Leitartikel

Delegiertenversammlung fordert: Investieren wir in unsere Kinder!

„Kinderkliniken schlagen Alarm“ titelte die Süddeutsche Zeitung (SZ) am 28. Oktober. Und traf damit einen Nerv bei vielen Kinderärztinnen und -ärzten, die schon lange die Ökonomisierung der Pädiatrie beklagen. Ein guter Grund für die 136. Delegiertenversammlung des ÄKBV am 21. November, sich mit dem Thema zu befassen.
Delegiertenversammlung fordert: Investieren wir in unsere Kinder!
Delegiertenversammlung fordert: Investieren wir in unsere Kinder!

Foto: Shutterstock

 

„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“, betonte der ÄKBV-Vorsitzende Dr. Christoph Emminger. Dreißig Jahre nach Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention müssen ihre Inhalte endlich ernstgenommen werden, forderte die Delegiertenversammlung.

Prof. Dr. Stefan Burdach, Mitautor des SZ-Artikels sowie Direktor der Kinderklinik München Schwabing des Klinikums rechts der Isar und der München Klinik, brachte das gemeinsame Anliegen der Universitätskliniken auf den Punkt: „Wir sind denen gegenüber verpflichtet, die sich nicht zu Wort melden können“. Bereits 2004 hätten die bayerischen Universitätskliniken in einem Memorandum darauf hingewiesen, dass die Ökonomisierung im Bereich der Pädiatrie Schaden anrichte: „...Ohne eine rasche Korrektur des DRG-Systems... und eine kostendeckende Finanzierung der Innovationsforschung...“ komme es in der Pädiatrie „...zu einer drastischen Einschränkung in Krankenversorgung, Forschung und Lehre“, schrieben die Universitätskliniken damals und warnten vor einer Verschlechterung der medizinischen Versorgung.

Burdach bemängelte im Einzelnen die Bevorzugung von technischen Prozeduren gegenüber Kommunikation und Zuwendung in der Pädiatrie. Ökonomische Einflüsse führten direkt und indirekt zu einer Erosion medizinischer Kerntätigkeiten wie Anamnese, Diagnostik und Gespräch. Auch die Prävention leide: „Es wird zunehmend weniger Zeit verwendet, um Krankheiten zu verstehen. Möglichkeiten der verschiedenen Präventionsstufen bleiben ungenutzt“, sagte er. Das Gleiche gelte für therapeutische Maßnahmen der Psychologie und Seelsorge.

Der Redner beschrieb die unerwünschten Folgen der Ökonomisierung: Kinderkliniken und Fachabteilungen werden geschlossen, Betten abgebaut. Gewinnbringende Abteilungen wie die Neonatologie und die Onkologie werden gegenüber scheinbar „defizitären“ Bereichen bevorzugt, Klinikabteilungen geraten dadurch mit einander in Konkurrenz. Immer weniger Pflegekräfte müssen immer mehr Kinder versorgen. Und für die Aus- und Weiterbildung zur Versorgung von Kindern mit chronischen und seltenen Krankheiten ist kein Geld vorhanden.

„Muss eine wohlhabende Gesellschaft tatsächlich die Kinder- und Jugendmedizin ökonomisieren?“, fragte Burdach. Das Fachgebiet stehe nun einmal vor anderen Herausforderungen als die Erwachsenenmedizin: Das Leistungsspektrum der Pädiatrie sei – mit 400 bis 500 unterschiedlichen Fallgruppen –überdurchschnittlich groß. Chronische und seltene Erkrankungen im Kinderalter nähmen zu, bei psychischen Erkrankungen gebe es neue Morbiditäten. Prävention müsse in der Kinder- und Jugendmedizin einen wichtigen Stellenwert haben. Doch die Vorhaltung medizinischer Leistungen sei teuer, weil bei einer hohen Notfallquote von etwa 70 bis 80 Prozent nur wenige Maßnahmen planbar seien. Durch kaum refinanzierte Personalkosten für die Pflege, medizinische Sonderfälle und eine mangelnde Verzahnung der Sektoren komme es so immer häufiger zu finanziellen Defiziten.

Dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind, zeige sich täglich: Denn der Aufwand für eine Bildgebung bei Kindern sei im Schnitt fast achtmal so hoch wie bei Erwachsenen. Ein Kind bleibe nun einmal nicht einfach ruhig im MRT liegen, sondern brauche ggf. eine Vollnarkose. Statt die Abrechnung für Kinder in das System der Erwachsenen-DRGs zu pressen, brauche es ein eigenes Entgeltsystem, forderte Burdach. Bei geltenden G-DRGS müsse eine Kinderklinik nach Zahlen aus dem Jahr 2005 mit einem durchschnittlichen täglichen Erlös von rund 460 Euro klarkommen.

Natürlich sei es wichtig, verantwortungsbewusst und sparsam mit Ressourcen umzugehen, doch ein Primat der Ökonomie in diesem Bereich sei unverantwortlich. Schließlich beginne Gesundheit bereits im Mutterleib, wo fetale Programmierung und intrauterines Impriming spätere Probleme im Erwachsenenalter wie das metabolische Syndrom begünstigen könnten. „Was an den Kindern und Jugendlichen heute versäumt wird, wird dieser Altersgesellschafts morgen in Rechnung“ gestellt werden, hatten die Universitätskliniken bereits 2004 formuliert. Fortschritte in der Kinder- und Jugendmedizin könnten stattdessen späteren chronischen Störungen vorbeugen und einen Zugewinn an Lebensjahren, -qualität und Gesundheit auch im fortgeschrittenen Alter ermöglichen.

Auf die Situation bei psychisch kranken Kindern und Jugendlichen ging Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne in seinem Vortrag ein. Die Häufigkeit psychischer Belastungen in dieser Altersgruppe sei mit zehn bis 20 Prozent weltweit sehr hoch. Rund zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sei gemäß der KIGSS-Studie (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, 2017) des Robert-Koch-Instituts deswegen fachärztlich behandlungsbedürftig. Bayernweit entspreche dies rund 213.000 Kindern und Jugendlichen. Psychosoziale Belastungen in der Kindheit erhöhten nachweislich das Erkrankungsrisiko um etwa 30 Prozent.

Dabei habe das Ausmaß der Störungen im Durchschnitt zugenommen. Bei rund 40 Prozent der Betroffenen sei heute ein mittlerer bis hoher Schweregrad zu verzeichnen. Professionelle Hilfe aber werde in Deutschland zu selten und zu spät in Anspruch genommen. Viele Jugendliche kämen erst nach etwa zweieinhalb Jahren in Behandlung. Die Folgen: rezidivierende und chronische Verläufe. Rund 50 bis 60 Prozent der depressiv erkrankten Jugendlichen erleidet innerhalb von vier Jahren einen Rückfall, sagte Schulte-Körne, etwa die Hälfte kämpft noch im Erwachsenenalter mit der Erkrankung, etwa ein Drittel hat zudem weitere komorbide Störungen. Besonders gefährdet sind laut Studien Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sowie Kinder psychisch kranker Eltern.

Schulte-Körne ging ausgiebig auf „neue Risiken“ wie Bullying (Mobbing) und Cyber-Bullying (Cyber-Mobbing) ein. Zahlen legen nahe, dass etwa acht Prozent der 11- bis 17-Jährigen bereits Opfer von Mobbing geworden sind, bei dem sie wiederholt angegriffen, verletzt, beschimpft oder ausgegrenzt wurden. All das bleibt nicht ohne Folgen: Wer im Alter von acht Jahren oft Mobbing-Opfer geworden ist, leidet Untersuchungen zufolge im jungen Erwachsenenalter häufiger unter psychiatrischen Krankheiten.

Beim Cybermobbing als Sonderform versenden Täter belästigende Mails, verbreiten digital Geheimnisse über das Opfer oder schließen es von Onlineaktivitäten aus. Rund drei bis acht Prozent der 11- bis 20-Jährigen haben das Studien zufolge bereits erlebt. Fast 40 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, besonders Mädchen, haben gemäß einer Befragung von 2014 damit direkt oder indirekt schon Erfahrungen gemacht. Vor allem Mädchen erhalten per Handy auch häufig brutale Videos oder Pornofilme. In den meisten Fällen seien neben den Haupttätern noch weitere Assistenten, Verstärker, Verteidiger und Außenstehende beteiligt, sagte Schulte-Körne.

Die Behandlung durch Kinder- und Jugendpsychiater in München sei derzeit verhältnismäßig gut, fasste der Referent zusammen. Hinsichtlich der Versorgung mit stationären Betten jedoch sei München mit 6,5 Betten pro 100.000 Einwohnern unterversorgt. Bayernweit bilde man mit nur 5,5 Betten pro 100.000 Einwohnern im bundesweiten Vergleich sogar das Schlusslicht.

Dabei gebe es viele Herausforderungen: Die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter den Einwohnern in München steige, das Versorgungsangebot sei für viele Betroffene und ihre Angehörigen undurchschaubar, und es gebe einen hohen Anteil an Risikogruppen. Angesichts dessen seien verstärkte Angebote zur Prävention und niedrigschwellige Versorgungsangebote wichtig – ggf. im Netzwerk mit den Schulen. Psychische Erkrankungen dürften auch bei Kindern und Jugendlichen nicht stigmatisiert werden. Es brauche spezielle Versorgungsangebote für den Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter und eine spezialisierte Versorgung für einzelne, „neue“ Erkrankungen wie z.B. Mediensucht, Geschlechtsidentitätsstörung etc.

Die beiden Vorträge lösten Diskussionen und viel Empörung über die Unterversorgung von Kindern und Jugendlichen aus. Einstimmig unterstützten die Delegierten daher die ÄKBV-Resolution „Unsere Jüngsten sind in Gefahr!“ (s. Seite 7). Im kommenden Jahr will sich die Delegiertenversammlung verstärkt mit der Digitalisierung in der Patientenversorgung und ihren Herausforderungen beschäftigen.