SARS-CoV-2 erworben hat – idealerweise durch eine sichere und effektive Impfung!


Das Gespräch führte Stephanie Hügler