Leitartikel

Hilfe für die Allerkleinsten Muttermilchbank kann Darmentzündungen bei Frühgeborenen verhindern

Man stelle sich vor, durch den Stress auf der Flucht vor König Herodes wäre das Jesuskind zu früh geboren worden. Man stelle sich weiter vor, Maria habe noch keine Milch produziert. Weihnachten wäre heute wohl nicht das, was es ist. Dass auch sehr kleine Frühgeborene Muttermilch erhalten, dafür sorgen unter anderem Muttermilchbanken. Die MÄA sprachen mit dem Leiter der Neonatologie der Kinderklinik am Perinatalzentrum und der Münchner Muttermilchbank am Klinikum der LMU, Prof. Dr. Andreas W. Flemmer.
Muttermilchbank

Herr Prof. Flemmer, wozu braucht es eine Muttermilchbank in München?

Unsere Muttermilchspenderbank ist vor allen Dingen dazu da, ganz kleine Frühgeborene in den ersten Lebenstagen ausschließlich mit humaner Milch zu versorgen – solange, die eigene Mutter noch nicht ausreichend Milch produziert. Denn der Darm eines Frühgeborenen kann die auf der Basis von Kuhmilch hergestellte Industriemilch einfach schlechter verdauen. Zudem befinden sich in der Muttermilch viele, modern ausgedrückt, probiotische Stoffe, die die Darmentwicklung positiv beeinflussen.

Flaschenmilch ist in den ersten Lebenstagen also keine Alternative?

Vor allem für die ganz kleinen Frühgeborenen, die weniger als 1.250 Gramm wiegen, ist Flaschenmilch zwar gut auf die kindlichen Bedürfnisse angepasst, sie kann aber die Vorzüge humaner Muttermilch nicht kopieren. Wir versorgen vor allem diese allerkleinsten Frühgeborenen, die oft sogar unter 1.000 Gramm Geburtsgewicht mitbringen, mit Muttermilch. Diese Babys haben in den ersten Lebenswochen ein besonders hohes Risiko für eine Darmentzündung, die dazu führt, dass die Kinder schwer krank werden können. Die Verwendung von Muttermilch, insbesondere roher Muttermilch, kann dieses Risiko deutlich senken.

Wie kommen Sie an die Milch?

Zusammen mit unseren Pflegenden, speziell ausgebildeten Still- und Laktationsberaterinnen, sprechen wir Mütter an, die bereits bei uns auf Station liegen und überschüssige Milch haben, ob sie Spendermilch für die Milchbank zur Verfügung stellen möchten. Meist befinden sich diese Mütter schon ausreichend lange in der Milchproduktion und haben daher überschüssige Milch. Bevor sie spenden, müssen sie aber ganz detailliert untersucht werden, ob sie als Spenderinnen in Frage kommen - ähnlich intensiv wie ein Blutspender auf seine Tauglichkeit dafür untersucht wird. Ist dies der Fall, pumpen die Mütter, die sowieso zu ihren eigenen Kindern auf die Station kommen, ihre überschüssige Milch in einem hygienisch einwandfreien Raum unter Aufsicht ab. Anschließend wird eine Probe aus jeder Milchportion entnommen, um Krankheitserreger in der Milch auszuschließen, bevor diese steril verpackt und schockgefroren wird. Die gefrorene Milch können wir dann bei Bedarf auftauen und anderen Kindern geben.

Gibt es wie bei der Blut- oder der Organspende einschränkende Faktoren wie Blutgruppen oder bestimmte Gewebemerkmale?

Nein, die gibt es zum Glück nicht, und das macht unsere Arbeit natürlich leichter als die von in der Blut- oder Organspende tätigen Ärzten. Doch was die Sicherheit vor Viren und Bakterien anbelangt, ist unsere Tätigkeit mit der von Blutbanken vergleichbar.

Wie einfach ist es, die Mütter zu überzeugen?

Die Mütter, deren Kinder auf Station liegen, haben meist selbst ihr Kind zu früh auf die Welt gebracht und haben daher oft ebenfalls von einer Milchspende profitiert. Sie haben daher größtes Verständnis für die Lage anderer Mütter und freuen sich oft, etwas zurückgeben zu können.

Gibt es auch Mütter, die Bedenken haben, weil sie befürchten, dass so nicht genug für ihr eigenes Kind übrig bleibt?

Eigentlich nicht, denn wir sprechen ja vor allem die Mütter an, die sehr viel Milch zur Verfügung haben. Die Mütter sehen, dass genug für ihr Kind da ist und dass es trotzdem wächst und gedeiht.

Was sind die Ausschlusskriterien für eine Spende?

Dazu zählen sämtliche Virusinfektionen, die über die Muttermilch übertragen werden könnten. Zum Beispiel sprechen wir ausschließlich Mütter an, die noch nie in Kontakt mit dem Zytomegalievirus gekommen sind, denn das Virus wird unter anderem über die Milch übertragen. Außerdem verwenden wir keine Milch von Raucherinnen, und die Mütter müssen glaubhaft versichern können, dass sie keine Drogen nehmen, etc. Es gibt also eine ganze Reihe an Kontraindikationen.

Sind Sie auch offen für Spenderinnen, die nicht bei Ihnen auf Station liegen?

Zu Beginn des Projekts vor über fünf Jahren hatten wir relativ streng gesagt, dass nur Mütter spenden dürfen, die vor Ort abpumpen können. Das waren in der Regel Mütter, deren Kinder bei uns auf Station lagen. Da wir aber zuletzt einen zunehmenden Bedarf an Milch hatten, haben wir auch schon Spenderinnen akzeptiert, die von zu Hause zu uns kamen, ohne dass ihr Kind bei uns auf Station lag. Eine solche Spendebereitschaft ist natürlich ganz besonders toll. Wir haben immer wieder Bedarf an Spenderinnen. Allerdings sollten sich potentielle Spenderinnen klar machen, dass eine Spende für sie einen sehr hohen Aufwand bedeutet. Sie müssen bereit sein, zu uns ins Haus zu kommen und müssen vorher Bluttests über sich ergehen lassen, etc. Von zu Hause oder beim Kinderarzt zu spenden, ohne in die Klinik zu kommen, geht nicht, denn wir unterliegen ganz klaren Auflagen der Aufsichtsbehörde für Lebensmittelsicherheit.

Wie oft kann gespendet werden? Erhalten die Mütter dafür eine Aufwandsentschädigung?

Die Mütter spenden meistens wiederholt – täglich oder mehrmals in der Woche. Wie oft sie das tun, ist sehr variabel. Die Spenden sind alle pro bono, also vollkommen selbstlos. Das finden wir auch gut so, da dadurch jegliche Gefahren einer Kommerzialisierung der Frauenmilchbank ausgeräumt sind. Bei finanziellen Anreizen könnte dadurch zum Beispiel das Risiko, Milch von unsichereren Spendern zu erhalten erhöht sein.

Haben Sie eine Übersicht, wie viele Kinder seit Beginn Ihrer Arbeit versorgt wurden?

In den ersten fünf Jahren seit der Gründung der Frauenmilchbank wurden 107 Liter Milch an 843 Tagen gesammelt. Damit konnten wir insgesamt 265 Kinder, meist mit einem Geburtsgewicht unter 1.250 g, versorgen.

In früheren Jahren, vor dem Aufkommen von HIV und AIDS, gab es in Deutschland viele Muttermilchbanken...

Die letzten Muttermilchbanken gab es in Westdeutschland noch bis zu den 1970er Jahren. Sie wurden dann aber tatsächlich wegen der Ansteckungsgefahr mit HIV geschlossen. Wir in Großhadern waren vor fünf Jahren die ersten in Westdeutschland, die eine Muttermilchbank neu eröffnet haben. Heute gibt es bundesweit wieder mehrere Muttermilchbanken, unter anderem in Passau und in Dortmund. Wir unterstützen diese neuen Einrichtungen, wo immer es geht, weil sie so sinnvoll sind. Wir sind momentan aber die einzige Muttermilchbank in München. Gelegentlich versorgen wir zwar auch die Frauenklinik in der Maistraße mit. Für ganz München reicht unsere Kapazität aber leider noch nicht aus.

Wie begegnen Sie Skeptikern, die trotz hoher Sicherheitsvorkehrungen eine Übertragung von Krankheitserregern befürchten?

Wir sind ganz offen und sagen ehrlich, dass es immer ein gewisses Restrisiko gibt. Das Risiko einer schweren Darmentzündungserkrankung liegt bei Frühgeborenen in Deutschland aber bei 3 bis 10 Prozent. Wir haben seit der Einführung der Frauenmilchbank praktisch keine entzündlichen Darmerkrankungen mehr beobachtet. Wenn man dieses Risiko auf nahezu Null senken kann, ist das meiner Ansicht nach ein höheres Gut als das Risiko von 1 zu einer Million, dass ein Virus übertragen wird. Hinsichtlich einer HIV-Infektion ist die Spende heute jedenfalls sicher, da alle Mütter vorher von uns getestet werden.

Für Ihre Arbeit erhalten Sie immer wieder Spenden. Unter anderem haben Sie vor Kurzem eine Spende über 45.000 Euro erhalten. Was machen Sie mit solchen Spenden?

Mit dieser Spende konnten wir eine weitere Still- und Laktationsberaterin nachhaltig in Teilzeit beschäftigen. Wir freuen uns immer über Unterstützung, weil wir unser Projekt natürlich ständig verbessern möchten. Wir würden künftig gern unsere personelle Ausstattung weiter aufstocken, damit die Logistik noch besser läuft.

Was ist Ihre Botschaft an die Münchner Ärztinnen und Ärzte?

Wenn sich jemand für unser Projekt interessiert, kann er sich jederzeit an mich oder an unseren Förderverein „FrühStart ins Leben, e.V.“ wenden: www.fruehstartinsleben.de, der vor allem den Aufbau der Frauenmilchbank erst ermöglicht hat. Über den Verein kann auch direkt für unsere kleinen Patienten und deren Familien gespendet werden. 

Das Gespräch führte Stephanie Hügler