Leitartikel

Handchirurgie, Fingerleicht operiert

Viele Berufsgruppen sind stark auf ihre Hände angewiesen, darunter auch Musiker*innen. Mit einer neuen Methode können Chirurg*innen wie Prof. Dr. Kai Megerle, Chefarzt der Handchirurgie an der Schön Klinik München Harlaching, nach Eingriffen nun schon auf dem OP-Tisch kontrollieren, ob alles geklappt hat.
Handchirurgie, Fingerleicht operiert
Handchirurgie, Fingerleicht operiert

Foto: shutterstock

 

Herr Prof. Megerle, Sie haben jahrelang für die Musikerambulanz am Klinikum rechts der Isar gearbeitet. Welche Musiker*innen haben Sie dort behandelt?

Den überwiegenden Anteil bildeten Orchestermusiker*innen. Profi-Musik ist quasi wie Hochleistungssport für die Hand. Praktisch jede*r hat im Laufe der Karriere irgendwelche Probleme. Verletzungen sind für betroffene Musiker*innen aber nicht nur einschränkend, sondern potentiell existenzbedrohend. Gleichzeitig ist das Thema unter Profi-Musiker*innen stark tabuisiert, denn in diesem Bereich herrscht viel Konkurrenz. Viele kamen und kommen daher erst sehr spät zu uns und wollen auf keinen Fall operiert werden. Bei den meisten ist das auch nicht nötig. Oft hilft es schon, den Patient*innen den Druck zu nehmen, indem wir ihnen Therapeut*innen an die Hand geben und eine Perspektive zeigen. In Kombination mit neuen Übungsstrategien lassen sich viele Beschwerden gut in den Griff kriegen

Wie viel Prozent Ihrer Patient*innen war bzw. sind aktive Musiker*innen?

Ihr Anteil ist relativ gering, allerdings wissen wir das aufgrund der Tabuisierung nicht genau. Ich schätze, dass wir im Klinikum rechts der Isar, einer großen und interdisziplinär aufgebauten Musikerambulanz, etwa 150 Musiker*innen pro Jahr behandelt haben. Darunter befanden sich neben Orchestermusiker*innen auch Student*innen der Hochschule und sehr ambitionierte Laienmusiker*innen. Unterm Strich rechnet sich eine Ambulanz für Musiker*innen eher nicht, aber sie hilft, das Fachgebiet und unser Angebot bekannt zu machen. Zu uns kamen viele Patient*innen, die kein Instrument spielten, aber in den Medien davon gehört hatten.

Welche Beschwerden an der Hand haben Musiker*innen, aber auch Ihre sonstigen Patient*innen?

Bei Musiker*innen können wir die meisten Beschwerden unter der großen Kategorie „Überlastungssyndrom“ zusammenfassen. Dieses sollte man zunächst meist nicht operieren. Anders ist es bei Unfällen. Innerhalb der Handchirurgie ist die Streitfrage, bis wohin die Hand reicht. Wir versorgen Beschwerden bis zum Ellenbogen. Hinsichtlich der Diagnosen ist alles dabei: Brüche, Unfälle mit Kreissägen, Küchenunfälle, aber auch Arbeitsunfälle oder Stürze aus großer Höhe. Hinzu kommen Arthrose, Nervenkompressionssyndrome und auch Tumoren. Ein besonderer Schwerpunkt sind mikrochirurgische Rekonstruktionen und periphere Nervenchirurgie:

Sie haben sich auf eine neue OP-Technik spezialisiert – die sogenannte WALANT-Chirurgie (Wide awake local anesthesia no tourniquet). Was ist das Besondere daran?

Gerade bei Operationen an der Hand verliert man als Chirurg schnell die Übersicht, weil es dort stark blutet, weshalb bisher fast alle Operationen mit einer Blutsperre durchgeführt wurden. Weil das aber extrem unangenehm ist und Patient*innen dies maximal ein paar Minuten lang aushalten, brauchte man bisher für alle Handoperationen eine Narkose am ganzen Arm oder eine Vollnarkose. Mit der WALANT-Methode können wir auf die Blutsperre verzichten, indem wir dem Narkosemittel Adrenalin beimischen. Dadurch verengen sich die Blutgefäße im Operationsgebiet, sodass man eine sehr gute Übersicht hat. Die kleine Handchirurgie wird mit der WALANT-Methode für uns Chirurg*innen und die Patient*innen angenehmer, weil man sich dabei unterhalten kann. Bei der anspruchsvollen Handchirurgie ist der große Vorteil, dass die Patient*innen ihre Finger während der OP weiter bewegen können. Dadurch ergeben sich ganz neue Möglichkeiten. Zum Beispiel sehen wir sofort, ob eine Naht hält, die Sehnenlösung korrekt ist oder ob man motorische Ersatzoperationen richtig durchgeführt hat. Man bekommt auch mehr Vertrauen in die Nachbehandlung, wenn man sieht, dass die Naht gut hält.

Können Sie ein Beispiel für eine anspruchsvolle Operation nennen?

Bei motorischen Ersatzoperationen ersetzen wir gelähmte oder anderweitig beschädigte Sehnen, indem wir die Sehnen funktionierender Muskeln am Ansatz durchtrennen und auf den Ansatz der funktionslosen Sehne umlagern. Ein gutes Beispiel ist die Daumen-Strecksehne, die z.B. bei Radiusfrakturen reißen kann. Also lagert man die Zeigefingerstrecksehne um. Die Patient*innen lernen erstaunlicherweise oft schon in wenigen Minuten, dass das, was vorher den Zeigefinger gestreckt hat, nun den Daumen nach oben bringt. Die Schwierigkeit für uns ist dabei, die Spannung richtig einzustellen. Ist sie zu stark, können die Patient*innen den Daumen nicht mehr beugen, ist sie zu schwach, reicht die Kraft nicht aus, ihn anzuheben. Mit der WALANT-Methode können wir die Spannung auf dem OP-Tisch ganz korrekt einstellen. Man kann WALANT auch mit anderen Verfahren kombinieren, zum Beispiel mit einem Schmerzkatheter für den Oberarm oder einer Kurznarkose.

Sind Ihre Patient*innen genauso begeistert von dieser Operationsmethode?

Wir haben die Komplikationen aufgearbeitet und wissen daher: Manche Patient*innen sind dafür nicht geeignet, weil sie die örtliche Betäubung nicht mögen und lieber nichts von der Operation mitbekommen möchten. In diesen Fällen überreden wir die Patient*innen auch nicht dazu, denn diese Bedenken muss man ernst nehmen. Es geht ja auch anders. Viele Patient*innen finden die Methode aber sehr gut, weil sie mehr Angst vor einem Kontrollverlust haben als vor der Operation selbst. Bei dieser Methode merken sie, was passiert. Und sie können vorher in Ruhe frühstücken und ihre Medikamente weiter nehmen. Aspirin und andere Gerinnungshemmer können meist normal weiter eingenommen werden.

Gibt es weitere Vorteile?

Die Methode ist vergleichsweise günstig, weil dabei die Anästhesist*innen sozusagen „eingespart“ werden. Eine Ampulle mit Adrenalin und Narkosemittel kostet etwa zehn Euro, spart aber manchmal Stunden an normaler Anästhesiekapazität. Diese monetäre Ersparnis steht für uns sicher nicht im Vordergrund, aber die Unabhängigkeit von Anästhesiepersonal kann z.B. im Bereitschaftsdienst ein großer Vorteil sein. Als Handchirurgen standen wir am Klinikum rechts der Isar vor allem nachts in Konkurrenz zu allen anderen Fachgebieten und Verletzungen. Wenn ein Polytrauma eingeliefert wurde, gingen die Anästhesist*innen natürlich sofort in den Schockraum. Für uns Handchirurgen bedeutete das aber oft stundenlanges Warten. Jetzt können wir schon in der Notaufnahme einspritzen und kurz darauf die OP beginnen. Außerdem können wir einiges an Müll vermeiden. Im Vergleich zu einer herkömmlichen Anästhesie ist unsere Mülltüte nach der Operation viel kleiner. Die WALANT-Methode ist zudem sehr gut für ärmere Länder geeignet, in denen Anästhesist*innen fehlen und wo nun viele Patient*innen erstmals an der Hand operiert werden können.

Verbessert sich auch das Outcome dadurch, dass Sie womöglich schneller operieren können, weil Sie nicht auf die Anästhesie warten müssen?

Diese Frage ist schwer zu beantworten, weil das Outcome etwa bei Sehnenoperationen von sehr vielen kleinen Parametern abhängt. Es macht grundsätzlich einen großen Unterschied, wer operiert, und auch die Voraussetzungen bei den Patient*innen sind extrem unterschiedlich. Ich persönlich bin aber fest davon überzeugt, dass meine Sehnennähte noch wesentlich besser geworden sind seit ich die Methode anwende, obwohl ich schon vorher viel Erfahrung hatte. Wir lernen einfach jedes Mal hinzu.

Gibt es weitere Vorteile für die Patient*innen?

Schon auf dem OP-Tisch erleben viele einen Aha-Effekt, vor allem bei Revisionsoperationen. Wenn man nach Brüchen oder Sehnennähten verklebte Sehnen löst können viele Patient*innen nach Monaten plötzlich wieder ihre Finger bewegen. Andersherum kann man sich auch vor der OP viel in die Tasche lügen und erhält dann auf dem OP-Tisch ein realistisches Bild. Idealerweise sind die Handtherapeut*innen schon bei der OP dabei und sehen, was theoretisch alles geht. Da das nicht immer möglich ist, machen wir manchmal auch Videos von der Operation, die sie sich später ansehen können.

Gibt es auch Nachteile?

Wir haben am Klinikum rechts der Isar kontrolliert, ob bei WALANT-Operationen mehr passiert oder ob sie länger dauern, und beides ist nicht der Fall. Bei der sogenannten „Tumeszenz“ infiltriert man das Operationsgebiet aber direkt mit dem Adrenalin, sodass das Gewebe etwas aufquillt. Manche Chirurg*innen stört das. Ein zweiter Nachteil ist eine gewisse Rechtsunsicherheit, weil in vielen Lehrbüchern noch immer steht, dass man kein Adrenalin in Finger spritzen darf. Das ist aber kompletter Unsinn. Zwar gab es Anfang des 20. Jahrhunderts einige wenige anekdotische Berichte, dass Patient*innen nach Adrenalininjektionen Finger verloren haben. Doch mittlerweile ist vielfach belegt, dass diese damals wahrscheinlich ein „umgekipptes“ Betäubungsmittel erhalten haben. Heute wird die Methode weltweit zigtausendfach verwendet und mit Studien begleitet. In Notfällen könnten wir immer einen Alpharezeptorenblocker hinterherspritzen, den wir immer vorrätig haben. Wir haben ihn bisher aber noch nie gebraucht. Auch bei herzkranken Patient*innen gibt es eine gewisse Unsicherheit. Wir führen diese Operationen daher manchmal mit einem „Stand-by-Anästhesisten“ durch, der daneben steht, und bitten zudem diese Patient*innen, vor der OP nüchtern zu bleiben. Auch in diesen Fällen hatten wir noch nie Schwierigkeiten. Altersmäßig gibt es nach oben hin jedenfalls keine Beschränkung. Gerade für ältere Menschen ist WALANT eine sehr schonende OP-Variante.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 16/17 vom 30.07.2021