Leitartikel

Die Coronakrise in den Flüchtlingsunterkünften, "Kein Ort für Kinder"

Für viele Kinder und Jugendliche war und ist die Coronakrise eine echte Herausforderung. Noch schwerer hatten es in dieser Zeit psychisch kranke Flüchtlingskinder und -jugendliche, wie Dr. Guido Terlinden von Refugio den MÄA berichtete.
Die Coronakrise in den Flüchtlingsunterkünften, "Kein Ort für Kinder"
Die Coronakrise in den Flüchtlingsunterkünften, "Kein Ort für Kinder"

Foto: Ina Koker

Herr Dr. Terlinden, Sie behandeln Flüchtlingskinder- und jugendliche bei Refugio. Kennen Sie auch deren private Lebensumstände?

Ja, diese sind Thema in den Gesprächen, und ich war auch schon in drei verschiedenen Ankerzentren. Damals, vor etwa einem Jahr, habe ich festgestellt, dass das Erzählte sehr gut berichtet und nachvollziehbar war. In einem Projekt vor Ort wollten wir niederschwellige Screenings zur Identifizierung von psychisch kranken Flüchtlingskindern und –jugendlichen ermöglichen. Das Projekt musste aber abgebrochen werden, weil es angesichts der dortigen Lebensumstände keine Aussicht auf Erfolg hätte. Ankerzentren sind keine Orte, an denen sich Kinder gut entwickeln können. Eltern und Kinder leben oft zu fünft zusammen in einem Zimmer, dessen Türen sich nicht zusperren lassen. Es gibt Gemeinschaftstoiletten und -duschen, die man meistens auch nicht verriegeln kann. Und es gibt keine Küchen.

Wie arbeiten Sie stattdessen mit den Flüchtlingskindern und – jugendlichen?

In der Regel kommen sie zu uns in die Einrichtung – oft per Zufall, weil jemand aufmerksam war und wusste, dass es uns gibt. Viele sind dann schon sehr krank, haben z.B. schwere Schlafstörungen oder Alpträume. Manche haben ihre Fingernägel schon halb abgekaut, andere nässen mit 15 Jahren noch ein. Einige haben dissoziative Anfälle und müssen deshalb immer wieder in die Klinik. Viele waren vorher schon jahrelang auf der Flucht. Die Meisten haben seit vielen Monaten oder Jahren chronische Störungen. In Untersuchungen stellen wir oft fest, dass ihre Symptome nach traumatischen Erlebnissen auftraten. Wir haben aber auch Patienten mit Angststörungen, Zwängen, kombinierten Störungen oder Entwicklungsstörungen, z.B. mit schweren Sprachentwicklungsstörungen.

Wie alt sind die Kinder / Jugendlichen und woher kommen sie in der Regel?

Mein jüngster Patient ist vier Jahre alt, der älteste 21. Einige Kinder kommen zunächst hierher, weil ihre Mütter hier in Behandlung sind. Kinder im Kindergartenalter – die Meisten können ja nicht in Kindergärten gehen – werden hier z.B. vorgestellt, weil sie oft Wutanfälle kriegen und Stresssymptome zeigen. Einige Kinder im Schulalter weisen Symptome von Depressionen bis hin zu psychotischen Störungen auf. Wir haben viele junge Patienten aus Afghanistan, aber auch aus dem Jemen, aus Syrien und aus Afrika. Letztes Jahr haben wir Kinder und Jugendliche aus über 30 verschiedenen Ländern behandelt.

Wie ging es diesen Patienten in der Coronakrise?

Konnten sie überhaupt weiter behandelt werden? Wir hatten die ganze Zeit über eine tägliche Notfallsprechstunde. Es war also immer jemand präsent. Die krisenhaften Patienten haben wir täglich face to face gesehen. Zusätzlich hatten wir ein niederschwelliges Angebot für diejenigen, die hier noch nicht behandelt werden: Wir haben sie gemeinsam mit einem Dolmetscher per Telefon oder Videokonferenz angerufen. Die Gruppentherapeuten, z.B. in den Musikprojekten, haben sich ganz umgestellt und Online-Sessions veranstaltet. Vor allem die jugendlichen unbegleiteten Minderjährigen waren aber sehr froh, wenn sie weiter hierher zur Therapie kommen und wenigstens einmal pro Woche ihre Wohngruppe verlassen konnten.

Wie liefen die ersten Wochen in der Coronakrise?

 Anfangs mussten wir sehr viel Aufklärungsarbeit leisten. Es ging ja alles sehr schnell, und es gab nur wenig Informationen, denn in den Ankerzentren gibt es kein WLAN. Wir konnten Ängste reduzieren, indem wir den Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern z.B. erklärt haben, was eine Ausgangsbeschränkung ist. Neben therapeutischen und ärztlichen Fragen ging es zudem oft um aufenthaltsrechtliche Fragestellungen, die sonst von Mitarbeitern der Caritas oder der Diakonie in den Ankerzentren beantwortet werden. Diese wurden aber nach einer entsprechenden Order von dort abgezogen. Die Menschen konnten Briefe von Behörden abfotografieren und sie uns schicken. Unser Sozialpädagoge hat ihnen dann erklärt, was drinsteht und ob sie reagieren müssen, oder nicht.

Wie haben die Flüchtlinge auf die Ausgangssperre reagiert?

Viele Familien haben sich in ihren Zimmern verbarrikadiert und wollten nicht mehr auf die Straße. Teilweise hat die Security wohl auch Ängste geschürt. Ich hatte z.B. einen stark psychisch kranken Patienten, den ich unbedingt sehen wollte. Ihm wurde gesagt, dass er ins Gefängnis muss, wenn er auf die Straße geht. Da dieser Jugendliche früher lange in Gefangenschaft war und dort auch gefoltert wurde, kam er erst, als ich ihm schriftlich bestätigt hatte, dass er hier ärztliche Termine wahrnehmen muss. Durch die erneute Stresssituation und weil der Jugendliche nicht kam, hatte sich sein Waschzwang in der Zwischenzeit aber so ausgeweitet, dass wir mit unserer Arbeit wieder bei Null anfangen mussten. Er war kein Einzelfall. Diese Menschen haben ohnehin krankheits- und wohnungsbedingt einen erhöhten Stressspiegel. Wenn sie dann z.B. noch in Quarantäne müssen, führt das zu Krisen, obwohl wir telefonisch immer wieder versucht haben, die Menschen zu beruhigen. Wenn eine fünfköpfige Familie zwei Wochen lang in einem Zimmer festsitzt, dann ist das für alle Beteiligten purer Stress.

Wie wirkt sich der Stress auf die Kinder aus?

 Die Kinder in den großen Einrichtungen wirken sehr haltlos und sehr bedürftig. Ich hatte hier letzte Woche ein vierjähriges Kind zur Erstvorstellung, das seit etwa vier Monaten in einem Ankerzentrum lebt. Hier bei Refugio haben wir ein Spielzimmer mit Spielzeug und z.B. einer Spielzeugküche. Dieses Kind ist hier ständig von einer Ecke zur anderen gerannt und musste alle Spielzeuge ausprobieren. Zunächst vermutete ich ein ADHS-Syndrom. Tatsächlich aber hatte das Kind seit vier Monaten kein Spielzeug mehr gesehen! Die Mutter hat mir das bestätigt. In den Ankerzentren gibt es wenig Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche. Meistens gibt es keine kindergartenähnlichen Einrichtungen, und wenn es sie gibt, fallen die Spielzeiten oft aus. Außerdem gehen die Kinder oft erst sehr spät in die Schule, meist erst drei Monate nach ihrem Einzug, und auch dann muss ich oft erst noch einen Brief an die Behörden schicken. Den Kleinen fehlen meist jegliche Struktur und jegliche kindgerechte Beschäftigungsmöglichkeit. Sie haben auch keinen Garten, Computer oder Playstations zur Ablenkung, so wie unsere Kinder. Mir kommt es manchmal so vor als befänden sich die Kinder auf einem Abstellgleis. Viele sind dadurch sehr frustriert.

Wie macht sich das bemerkbar?

Ein anderes Beispiel: Neulich habe ich den achtjährigen Ali gefragt, wo er wohnt. Er hat daraufhin lange überlegt, aber nichts hingeschrieben. Als ich ihn fragte, ob wir gemeinsam etwas hinschreiben sollen, hat er gesagt: „Das ist nicht gut, wo ich wohne“. Dass das schon ein Kind realisiert, ist für mich sehr erschreckend. Wir haben dann gemeinsam überlegt, was ein guter Ort für ihn wäre. Dabei kam heraus, dass er einfach gerne eine Wohnung hätte, in der man die Türe zu machen kann und in der seine Eltern ein eigenes Zimmer und er und seine Geschwister ein eigenes Zimmer haben. Das sind aus meiner Sicht keine überzogenen Vorstellungen. Außerdem war Ali mit seinen fast neun Jahren noch nie in der Schule, obwohl er sich das sehr wünscht – weil er vier Jahre lang, aus Syrien kommend, auf der Flucht war. Schule hat für diese Kinder eine ganz existenzielle Bedeutung. Es bedeutet: Ich bin ein Mensch, ich darf auch das tun, was andere Kinder tun.

Wie war die Schulsituation in der Coronakrise?

In dieser Zeit hat sich alles noch verschlimmert. Bei den Kindern, die bereits in die Schule gingen und dann plötzlich nicht mehr dorthin konnten, hat man gemerkt, wie sehr sie darunter leiden. Die Kinder lieben die Schule und wollen unbedingt etwas lernen. In der Coronakrise aber war das für sie besonders schwierig, weil sie weder Internet hatten noch einen Drucker. Selbst wenn ihnen die Lehrer also Arbeitsblätter per WhatsApp geschickt hatten, konnten sie diese nicht bearbeiten und waren so deutlich gegenüber anderen Kindern benachteiligt. Es hat oft auch länger gedauert, bis der Kontakt der Lehrer zu den Eltern dieser Kinder hergestellt war. Und das obwohl die meisten Lehrer sehr engagiert waren.

Wissen Sie etwas über Corona Infektionen in den Münchner Flüchtlingsheimen?

Von meinen Patienten war keiner infiziert, keiner musste wegen einer eigenen Covid-19-Erkrankung fernbleiben. Aber viele waren, oft wochenlang hintereinander, in Quarantäne. Denn sobald sie sich außerhalb ihres Familienzimmers eine Viertelstunde lang auf dem Flur mit einem möglicherweise infizierten Nachbarn unterhalten hatten, galten sie schon als Kontaktperson 1. Das war für viele sehr schwierig, weil es auch lange an Tests mangelte.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler