Leitartikel

Fachkräftemangel in der Pflege - Mit Weitblick in die Zukunft

Die Coronapandemie hat deutlich gemacht: Gerade im Intensivbereich fehlen Pflegekräfte. Viele Kliniken steuern aus eigener Kraft gegen, darunter auch die München Klinik. Die MÄA sprachen mit Geschäftsführerin und Arbeitsdirektorin Susanne Diefenthal.
Fachkräftemangel in der Pflege  - Mit Weitblick in die Zukunft
Fachkräftemangel in der Pflege - Mit Weitblick in die Zukunft

Foto: München Klinik

 

Können wir uns jetzt in diesem Sommer endlich wieder auf andere Dinge konzentrieren als auf den Personalmangel in der Pflege?

Aus meiner Sicht sollten wir uns im Hinblick auf die Pflege tatsächlich auf andere Dinge konzentrieren als auf den Mangel. Der Mangel ist natürlich nicht vorbei, und er wird noch viele Jahre bestehen. Wir sollten den Pflegeberuf aber lieber stärken und in der Öffentlichkeit ein positives Bild davon vermitteln. Schon vor der Pandemie hatten wir mit Personalmangel in der Pflege zu kämpfen. Schon damals haben wir bei der München Klinik intern mit Maßnahmen dagegen begonnen.

Wie kann die München Klinik den Pflegeberuf stärken?

Um mehr Kräfte für unsere Intensivstationen zu gewinnen, haben wir eine Taskforce gegründet. Mit unserer „Intensivkampagne“ haben wir sehr viele Menschen angesprochen und so einige Recruiting-Erfolge erzielt. Damit wir als Unternehmen besser agieren können, haben wir einen Rahmenvertrag zur Leiharbeit geschlossen. Allgemein konzentrieren wir uns sehr auf pflegeunterstützende Maßnahmen. Zum Beispiel rollen wir gerade an allen Standorten den Pflegeservice aus. Hier haben wir alle pflegeunterstützenden Tätigkeiten gebündelt, die von einem eigenen Team von Mitarbeitenden auf unseren Pflegestationen inklusive der Notaufnahmen durchgeführt werden. Wir tun ganz viel für die Pflege und gehen den Weg gemeinsam mit der Pflege.

 Insgesamt setzen wir stark auf die Fachlichkeit in der Pflege. Als erste Klinik in Deutschland führen wir das in Norwegen entwickelte digitale System VAR Healthcare ein. Dieses liefert evidenzbasierte Handlungsempfehlungen mit pädagogischen Illustrationen, sowie Zusammenfassungen neuester Forschung, Wissenstests und einen praktischen Rechner. Sämtliche Informationen sind über PC, Tablet oder Mobiltelefon abrufbar.

Auch das Thema kollegiale Fallberatung möchten wir noch ausweiten. Fort- und Weiterbildung bieten wir bei der München Klinik an unserer eigenen Akademie an, z.B. zu Notfallfachpfleger*innen oder Demenzexpert*innen. Bei ergänzenden Studiengängen unterstützen wir ebenfalls.

Wie ist die derzeitige Lage bei Ihnen in der Pflege?

Dass aufgrund der Pandemie Menschen aus der Pflege „geflohen“ sind, können wir nicht unterschreiben. Wir haben insgesamt sogar ein wenig mehr Zugänge als Abgänge. Aufgrund der gesetzgeberischen Vorhaben wie Pflegeuntergrenzen etc. haben wir aber unsere Bedarfe nach oben korrigiert. Wir haben jetzt noch mehr Stellen, als die, die wir schon vorher nicht besetzen konnten. Am meisten fehlen uns, wie allen Kliniken, die Fachkräfte in den pflegeintensiven Bereichen – also etwa auf den Intensivstationen oder in den OPs. Zwar ist auch dort die Personalsituation derzeit nicht viel schlechter als vor der Pandemie, aber Kräfte für diesen Bereich zu finden, wird tatsächlich immer schwieriger.

Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass immer wieder Pflegekräfte ihren Beruf verlassen?

 Die Arbeitnehmerkammer Bremen hat während der Coronapandemie eine bundesweite Studie mit dem Titel „Ich pflege wieder, wenn....“ durchgeführt. Als Gründe für ihre Abkehr vom Beruf nennen die Befragten verschiedene Themenbereiche, darunter Organisation und Führung in der Pflege, berufliches Selbstverständnis und Anerkennung, körperliche und psychische Anforderungen sowie die großen Themen Karriere und berufliche Perspektiven sowie Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die gleichen Punkte werden auch uns gegenüber immer wieder aufgeführt.

Sticht aus Ihrer Sicht ein Punkt besonders heraus?

Aus meiner Erfahrung ist es meistens eine Mischung, die Fachkräfte dazu bewegt, den Beruf zu verlassen. Das Thema berufliche Perspektiven und Karrieren ist sicher nicht zu unterschätzen. Leider sprechen wir häufig nur über die Pflege und zu wenig mit ihr, auch in der Politik. In der Öffentlichkeit kommt zu wenig an, dass die Pflege eine eigenständige Profession mit eigenen Anforderungen und Inhalten ist, und nicht nur ein Abklatsch des ärztlichen Berufs. Es braucht Ärzt*innen und Pflegekräfte, damit die Patient*innen genesen und das Krankenhaus verlassen können. Das wird in der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommen.

Was tut die München Klinik, um ihre ausgebildeten Pflegekräfte zu halten?

Wie schon erwähnt, setzen wir stark auf pflegeunterstützende Maßnahmen: Was nicht zwingend von der Pflege gemacht werden muss, z.B. Essen ans Bett bringen oder Patientenfahrdienste bestellen, übernimmt unser Pflegeservice. Diese Unterstützungskräfte haben einen eigenen Dienstplan und entlasten die Pflege täglich von 7 bis 19 Uhr – auch an Wochenenden und Feiertagen. Am Standort Schwabing haben wir damit gute Erfahrungen gemacht und möchten das Prinzip daher nun auf alle Kliniken ausweiten, gemeinsam mit der Pflege. Auch die Materialversorgung auf den Stationen – etwa mit Medikamenten, Verbandsmaterial, Spritzen, etc. – soll künftig nicht mehr von der Pflege erledigt werden müssen. Die Pflege soll sich ganz auf ihre spezifischen Inhalte und Tätigkeiten konzentrieren können.

 Wie können Sie die Pflege noch unterstützen?

Über unser betriebliches Gesundheitsmanagement helfen wir bei der Bewältigung der psychischen und körperlichen Anforderungen, während der Pandemie auch online. Genauso gehen wir das Thema Teambuilding und -entwicklung an. Künftig werden wir flächendeckend eine Supervision in der Pflege einführen, also einen regelmäßigen fachlichen und persönlichen Austausch mit eigens dafür geschulten Kräften über die Belastungen bei der täglichen Arbeit. Außerdem haben wir 2008 ein eigenes Kriseninterventionsteam für unsere Beschäftigten gegründet und 2017 auf alle fünf Standorte der München Klinik erweitert, das in der Coronazeit besonders wichtig war. Es übernimmt auch die Krisenbetreuung von Angehörigen und Patient*innen, und entlastet dadurch die Pflege – das ist deutschlandweit einzigartig. Über unseren Familienservice helfen wir unseren Beschäftigten zum Beispiel dabei, Pflegeplätze für ihre Angehörigen oder eine Kinderbetreuung zu suchen.

Können Sie auch bei den Themen Freizeit und Gehalt punkten?

Ja, unsere Gesellschafterin hat uns geholfen, eine München-Zulage für unsere Beschäftigten zahlen zu können. Gleichzeitig sollen freiwillige Zusatzdienste verhindern, dass wir bei Krankmeldungen Beschäftigte aus ihrer Freizeit zurückholen müssen: Unsere Pflegekräfte können in einem digitalen System eingeben, wann sie ggf. einspringen und gebucht werden können. Dafür erhalten Sie ein Zusatzentgelt. Die in Bayern leider nicht gesetzlich geregelten Pool-Leistungen werden bei uns entsprechend einer Betriebsvereinbarung sowohl an Ärzt*innen als auch an Pflegekräfte bezahlt.

Wie machen die München Kliniken den Beruf attraktiver für den Nachwuchs?

Wir haben eigene Pflegefachschulen, sowohl für examinierte Pflegekräfte als auch für die Pflegefachhilfe und OTA sowie ATA. Wer heute im Krankenhaus Pflegekraft werden möchte, kann heute nur noch die generalistische Ausbildung machen und muss auch Einsätze außerhalb der Kliniken nachweisen – in Altenpflegeeinrichtungen, der ambulanten Pflege und im Kinder- und Jugendbereich. Das ist manchmal eine logistische Herausforderung für uns und macht es auch schwerer, junge Menschen für uns zu begeistern. Daher begleiten wir unsere Auszubildenden intensiver als staatlicherseits vorgesehen, etwa mithilfe unserer – ebenfalls über unsere Gesellschafterin finanzierten – Ausbildungscoaches. Insgesamt bieten wir auch mehr Praxisanleitungen auf den Stationen an, als das Gesetz es vorsieht. Auf großen Zuspruch stoßen unsere intraprofessionellen Ausbildungsphasen, bei denen jeweils eine Auszubildendengruppe unter Begleitung von Fachkräften eine Woche lang selbstständig eine Station leitet. Auch interprofessionell bilden wir aus, zum Beispiel auf der Neonatologie der Schwabinger Kinderklinik auf der Grundlage des gemeinsam mit der Robert-Bosch-Stiftung durchgeführten Projekts IPANEO (Interprofessionelle Ausbildung in der Neonatologie). Auszubildende in der Pflege lernen dort gemeinsam mit PJ-Student*innen. Das kommt auf beiden Seiten sehr gut an, und wir möchten das Konzept daher noch auf andere Stationen ausweiten.

Provokativ gefragt: Können Sie es sich als Krankenhaus überhaupt leisten, so auf die „Befindlichkeiten“ von Pflegekräften Rücksicht zu nehmen?

Wenn ich unsere Pflegekräfte sehe, die jeden Tag extrem konzentriert, auf hohem fachlichem Niveau und gerade in der Pandemiezeit oftmals über die persönlichen Grenzen hinweg arbeiten, kann man aus meiner Sicht nicht von „Befindlichkeiten“ reden. Es gibt dringenden Handlungsbedarf, sonst funktioniert die Patientenversorgung künftig nicht mehr. Die Profession der Pflege ist schlicht erforderlich.

Was sollte die Politik also tun?

Sie sollte ihre eigenen Gesetze prüfen und deren Umsetzung finanzierbar machen. Unsere Unterstützungskräfte im Pflegeservice müssen wir derzeit selbst bezahlen, weil Hilfskräfte im Pflegebudget nicht vorgesehen sind. Es muss grundsätzlich überdacht werden: Wie viele Krankenhäuser brauchen wir? Wie soll die Versorgung der Zukunft aussehen? Außerdem muss endlich mit der Pflege gesprochen werden statt über sie: Sie war weder bei den Entscheidungen zu den Pflegepersonaluntergrenzen eingebunden noch hat sie ein Stimmrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA). Die Politik erlässt viele Gesetze, denkt sie aber oft nicht zu Ende. Nehmen Sie die primär qualifizierenden Studiengänge, die nun in Konkurrenz zur Praxisausbildung stehen. Für ihre Praxiseinsätze im Krankenhaus erhalten die Studierenden vom Staat kein Geld. Wir bezahlen sie dafür, weil wir das als selbstverständlich empfinden, aber diese Einsätze sind nicht refinanziert. In der Politik fehlt mir manchmal der Weitblick. Vieles erscheint mir als reiner Aktionismus.

Was können Ärztinnen und Ärzte tun?

Sie sollten anerkennen, dass der Pflegeberuf ein eigenständiger Beruf ist. Es braucht beide Professionen, den ärztlichen Dienst und die Pflege, um die Patient*innen bestmöglich zu versorgen. Beide Professionen sollten sich gegenseitig respektieren und sich als Team verstehen. Damit etwa eine gemeinsame Visite möglich ist, sollte diese auch in die Abläufe der Pflege passen. Beide Berufsgruppen müssen akzeptieren, dass sie nur miteinander das Beste erreichen.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 14 vom 02.07.2022