Leitartikel

Ex-Post-Triage, (Lebens-) Kritische Entscheidung

Menschen mit Behinderung müssen bei Knappheit von Intensivressourcen vor einer Benachteiligung geschützt werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon 2021 entschieden. Der Bundestag reagierte mit einem Verbot der Ex-Post-Triage. Doch ist dies wirklich wirksam und gerecht? Darüber sprachen die MÄA mit dem Medizinethiker Prof. Dr. Georg Marckmann.
Ex-Post-Triage, (Lebens-) Kritische Entscheidung
Ex-Post-Triage, (Lebens-) Kritische Entscheidung

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Herr Prof. Marckmann, die Ex-Post-Triage wurde im November 2022 gesetzlich klar verboten. Warum hört die Diskussion darüber dennoch nicht auf?

Weil keine gute Regelung getroffen wurde. Diese Regelung wird zum einen aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht mit guten Argumenten kritisiert. Gleichzeitig sind aber auch viele Vertreter*innen von Menschen mit Behinderung nicht zufrieden, durch deren Klage vor dem Bundesverfassungsgericht es erst zu diesem Gesetz kam. Es besteht also weiter Diskussionsbedarf. Der Bundestag hat das Bundesgesundheitsministerium zu einer Evaluation des Gesetzes spätestens bis Ende 2025 verpflichtet – unabhängig davon, ob das Gesetz wirklich zur Anwendung kommt. Das zeigt, dass wir noch einmal überlegen müssen, wie wir mit einer existentiellen Knappheit bei pandemiebedingt nicht ausreichenden Intensivressourcen umgehen sollen.

Warum sind Ärzteverbände, warum ist die Wissenschaft unzufrieden?

Durch das Verbot der Ex-Post-Triage sind alle Menschen, die bereits intensivmedizinisch versorgt werden, gesetzlich von den Zuteilungsentscheidungen zu Intensivressourcen ausgenommen – unabhängig von ihrer Prognose. Das ist wenig sinnvoll: Zum einen ist die Trennung in Ex-Post- und Ex-Ante-Triage künstlich. In jedem Klinikum gibt es eine bestimmte Zahl von Menschen, die dringend eine intensivmedizinische Behandlung brauchen – solche, die bereits intensivmedizinisch behandelt werden, solche, die noch in der Notaufnahme sind, und solche, die aktuell noch auf einer Normalstation liegen. Aus ethischer Sicht ist es allein schon wegen des Gleichheitsgrundsatzes nicht vertretbar, diese drei Gruppen unterschiedlich zu behandeln. Zweitens: Man kann in der Notaufnahme meistens noch gar nicht verlässlich abschätzen, welche Überlebenswahrscheinlichkeit die Patient*innen haben. Das kann man oft erst nach einigen Tagen intensivmedizinischer Behandlung. In der Pandemie hatten manche Patient*innen mit hohem Lebensalter und chronischen Erkrankungen gut überlebt, während teilweise Jüngere, ohne Begleiterkrankungen, verstarben. Wer jetzt intensivmedizinisch behandelt wird, muss nach dem Gesetz unabhängig von der Prognose weiterbehandelt werden – so lange, bis er oder sie trotz maximaler Intensivtherapie verstirbt.

Am Ende könnten so aber vielleicht einzelne Menschenleben gerettet werden?

Ja, aber viele werden trotz aller Bemühungen versterben. Denn dieses Vorgehen führt drittens dazu, dass sich die Intensivstationen mit hoher Wahrscheinlichkeit am Anfang einer Pandemie füllen und danach nur wenige Intensivbetten wieder frei werden. Dies führt nicht nur zu einer Ungleichbehandlung der später Erkrankten, sondern auch zu mehr Todesfällen insgesamt. Dies ist in Simulationen der Universität Augsburg nachgewiesen, und es gibt dazu eine breite Einigkeit in Wissenschaft und Ärzteschaft. Mein vierter Punkt bezieht sich auf eine besondere Paradoxie: Den größten Nachteil haben bei diesem Vorgehen vulnerable Menschen mit einem hohen Alter, einer Begleiterkrankung oder einer Behinderung, wenn sie mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Intensivtherapie benötigen. Wenn diese nicht gerade in der ersten Welle erkranken, haben sie später eine deutlich schlechtere Chance auf eine intensivmedizinische Behandlung. Damit nimmt das Gesetz vermehrte Todesfälle unter den Menschen bewusst in Kauf, die eigentlich durch das Gesetz besonders geschützt werden sollen. Seit Vorlage der ersten Gesetzentwürfe haben wir immer wieder auf dieses Problem hingewiesen. Leider hat das die Politik wenig beeindruckt.

Aber können Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verstehen?

Zur Ex-Post-Triage hat sich das Bundesverfassungsgericht gar nicht geäußert. Das überrascht mich nicht, da einige namhafte Jurist*innen sie als verfassungsgemäß einschätzen. Das Bundesverfassungsgericht hat nur festgestellt, dass es durch pauschale und stereotype Anwendung der Kriterien Gebrechlichkeit bzw. allgemeiner Gesundheitszustand zu Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung kommen könnte. Das aber wäre eine fehlerhafte Anwendung der von den Fachgesellschaften vorgegebenen Kriterien. Es ist aus meiner Sicht schlicht unmöglich, ein Gesetz zu verabschieden, bei dessen Anwendung es nicht zu Fehlern kommen kann. Auch im Zuge des Organspendeskandals beispielsweise wurden eigentlich klare Kriterien fehlerhaft angewendet. Menschen mit Behinderung hatten vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt, weil sie fürchteten, bei einer Zuteilung nach dem Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit systematisch benachteiligt zu werden. Interessanterweise hat das Gericht dieses Kriterium aber gar nicht kritisiert, sondern es sogar als verfassungskonform bestätigt. Es ist sehr bedauerlich, dass sich die Richter*innen nicht stärker damit und mit möglichen Alternativen auseinandergesetzt hat. Triage-Situationen sind immer furchtbar, und man kann daher jeden Vorschlag dazu intuitiv kritisieren. Dass ein beatmungspflichtiger Covid-19-Patient auf die Notaufnahme kommt und dann nicht behandelt wird, ist aus meiner Sicht genauso furchtbar.

Können Sie die Menschen mit Behinderung, die geklagt haben, verstehen?

Ja, sehr gut sogar – auch deshalb, weil das Medizinsystem nach wie vor nicht optimal auf die besonderen Bedürfnisse und Bedarfe von Menschen mit Behinderung eingestellt ist. Die eigentliche Frage ist aber: Was kann man tun, damit Menschen mit Behinderung bestmöglich behandelt werden? Durch ein Losverfahren wäre dies jedenfalls nicht gewährleistet, denn wenn in der ersten Welle die Intensivbetten ausgelost wurden, sind die Intensivstationen erst einmal voll. Zudem ist das Losverfahren hier schwer anwendbar, weil die Erkrankten nicht gleichzeitig, sondern nach einander ins Krankenhaus kommen. Wenn man pauschale Urteile reduzieren will, ist es das Beste, möglichst viele Menschen zunächst auf die Intensivstationen aufzunehmen, ihnen eine Chance zu geben und sie nur dann nicht mehr weiter zu behandeln, wenn sie zu denjenigen gehören, die die schlechteste Überlebenswahrscheinlichkeit haben. Dann würden alle gleich behandelt, die aus verschiedenen Gründen einen ungünstigen Verlauf haben. Menschen mit Behinderung hatten bei dieser Erkrankung ja auch nicht unbedingt ein höheres Sterblichkeitsrisiko. Gerade in ihrem Interesse müsste es sein, dass genügend Ressourcen für sie verfügbar sind.

Warum wurde das Gesetz aus Ihrer Sicht trotzdem so verabschiedet?

Egal, wie das Thema Triage ausfällt: Man verletzt starke moralische Intuitionen. Viele Politiker*innen, auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, finden die Ex-Post-Triage „unethisch“. Aber man darf bei dieser Intuition nicht stehenbleiben. Man muss die ersten Intuitionen prüfen und sich fragen: Was sind mögliche Alternativen, und welche Konsequenzen haben diese? Können wir es wirklich wollen, dass bei einem Ausschluss der Ex-Post-Triage mehr Menschen sterben? Ich finde nicht. Verständlicherweise tun sich Politiker*innen mit Gesetzen schwer, wenn es Widerstände von Menschen mit Behinderung gibt. Auch einige Vertreter*innen der Behindertenverbände haben sich aber aus den oben genannten Gründen für die Ex-Post-Triage ausgesprochen – zum Beispiel Stephan Kruip, Mitglied im Deutschen Ethikrat und Vorsitzender des Verbands Mukoviszidose e.V. Und warum ist es ethisch problematischer, jemanden von der Beatmung zu trennen als die Beatmung gar nicht erst zu beginnen? Das Einzige, was ich dazu gelesen habe, war der Vertrauensschutz, den man genießt, wenn eine Behandlung begonnen wurde. Allerdings beginnt die Behandlung ja nicht erst an der Tür zur Intensivstation, sondern bereits in der präklinischen Versorgung und der Notaufnahme.

Was ist also die am wenigsten schlimme Triage-Regelung für Menschen mit Behinderung?

Aus unserer Sicht ist es die Anwendung des Kriteriums der Überlebenswahrscheinlichkeit mit der Möglichkeit der Ex-Post-Triage. In einer aktuellen Simulation wurde belegt, dass beim Zulassen der Ex-Post-Triage die Sterblichkeit von Menschen mit Vorerkrankungen und einem höheren Sterblichkeitsrisiko stärker sinkt als bei anderen Patientengruppen. Nur wenn man alle möglichen Szenarien bis zum Ende durchdenkt, wird klar, was unter den vielen schlechten Möglichkeiten bei einer Triage die am wenigsten Schlimme ist. Wenn insgesamt mehr Menschenleben gerettet werden können, erhöht dies, statistisch gesehen, auch die Wahrscheinlichkeit jedes Einzelnen, gerettet zu werden. Daher haben wir uns in den Fachgesellschaften für die Ex-Post-Triage ausgesprochen – auch in der Akademie für Ethik in der Medizin.

Ist es nicht für die Familien besonders schwierig, wenn jemand aktiv vom Beatmungsgerät getrennt wird?

Es ist viel schlimmer, wenn jemand in die Notaufnahme kommt und dann nicht behandelt werden kann. Wenn jemand einige Tage intensivmedizinisch behandelt wird und sich die Situation dennoch immer weiter verschlechtert, können die Angehörigen eher verstehen, dass es kaum eine Hoffnung gibt. Stellen Sie sich vor, jemand in einer Familie wird schwer krank und das Losverfahren entscheidet dann, dass er nicht behandelt wird – obwohl die Erfolgsaussichten eigentlich gut wären.

Ist die Überlebenswahrscheinlichkeit also das, ethisch gesehen, einzig legitime Triage-Kriterium?

Aus meiner Sicht wäre höchstens das Lebensalter noch diskussionswürdig. Im Normalfall wäre das eine nicht akzeptable Altersdiskriminierung. In einer Knappheitssituation hätte es aber eine geringere Tragik, wenn ein 75-Jähriger nicht mehr behandelt würde als wenn dies bei einem 35-Jährigen geschähe – einfach deshalb, weil der 75-Jährige schon die Chance hatte, ein langes Leben zu leben und viele Lebenspläne zu verwirklichen. Das müsste man natürlich gesellschaftlich diskutieren. In der Covid-19-Pandemie war das weniger relevant, weil ältere Menschen ohnehin ein höheres Risiko für einen schweren Verlauf hatten. Bei der spanischen Grippe war das anders – damals hatte es auch Kleinkinder und 20- bis 40-Jährige schwer getroffen.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 01/2023 vom 23.12.2022