Leitartikel

Essstörungen: Wachsam sein und früh handeln

Eine Essstörung ist auch für Fachleute oft schwer zu erkennen, sagt Dr. Karin Lachenmeir vom Therapie-Centrum für Essstörungen (TCE). Anlässlich seines 30-jährigen Bestehens sprach sie mit den MÄA über Herausforderungen für Eltern und Mediziner.
Essstörungen: Wachsam sein und früh handeln
Essstörungen: Wachsam sein und früh handeln

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Frau Dr. Lachenmeir, wie viele und welche Kinder und Jugendlichen sind von Essstörungen betroffen?

Dazu kursieren unterschiedliche Zahlen. Bei der Anorexie schätzt man die Zahl auf 0,5 bis 1, bei der Bulimie auf 1 bis 1,5 Prozent und bei der Binge-Eating-Störung auf bis zu 5 Prozent der Bevölkerung. Allerdings unterscheiden sich die Zahlen von Studie zu Studie. Noch immer sind etwa zehnmal mehr Frauen betroffen als Männer und überwiegend junge Menschen. Dazu passt, dass auch zu uns überwiegend Mädchen und junge Frauen kommen. Das Erkrankungsalter bei Anorexie oder Bulimie liegt zwischen 14 und 19 Jahren. Ob die soziale Schicht oder Herkunft eine Rolle spielt, dazu gibt es keine eindeutigen Zahlen. Tendenziell sehen wir hier am TCE häufiger Patientinnen, die aufs Gymnasium gehen, aber mittlerweile geht ja ein Großteil aller Schülerinnen und Schüler aufs Gymnasium. Gelegentlich haben wir auch Patientinnen, deren Eltern einen Migrationshintergrund haben.

Woran merkt man als Mutter oder Vater, dass das eigene Kind von einer Essstörung betroffen ist?

Das ist gar nicht so einfach, weil es nicht das eine Warnsignal gibt. Oft sind es viele kleine Mosaiksteinchen, die jedes für sich harmlos sein können. Betroffene mit Anorexie oder Bulimie vermeiden oft fett- und kohlenhydratreiche Lebensmittel.Anfangs verzichten sie z.B. auf Süßigkeiten oder streben eine vegetarische bzw. vegane Ernährung an. Später lassen sie einzelne Mahlzeiten aus und essen nicht mehr mit der Familie. Das Essen wird oft klein geschnitten und sehr langsam verzehrt. Manche sortieren ihre Nahrung: Sie essen erst Salat und Gemüse und dann am Ende vielleicht noch ein kleines Stückchen Fleisch. Betroffene wiegen sich oft, klagen über ihr Aussehen und ihr Gewicht. Sport wird ein großes Thema. Viele beginnen exzessiv zu joggen oder gehen täglich stundenlang ins Fitnessstudio.

Ein solches Verhalten kann man bei Mädchen in der Pubertät allerdings häufig finden...

Ja, deshalb müssen immer mehrere Faktoren zusammenkommen. Betroffene leiden oft unter Stimmungsschwankungen, die Stimmung ist gedrückter oder gereizter. Es kommt zu einem sozialen Rückzug aus der Familie. Viele treffen sich aber auch nicht mehr so oft mit Freunden, weil dies häufig mit Essen verbunden ist – und sei es nur, dass irgendwo Chips auf dem Tisch stehen. Außerdem belegt die Essstörung meist den ganzen Tag mit Beschlag. Körperlich gesehen zeigt sich Anorexie an Gewichtsabnahme und dem Ausbleiben der Regelblutung. Bei Bulimie kann es zu einer unregelmäßigen Menstruationsblutung kommen. Manche Betroffene verhüllen sich sogar bei warmem Wetter, weil sie frieren. Hände und Füße sind oft blau. Auch Haarausfall und sehr trockene Haut können Warnsignale sein. Meist wird man nicht alles beobachten, aber je mehr Faktoren zusammenkommen, umso wachsamer sollte man sein.

Die vegetarische bzw. vegane Ernährung und auch Sport sind gesellschaftlich positiv besetzt. Wie unterscheidet man normales von krankhaftem Verhalten?

Den Unterschied machen die Häufigkeit, die Intensität und die Getriebenheit. Viele Betroffene haben keine andere Wahl als ihr Essen einzuschränken. Ihr Verzicht ist in der Regel kein Ausdruck ethischer Grundsätze. Einen Eisbecher mit Sahne zu essen, ist oft nicht mehr möglich, weil das zu angstbesetzt ist. Bewegung hat nichts mehr mit Spaß zu tun, sondern ist wie ein innerer Zwang. Und in der Regel spürt man eine Stimmungsveränderung. Aber Sie haben völlig Recht: Viele Symptome einer Essstörung sind zunächst einmal gesellschaftlich anerkannt oder werden sogar begrüßt. Betroffene bekommen anfangs sogar oft viel Zuspruch, vor allem, wenn sie ursprünglich im oberen Normalgewichtsbereich lagen oder sogar leicht übergewichtig waren.

Wie ist die übliche Reaktion von Eltern?

Das ist sehr unterschiedlich. Frau Professor Janet Treasure vom King’s College in London, die bei uns vor Kurzem einen Jubiläumsvortrag gehalten hat, unterscheidet vier verschiedene Helfertypen: Zum einen den Kängurutyp – Eltern, die mit besonderer Überfürsorge reagieren und zum Beispiel nur noch das Lieblingsessen des Kinds kochen. Bei der Nashornvariante machen die Eltern strenge Vorgaben: Das Kind darf z.B. erst dann vom Tisch aufstehen, wenn es aufgegessen hat. Eltern des Vogel-Strauß-Typs hingegen sind von der eigenen Angst so überfordert, dass sie das Thema oft bagatellisieren. Und sogenannte Quallen-Eltern reagieren häufig extrem emotional, weinen viel und beknien das Kind regelrecht, etwas zu essen. Alle vier Mechanismen sind nicht förderlich, aber es sind typische Reaktionsweisen, wenn ein Mensch, den ich liebe, so existentiell bedroht ist, wie das bei einer Essstörung der Fall sein kann.

Welches Verhalten wäre denn besser?

Wenn wir bei Professor Treasures Vergleich bleiben, wären Bernhardiner und Delfin ideal: Der Bernhardiner steht für die Fähigkeit, im Angesicht der Gefahr Ruhe zu bewahren, also darauf zu achten, dass ich mich selbst beruhige und mir Auszeiten nehme, weil ich nur dann mein Kind durch eine so langwierige und chronische Krankheit begleiten kann. Ich bin da für mein Kind, ohne panisch zu werden und kann im Notfall das Notwendige tun. Der Delfin hält eine gesunde Balance zwischen Unterstützung und Selbstverantwortung. Eltern dieses Typs geben dem Kind Anregung und stupsen es im richtigen Moment an, eigene Schritte zu unternehmen, bewahren ansonsten aber ausreichend Abstand. Wie der Delfin in der Serie „Flipper“.

Wie kommen Eltern zu einer solchen Haltung?

Eltern von Patienten mit Essstörungen brauchen auch selbst Halt und Unterstützung, eine Art Coaching. Wir am TCE arbeiten vor allem bei den jüngeren Patienten zwischen 12 und 15 Jahren sehr eng mit den Angehörigen zusammen. Sie nehmen 14-tägig an einer Familientherapie teil und kommen einmal pro Woche, freitags, zur Planung, denn die jüngeren Patienten kehren am Wochenende in ihre Familien zurück. Wir besprechen, welche Mahlzeiten und Aktivitäten geplant sind und wie die Eltern mit Herausforderungen umgehen können. Das Wochenende wird auch nachbesprochen, und einmal pro Woche unterstützen sich die Eltern gegenseitig in einer Angehörigengruppe.

Ab wann sollten Ärztinnen und Ärzte aufhorchen und ein Kind zu Ihnen überweisen?

Eine deutliche oder rapide Gewichtsabnahme kann gefährlich sein – auch bei ehemals Übergewichtigen, die sich dann vermeintlich im Normalgewichtsbereich befinden. Denn eine Gewichtsabnahme von einem Kilo pro Woche oder mehr kann schon einen Perikarderguss am Herzen verursachen. Kompensatorische Maßnahmen wie Erbrechen oder Missbrauch von Abführ- und Entwässerungsmitteln können zu Elektrolytverschiebungen und Veränderungen im Kreislauf wie Herzrhythmusstörungen führen. Es ist allerdings auch für Ärzte relativ schwer, die Situation einzuschätzen, weil es nicht den einen medizinischen Wert gibt, ab dem es gefährlich wird. Manchmal sehen wir extrem untergewichtige Patienten mit einem vermeintlich unauffälligen Blutbild, die dennoch schwer krank sind. Auch Ärzte sollten lieber zu früh als zu spät wachsam sein. Im Zweifelsfall können sie uns anrufen. Außerdem bieten wir einmal im Monat, jeweils Mittwoch abends um 19 Uhr „Essstörungsdialoge“ an, eine einstündige Veranstaltung für niedergelassene Kollegen.

Was passiert im TCE und wie sind die Heilungschancen?

Wenn Patienten die gesamte Therapie bei uns durchlaufen, können sie bis zu acht Monate oder sogar länger bei uns sein. Die 12- bis 15-Jährigen haben Therapieintervalle von acht bis neun Wochen, und danach ein bis zwei Wochen Pause, um das Gelernte im Alltag erproben zu können, bevor ihr nächster Therapieblock beginnt. Zwei bis drei solcher Blöcke brauchen die meisten, bevor sie eine ambulante Therapie beginnen können. Die älteren Patientinnen bis 25 Jahre wohnen meist durchgehend acht Monate lang in einer unserer Wohngruppen. Vier davon verbringen sie in einer intensiven Therapiephase, wie in einer Klinik, in den anderen vier Monaten nehmen sie bei einem reduzierten Therapieprogramm wieder an Schule, Studium oder Ausbildung teil. In der ersten Therapiephase haben sie ein intensives Tagklinikprogramm mit Ernährungs-, Verhaltens-, Kunst- und Körpertherapie, Psychoedukation, Fertigkeitentraining und Ressourcenaufbau. Hinzu kommen sieben Mahlzeiten am Tag, die in der Gruppe eingenommen werden und sich nach einem Portionensystem richten. Die Patienten wissen, welche der drei Portionsgrößen sie essen sollen, und nehmen sich diese aus dem Topf. Das funktioniert in der Regel sehr gut, denn die Patienten empfinden dies als Entlastung. Hinzu kommt der Gruppengeist. Die Gruppe steht sehr füreinander ein und kämpft gemeinsam.

Wie sieht es bei den Binge-Eating-Patienten aus? Erhalten sie eine andere Therapie?

Auch sie nehmen an der Mahlzeitenstruktur und den Therapiegruppen teil, denn bei ihnen greifen ähnliche Mechanismen wie bei Patienten mit Anorexie und Bulimie. In der Einzeltherapie oder der Gruppe gibt es manchmal einen anderen Themenschwerpunkt, aber auch sie fühlen sich oft zu dick, hadern mit ihrem Körper und haben oft ähnlich perfektionistische Ansprüche. Natürlich brauchen Patienten mit Binge Eating auch einen eigenen Fokus, weil ihr Gewicht sich oft im oberen Normalgewichtsbereich oder darüber befindet und der Wunsch nach einer Gewichtsabnahme damit häufig im Vordergrund steht, aber vieles ist sehr ähnlich.

Was können Ärztinnen und Ärzte vor und nach einer Therapie tun? Was wünschen Sie sich von ihnen?

Vor der Therapie wünschen wir uns mehr Wachsamkeit und Klarheit im Handeln, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Patienten und deren Angehörige frühzeitig warnen und rechtzeitig sagen: ‚Jetzt muss Du in eine Klinik.‘ Unter einem BMI von 17 sollte definitiv kein Sport mehr getrieben werden, auch kein Schulsport. Wir raten dann auch von Fernreisen ab, denn die lange Flugreise und Klimaveränderungen können für Untergewichtige gefährlich werden. Abgesehen davon, dass das Essen in einem fremden Land oft noch schwieriger ist als sonst. Im Nachhinein empfehlen wir den Patienten, sich regelmäßig beim Therapeuten oder dem Hausarzt wiegen zu lassen. Ärztinnen und Ärzte sollten mit ihren Patienten klare Vereinbarungen zum Gewicht treffen und besprechen, was zu tun ist, wenn sich das Gewicht falsch entwickelt.