Leitartikel

Gendermedizin, "Wir brauchen ein Umdenken"

Bei einer Covid-19-Infektion tragen Männer nach aktuellem Stand der Wissenschaft ein höheres Risiko als Frauen. Und auch sonst unterscheiden sich die Geschlechter medizinisch. Diese Unterschiede bewusst machen möchte die Fachreferentin für Gendermedizin an der München Klinik, Dr. Hildegard Seidl – zugunsten einer besseren Versorgung für alle.
Gendermedizin, "Wir brauchen ein Umdenken"
Gendermedizin, "Wir brauchen ein Umdenken"

Foto: shutterstock

Frau Dr. Seidl, was versteht man unter Gendermedizin?

Gendermedizin befasst sich mit geschlechterspezifischen, biologischen und sozialen, Faktoren bei Männern und Frauen, die Einfluss auf unsere Gesundheit haben – angefangen von der Prävalenz bis hin zur Diagnostik und Therapie. Sie ist daher für alle medizinischen und therapeutischen Berufsfelder relevant. Es geht darum, für alle die beste Diagnostik und Therapie zu finden, wenn diese geschlechterspezifisch variiert – und die Forschung zeigt: Das ist in vielen Bereichen der Fall. Unterschiede findet man aber erst, wenn man genau hinschaut.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Bereits in den 1980er Jahren hat man gesehen, dass Frauen nach einem Herzinfarkt sehr viel häufiger sterben als Männer. Die Forscher*innen wollten wissen, woran das liegt: Sind sie schwerer krank? Werden sie schlechter versorgt? Wird der Herzinfarkt nicht erkannt? Heute weiß man: Viele einzelne Faktoren spielen eine Rolle, angefangen bei der Prävalenz. Weil die Herzerkrankung damals vor allem Männern zugeschrieben wurde, wurde sie bei vielen Frauen zu spät erkannt. Heute wissen die meisten Ärzt*innen, dass Frauen häufig andere Symptome zeigen, meist vagale Symptome. Brustschmerzen nehmen sie oft weniger wahr, weil für sie die Übelkeit und das Erbrechen im Vordergrund stehen. Ihre Schmerzen teilen sie häufig ihren Ärzt*innen nicht mit. Dadurch werden sie später versorgt. Viele Frauen glauben zudem, dass die Symptome wieder vergehen werden. So kann es passieren, dass sie schließlich daheim im Bett sterben.

Wie ist die heutige Situation?

 Nach wie vor kommen Frauen weltweit mit einem Herzinfarkt später ins Krankenhaus als Männer, und sie sterben immer noch häufiger daran. Ein Faktor ist dabei natürlich das Alter: Frauen erleiden im Schnitt zehn Jahre später als Männer einen Herzinfarkt und haben dann oft noch andere Begleiterkrankungen. Es handelt sich hierbei aber nicht nur um einen Alterseffekt. Durch die verzögerte Einweisung kann man häufig nicht mehr so viel vom Herzmuskel retten. Zudem haben Frauen oft kleinere Gefäße als Männer, sodass die Komplikationsrate beim Setzen eines Stents oder bei der PCI höher ist. Sie erleiden auch häufiger einen MINOCA-Herzinfarkt ohne Beteiligung großer Gefäße.

Was könnte die Gendermedizin daran ändern?

Vor und in der Akutphase sollten Hausärzt*innen Aufklärung betreiben, damit Frauen früher eingewiesen werden können. An ihren kleineren Gefäßen kann man natürlich nichts ändern, aber ein genaueres Training bei den Operateur*innen hin zu mehr Fingerspitzengefühl könnte eine Verbesserung bewirken. Sich vor einem Eingriff an einer Patientin bewusst zu machen, dass man eine Frau vor sich hat, kann zu einem anderen Handeln führen.

Geht es bei der Gendermedizin vor allem um den Herzinfarkt?

Nein, mittlerweile sind viele Krankheitsbilder sehr gut erforscht. Unterschiede gibt es auch bei der Versorgung durch Niedergelassene bei chronischen Krankheiten. Zum Beispiel sind bei Frauen die Cholesterin- oder HbA1c-Werte oft schlechter eingestellt als bei Männern. Bei Herzinsuffizienz finden Resynchonisationstherapien seltener statt. Auch in der Schrittmacher- und der Defibrillationsversorgung sind Frauen benachteiligt. Frauen lehnen diese Therapien offenbar auch häufiger ab. Wenn man sie aber sorgfältig aufklärt, ihnen z.B. klar sagt, dass man damit schon viele gute Erfahrungen gemacht hat, sind sie oft genauso dazu bereit wie Männer. Manchmal wird Patient*innen aber nur mitgeteilt: „Man könnte noch dieses und jenes machen“. Und das führt bei ängstlicheren Menschen – und dazu zählen viele Frauen – eher zu einem Nein. Stattdessen wäre es wichtig nachzufragen, warum eine Therapie abgelehnt wird.

Kommunikation bei der Aufklärung lässt sich schlecht messen. Gibt es auch „harte Endpunkte“ bei den Studien?

Ja, z.B. für die Versorgung mit AR Blockern, Betablockern und ACE Hemmern. Man weiß mittlerweile, dass Frauen mit Herzinsuffizienz meist mit der Hälfte der Dosierung auskommen und so ihre Mortalität am niedrigsten ist. Weil Frauen aufgrund der Überdosierung aber häufiger unter Nebenwirkungen leiden, sind viele schließlich wenig adhärent und verweigern die Medikamente ganz. Gleichzeitig hat man bei Studien zu Herzschwäche mit erhaltener Pumpleistung starke Hinweise gefunden, dass Angiotensin-Rezeptor-Neprilysin-Inhibitoren (ARNI) zwar bei Frauen die Krankenhauseinweisungen und die Mortalität senken, bei Männern jedoch nicht. Da es in der Forschung immer noch nicht Standard ist, eine geschlechtergetrennte Auswertung zu akzeptieren, wurde das Ergebnis für Männer und Frauen zusammengefasst. Dies führte dazu, dass insgesamt keine Wirksamkeit nachgewiesen werden konnte und somit diese Erkenntnisse nicht in die Leitlinien aufgenommen wurden.

Was schließen Sie aus solchen wissenschaftlichen Pannen?

Es braucht ein Umdenken in der Wissenschaft: Laut Arzneimittelgesetz müssen Frauen bereits seit 2004 proportional zur Häufigkeit des Krankheitsbilds in der Entwicklung und Testung von Arzneimitteln berücksichtigt werden. Bis jetzt bestehen aber nur ein paar Journals auf einer getrennten Analyse der Geschlechter – das betrifft die Forschung zu Medikamenten und allen anderen Therapieformen, RCTs genauso wie Beobachtungs- und Versorgungsstudien. Insgesamt sind wir in der Forschung noch nicht wesentlich weitergekommen. Natürlich gibt es Gründe dafür: Die Teilnehmerzahl ist bei Studien oft nicht groß genug, um nach Geschlechtern getrennte signifikante Ergebnisse zu liefern. Aber auch wenn eine Studie mit mehr Teilnehmern teurer ist und sie mehr Menschen den Gefahren von Nebenwirkungen aussetzt: Sobald Anhaltspunkte für Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen, müsste eine zweite, größere Studie verpflichtend sein. Denn Anhaltspunkte allein finden fast nie Eingang in die Versorgungsleitlinien.

Was können Sie als Fachreferentin für Gendermedizin ändern?

Ich kann bei Tagungen, Kongressen etc. darauf hinweisen und den Finger in die Wunde legen. Auch, wenn es zäh ist – es hat sich etwas verändert. Mittlerweile gibt es in vielen Fachgesellschaften Arbeitskreise für Gendermedizin. Bei der München Klinik hat die Gendermedizin schon seit zehn Jahren Tradition und wird von der Klinikdirektion und – Geschäftsleitung sehr ernst genommen. Wir planen regelmäßig Veranstaltungen für das gesamte Personal. Speziell für PJ-Studierende halte ich Vorlesungen, und in der Facharztweiterbildung bieten wir „Journal Clubs“ an, in der ich Publikationen vorstelle. Außerdem stelle ich Literatur zu verschiedenen Fachgebieten in unserer Online-Bibliothek bereit oder verschicke sie direkt an die Ärzt*innen. Die Oberärzt*innen der Kardiologie haben dazu selbst sehr informative Fachartikel, auch für Niedergelassene, geschrieben (s. Links).

Ist Gendermedizin also nur etwas für Frauen?

Nein, denn mittlerweile weiß man, dass auch Männer medizinisch benachteiligt sein können, z.B. bei einer Covid-19-Infektion. Je nach Altersgruppe tragen sie ein drei- bis vierfach höheres Risiko für einen schweren Verlauf, wobei die Risiko Unterschiede bei den 50- bis 60-Jährigen am höchsten sind. Selbst wenn man bei Männern häufige Vorerkrankungen wie COPD und andere Risikofaktoren herausrechnet, bleibt immer noch ein um 50 bis 70 Prozent höheres Risiko. Dafür gibt es mehrere Erklärungen: Zum einen ist die Immunantwort bei Frauen prinzipiell besser – das hat mit den beiden X-Chromosomen zu tun. Hinzu kommt die vermehrte Expression von ACE2-Rezeptoren bei Männern, was sich bei Covid-19 negativ auswirkt. Außerdem hat Östrogen eher eine protektive, Testosteron hingegen eine eher negativ verstärkende Wirkung.

Hat dies auch Auswirkungen auf die Versorgung in der Corona-Pandemie?

Es sollte insgesamt für die Forschung gelten:  Biologische Unterschiede sollten bereits bei der Entwicklung neuer Medikamente, Impfstoffe und Therapien sofort im Blickfeld sein! Der Ansatz muss daher sein, so früh wie möglich solche Unterschiede zu erkennen und in die medizinische Entwicklung mit einfließen zu lassen. Wir müssen wissen: Wirkt ein Impfstoff oder wirken Medikamente bei Männern anders als bei Frauen? Brauchen Frauen eine andere Dosierung? Dazu gibt es aktuell übrigens ein EU-Paper mit einem dringenden Appell (s. Links).

Welche sozialen und psychologischen Komponenten spielen im Krankenhausalltag eine Rolle?

All unsere Wahrnehmungen, unser Handeln, unsere Kommunikation werden durch unsere bewussten oder unbewussten Rollenbilder und geschlechterspezifischen Stereotypen geprägt. Unseren Pflegenden machen wir die eigenen Rollenbilder und Klischees bewusst, damit sie professionell handeln können. Von Männern heißt es ja oft, dass sie keine Angst haben. Haben Pflegende ein solches Klischee im Kopf, geben sie Männern vielleicht keinen Raum, ihre Angst zu äußern. Und wer Frauen als sozial kompetenter einschätzt, macht ihnen vielleicht keine Hilfsangebote, weil er oder sie denkt, dass die Frauen sich schon zurechtfinden.

Zurück zur konkreten Versorgung: Welche geschlechterspezifischen Angebote gibt es bei der München Klinik?

Zur Wissensvermittlung und damit auch zur Verbesserung der Versorgung bieten wir Fachtage für Männer und Frauen an, auch für Patient*innen. Wir hoffen, dass unser geplanter Fachtag für die Mitarbeitenden in der München Klinik zur genderspezifischen Gewalt und Versorgung im Dezember stattfinden kann. Nächstes Jahr ist ein weiterer Fachtag zu Geschlecht und Diabetes geplant, der sich speziell an Diabetologen und alle Fachgruppen, die Menschen mit Diabetes betreuen, richtet und sicher auch für Patient*innen interessant ist. Darüber hinaus bieten wir seit September letzten Jahres eine Sprechstunde speziell für Jungen an. Urologen haben uns darauf hingewiesen, dass Männer häufig „Vorsorgemuffel“ sind. Während Mädchen oft unproblematisch von Pädiater*innen zu Frauenärzt*innen wechseln, gelingt der Übergang in die Erwachsenenversorgung bei Jungen oft nicht. Daher haben wir mittlerweile ein gutes interdisziplinäres Angebot entwickelt, bei dem Pädiater, Kinderurologen und Psychologen zusammenarbeiten, um z.B. bei Entwicklungsverzögerungen oder Problemen mit der Geschlechteridentität zu helfen.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler