Leitartikel

Gewalt in der Corona Pandemie, Kinder brauchen Schutz

Diesen Winter waren mehr Kinder länger allein mit ihren Eltern zu Hause als sonst. Hat das auch zu mehr Gewalt gegen Kinder geführt? Darüber und wie sich Ärzt*innen bei Gewaltverdacht informieren können, sprachen die MÄA mit der Leiterin der Bayerischen Kinderschutzambulanz der LMU München, Prof. Dr. Elisabeth Mützel.
Gewalt in der Corona Pandemie, Kinder brauchen Schutz
Gewalt in der Corona Pandemie, Kinder brauchen Schutz

Foto: shutterstock

 

Frau Prof. Mützel, haben Sie den Eindruck, dass es in über einem Jahr Corona-Pandemie mehr Kinderschutzfälle gab als sonst?

Wir haben vor Kurzem die Zahlen von 2019 und 2020 verglichen und dabei eine Zunahme entdeckt. Um das zu erklären, möchte ich aber erst etwas ausholen. Die bayerische Kinderschutzambulanz ist eine projektgeförderte Einrichtung des bayerischen Familienministeriums. Zu Beginn der dritten Projektphase am 1. Januar 2018 konnten wir eine Sozialpädadogin für unser Team gewinnen. Seither ist die Zahl der telefonischen Beratungen enorm gestiegen. Gleichzeitig sehen wir jedes Jahr eine Zunahme an körperlichen Untersuchungen, telefonischen Beratungen etc. Daher tun wir uns sehr schwer mit der Beantwortung der Frage, ob die Zunahme coronabedingt ist bzw. war. Kein Kind kommt zu uns und sagt: „der Papa oder die Mama ist wegen Corona ausgeflippt“. Was ich sagen kann: Wir haben zum Teil sehr komplexe Fälle, und diese komplexen Fälle haben zugenommen.

Was bedeutet das?

Wir hatten schon immer sehr belastete Familien, auch vor Corona. Viele betroffene Familien leben getrennt. Die Eltern befinden sich in einer konfliktreichen Beziehung zu einander, bei der das Kind quasi zwischen beiden Elternteilen „gefangen“ ist. Durch gegenseitige Vorwürfe, Verhandlungen bei den Familiengerichten etc. sind viele Eltern stark belastet. Wenn dann noch finanzielle oder andere Probleme hinzukommen, kann es krachen. Ich kann anhand meiner Zahlen nicht beurteilen, warum diese Fälle mehr gesehen werden. Ob dies an dem erweiterten Angebot durch unsere Sozialpädagogin liegt, können wir nicht differenzieren. Wir machen Werbung für unser Angebot, sodass auch der Bekanntheitsgrad eine Rolle spielen könnte.

Wie arbeitet die Sozialpädagogin?

Sie geht sehr aktiv auf die Eltern zu. Voraussetzung dafür ist, dass wir wegen Verdachts auf eine Kindeswohlgefährdung mit Kindern/ Jugendlichen und deren Familien Kontakt bekommen. Dies erfolgt, indem Kinderärzt*innen, Jugendamt oder die Eltern selbst an uns herantreten. Einige Elternteile melden sich von sich aus bei uns, um bei unerklärlichen Verletzungen ihrer Kinder herauszufinden, was vorgefallen ist. Die Sozialpädagogin bietet auf Wunsch Hilfen an oder verweist auf das Jugendamt bzw. ebnet den Weg zum Jugendamt, damit die Familien und Kinder von dort passgenaue Hilfen erhalten.

Bei den telefonischen Beratungsgesprächen sehen wir einen Anstieg von 2019 auf 2020, der aber bereits von 2018 auf 2019 zu verzeichnen war. Manche Telefonate sind zeitlich aufwändig, und es müssen in manchen Fällen auch mehrere Telefonate geführt werden.

Sind nur die telefonischen Kontakte gestiegen?

Die Zahl der körperlichen Untersuchungen ist nicht gestiegen. 2019 und 2020 hatten wir jeweils 95 körperliche Untersuchungen in der bayerischen Kinderschutzambulanz. Für Ärzt*innen und Jugendamt bieten wir zudem das Telemedizin-Portal „remed-online“ an. Es ist datenchutzgesichert. Kolleg*innen können damit einen Verdachtsfall auf Kindeswohlgefährdung oder andere Verdachtsfälle von Gewalt unter geschützten Rahmenbedingungen anonym schildern und unsere Meinung dazu einholen. Auch Bilder lassen sich über das Portal übertragen. Die Kontaktaufnahme über remed-online hat von 2019 auf 2020 zugenommen, besonders in der zweiten Jahreshälfte 2020. Es gab auch mehr E-Mail-Kontakte zu bayerischen Ärzt*innen.

Welche Kinder sind aus Ihrer Sicht besonders durch Gewalt gefährdet? Gibt es Unterschiede etwa beim Alter oder Geschlecht?

Dazu haben wir nur eine kleine, unvollständige Erhebung für 2019 und 2020 vorliegen. Grundsätzlich waren in beiden Jahren mehr Mädchen als Jungen betroffen. Der unterschiedliche Anteil der beiden Geschlechter war 2019 höher als letztes Jahr. Was weiterhin auffällt ist, dass wir 2019 einen Gipfel im Alter von drei bis knapp unter sechs Jahren sehen. Im Jahr 2020 hingegen gab es einen zusätzlichen Gipfel bei den Sechs- bis unter Zehnjährigen, also bei den Grundschulkindern. Weitere Auswertungen folgen noch. Wir möchten die Auswertungen von 2018 abwarten.

Im Vergleich zwischen 2019 und 2020 haben wir außerdem eine leichte Veränderung der Vorfallszeitpunkte. Hatten wir 2019 einen Häufigkeitsgipfel nach den Pfingst- und Sommerferien, im Juni, August und September, so lag der Gipfel 2020 im Juli und August, also während der Ferienzeit. Zum Ende des Jahres nahm die Häufigkeit der gemeldeten Fälle wieder deutlich ab. Zum sozialen Status haben wir derzeit keine Daten ausgewertet. Aus meiner Erfahrung kann ich aber sagen, dass Gewalt in allen sozialen Schichten zu finden ist. 

Wie schwer sind die Verletzungen der von Ihnen untersuchten Kinder und welche Art der Gewalt untersuchen Sie?

Die Kinder, die wir hier in der Ambulanz sehen, haben in der Regel keine schweren Verletzungen, sonst wären sie in der Klinik, und nicht bei uns. Schwer verletzte Kinder betreuen wir über die konsiliarische Beratung der Kliniken per Telefon, remed-online oder Emails mit. Hier in der Rechtsmedizin können wir derzeit nur körperliche und sexuelle Gewalt beurteilen, weil wir auf andere Formen von Gewalt wie seelische Gewalt nicht spezialisiert sind. Im Jahr 2019 hatten wir etwas mehr Verdachtsfälle auf körperliche als auf sexuelle Gewalt – 193 zu 135 Fälle. Im Jahr 2020 ist der Unterschied noch größer – mit 232 zu 173 Fällen. Diese Zahlen sind allerdings nicht komplett. Es handelt sich nur um die Fälle, die vorläufig ausgewertet wurden.

Wie einfach können Sie nachvollziehen, was passiert ist?

Ist immer klar, wer die Täter*innen sind? Das kann ich natürlich nur dann nachvollziehen, wenn der geäußerte Verdacht stimmt. Die Täter*innen stammen häufig aus der Familie oder der direkten Nachbarschaft. Darunter befinden sich häufig Vater, Mutter, Lebensgefährt*innen, Pflegeeltern, seltener Onkel, Tanten oder Großeltern. Weniger stehen Bekannte oder Freund*innen der Eltern unter Verdacht. Das trifft auf die vorläufigen Auswertungen von 2019 und 2020 zu.

Thema Schweigepflicht: Was raten Sie Ärzt*innen mit einem entsprechenden Verdacht? Wie können sie zu Ihnen in Kontakt treten?

Remed-online funktioniert nur anonymisiert bzw. pseudonymisiert, wenn Bilder vorhanden sind. Über diese Plattform können wir konsiliarisch beraten. Neben remed-online bieten wir Ärzt*innen auch E-Mail-Kontakte und telefonische Beratungen an. Hierbei können die Patientendaten selbstverständlich anonymisiert sein. Wenn nötig und möglich kann eine körperliche Untersuchung hier am Institut vereinbart werden. Dann allerdings nehmen wir die Daten von den Betroffenen durch die Sorgeberechtigten selbst oder die Jugendämter auf. Eine körperliche Untersuchung wird häufig vom Jugendamt angefordert. Manchmal kommen auch Sorgeberechtigte oder die Betroffenen selbst auf uns zu, wenn sie alt genug sind. Wir freuen uns, wenn Kinder- und Jugendärzt*innen diese an uns verweisen.

Worauf sollten Ärzt*innen achten und wann sollten sie sich an Sie wenden?

Alle Ärzt*innen, Jugendämter und Betroffene können sich zu jeder Zeit an uns wenden. Wenn wir ihre Fragen nicht selbst beantworten können, nennen wir andere Ansprechpartner*innen. Ärzt*innen aus Klinik und Praxis sollten achtgeben, wenn Verletzungen nicht zu den gemachten Angaben passen. Auch unterschiedlich alte oder besonders viele Verletzungen können einen Hinweis darstellen. Aufhorchen sollte man zudem, wenn Kinder oder Jugendliche verhaltensauffällig sind, z.B. besonders aggressiv werden, wieder einnässen, Alpträume haben oder spontan auffällig sexualisierte Dinge erzählen.

Manche Zeichen etwa der Vernachlässigung sind von außen sehr schwer zu erkennen. Eine Fortbildung kann helfen – z.B. bei der Fortbildungsakademie im Netz (s. Link im Kasten). Durchführbar sind dort verschiedene Module, z.B. zu seelischer Gewalt und psychisch kranken Eltern – ein sehr großes Thema – oder zum Fallmanagement in der Praxis. Die Module sind von der BLÄK zertifiziert, CME-Punkte können damit erlangt werden. Empfehlen möchte ich auch die Website „Kinderschutz in Bayern“ des bayerischen Familienministeriums (s. Kasten).

Auch wenn Sie das zahlenmäßig nicht belegen können – haben Sie eine Meinung zum Thema Gewalt gegen Kinder in der Corona-Pandemie?

Es gibt mittlerweile genügend Evidenz aus Studien, dass die Belastungen in den Familien durch die Pandemie gestiegen sind. Natürlich sind diese v.a. dort besonders groß, wo es vorher schon Probleme gab oder wo Kinder vorher schon Probleme hatten. Kinder mit gesundheitlichen/psychischen Problemen, Kinder, die alleine zu Hause sind und vereinsamen oder solche, die zu viel vor dem Internet oder dem Fernseher sitzen und wenig Kontakt nach Außen haben, sind aus meiner Sicht besonders gefährdet.

 

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Heft Nr. 13 vom 18.06.2021