Leitartikel

Bayerischer Ärztinnen- und Ärztetag in Landshut, Wie frei sind wir?

Von der Digitalisierung bis zu Medizinstudienplätzen, von der Krankenhausreform bis zur Drogen-Substitution: die meisten Themen des diesjährigen Bayerischen Ärztinnen- und Ärztetags vom 13. bis 15. Oktober, der erstmals auch Ärztinnen im Titel trägt, waren altbekannt. Besonders spiegelten sich aktuelle Themen wie Kindergesundheit und Klimaerwärmung in den verabschiedeten Anträgen. Und immer wieder die Frage: wie frei sind Ärztinnen und Ärzte?
Bayerischer Ärztinnen- und Ärztetag in Landshut, Wie frei sind wir?
Bayerischer Ärztinnen- und Ärztetag in Landshut, Wie frei sind wir?

„Ich bin so frei!“: Im Zentrum der feierlichen Eröffnung am Freitag stand der Impulsvortrag von Peter Müller, ehemals Ministerpräsident im Saarland und heute Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Heute sei er aber als Staatsbürger hier, betonte der Redner am Anfang. Was er sagte, war nicht nur sehr humorvoll, sondern auch sehr kritisch.

 „Die Freiberuflichkeit ist eine wertvolle Ressource, die es zu erhalten gilt“, war die Botschaft seiner Rede. Freiberufler*innen wie Ärztinnen und Ärzte trügen wesentlich zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei. Denn die Alternativen im medizinischen Bereich – Staatsmedizin oder vollständige Kommerzialisierung – seien nicht geeignet, „eine humane Gesundheitsversorgung sicherzustellen“. Dennoch werde Freiberufler*innen in der Europäischen Union zu oft mit Misstrauen begegnet. Durch immer mehr Regulierung und Bürokratisierung löse sich die Freiberuflichkeit im europäischen Binnenmarkt mittlerweile auf „wie Zucker im Kaffee“. Mit rund drei Stunden Dokumentation täglich bleibe den meisten Ärztinnen und Ärzten kaum noch Zeit für „ihr Kerngeschäft“ – die Versorgung von Patient*innen.

Was ist ein freier Beruf? Welche Grundlagen gibt es dafür im Grundgesetz? Und wie sieht es in der Wirklichkeit aus? Inhaber*innen freier Berufe, sagte Müller, sind laut Gesetz besonders qualifiziert und erbringen dadurch besonders qualifizierte Leistungen, und zwar persönlich, eigenhändig und fachlich unabhängig. Vor allem aber erfolgt ihre Tätigkeit im Interesse der Allgemeinheit. Eine besondere Vertrauensbeziehung und eine „Informationsasymmetrie“ gegenüber Patient*innen führe dazu, dass der ärztliche Beruf nicht nur Marktgesetzen folgen könne. Ärztinnen und Ärzte dienten immer auch der Volksgesundheit – auf der Grundlage ethischer Prinzipien wie des Genfer Gelöbnisses. „Für Private Equity ist kein Raum“, rief Müller unter großem Beifall der Anwesenden.

Die besondere Eigenverantwortung und ärztliche Therapiefreiheit finde ihre Grenzen vor allem bei der Freiheit der Patient*innen. Diese hätten durchaus ein „Recht auf Krankheit“, auf Unvernunft – und seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 auch zum Suizid. Heute gebe es eben keinen Paternalismus mehr wie in früheren Zeiten, als Patient*innen gerne mal aus Erziehungsgründen in Angst und Schrecken versetzt wurden. „Kein Patient darf zu Therapien gezwungen werden“, betonte Müller. Tatsächlich stehe im Grundgesetz die Freiheit der Einzelnen im Mittelpunkt, und der Staat müsse sich rechtfertigen, wenn er diese einschränke.

„In dubio pro libertate!“ sei die Devise des Grundgesetzes – auch bei Zielen wie Kostendämpfung oder Erhalt der Krankenkassen. Von mehreren Mitteln müsse stets das mildeste eingesetzt werden – und das geltende Subsidiaritätsprinzip bedeute auch den Vorrang der Eigenverantwortung vor staatlicher Regulierung. Dies sei nicht nur gerechter, sondern minimiere in vielen Fällen auch Fehler. „Wir aber haben das Vertrauen in die Eigenverantwortung des Einzelnen verloren“, klagte Müller. Bei jedem kleinen Problem werde gleich nach der Politik gerufen. Als Folge entstünden Gesetze und Regelungen, „die kein Mensch überblickt“. Das Dickicht werde immer dichter, und so manches Gesetz könne gut als Einschlafhilfe dienen.

„Manche Dinge sind so persönlich, dass es besser ist, wenn das Gesetz hier schweigt“, sagte Müller beispielsweise im Hinblick auf die Regelung von Suiziden. Gleichzeitig entbänden Regelungen etwa zur Triage Ärztinnen und Ärzte nicht von einer eigenen ethischen Entscheidung.

 Das Leninsche Sprichwort „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, passe nicht in eine freiheitliche Gesellschaft, sagte Müller abschließend. Es gelte, sich auf Vertrauen als Wert zurückzubesinnen, zu entbürokratisieren und unnötige Regelungen aufzuheben, um die Freiberuflichkeit wieder zu stärken. „Die Patientinnen und Patienten haben das verdient“.

Unter tosendem Applaus stimmte Landesärztekammerpräsident Dr. Gerald Quitterer in Müllers Ausführungen ein. In derzeitigen Krisenzeiten sei zwar auch die ärztliche Selbstverwaltung im Umbruch, doch dies sei kein Freifahrtschein für die Politik, immer mehr Regeln einzuführen. Es werde zu viel Zeit an Datenerfassung und Dokumentation verschenkt. Stattdessen brauche es ein klares Bekenntnis zum ärztlichen Berufsstand. „Wir sind keine Mediziner, sondern Ärztinnen und Ärzte!“, sagte Quitterer und rief die Politik auf: „Bezieht uns ein!“.

In seiner Rede gratulierte er nicht nur dem scheidenden bayerischen Gesundheitsminister Klaus Holetschek zu seiner neuen Aufgabe als CSU-Fraktionsvorsitzender im bayerischen Landtag. Er ging auch auf die Themen der folgenden Plenarsitzung zur Gesundheitspolitik ein: Viele Praxen fänden heute keine Nachfolger*innen mehr, weil die Rahmenbedingungen für eine gute Gesundheitspolitik nicht mehr passten. Neben der überbordenden Bürokratie zähle dazu auch die nicht funktionierende Telematik-Infrastruktur. Dass nun die Neupatientenregelung abgeschafft werde, sei ein weiterer Angriff auf die ambulante Versorgung. Statt Ärztinnen und Ärzte mit immer mehr Bürokratie zu belasten und ärztliche Aufgaben an neue Gesundheitsberufe zu substituieren, gelte es, die Ärzteschaft zum Bei - spiel durch eine bessere Patientensteuerung zu entlasten. Es gehe nicht an, dass „jeder, jederzeit überall von jedem alles“ verlange. Die Gesundheitsversorgung müsse grundsätzlich auf den Prüfstand. Bei der Lenkung an den richtigen Ort könne Digitalisierung helfen, etwa im Rahmen einer barrierefreien Einwilligung in die elektronische Patientenakte. Dabei müssten die Daten aber gemeinwohlorientiert genutzt werden. Digitale Anwendungen sollten vor allem entlasten. Einer Auswertung der Daten durch Krankenkassen erteilte Quitterer eine klare Absage. Der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer warnte vor einer neuen Arzneimittelknappheit diesen Herbst und Winter und verlangte von der Politik eine Förderung der Rückverlagerung der Arzneimittelproduktion nach Europa. Im Hinblick auf den Klimaschutz müsse es mehr umweltfreundliche Verpackungen und ein Fairtrade-Siegel für Arzneimittel geben.

Um die Gesundheit der Kinder zu fördern, brauche es eine bessere Bildung im Hinblick auf gesundheitsbewusstes Verhalten und Prävention. Kinderrechte müssten endlich im Grundgesetz festgeschrieben werden. Es brauche eine stärkere Sensibilieserung im Hinblick auf die sich verändernden Umweltbedingungen durch Klimawandel und Hitze sowie mögliche neue Erkrankungen. „Wir brauchen eine enkeltaugliche Gesundheitspolitik“, forderte Quitterer, und sprach sich für das Umsetzen der Devise „Health in all policies“ aus. Im Hinblick auf den Ärztemangel forderte Quitterer erneut mehr Studienplätze in der Medizin.

Das Plenum beschäftigten in den beiden folgenden Tagen ebenfalls einige aktuelle Themen wie die derzeit wieder auftretenden Lieferengpässe von Medikamenten und das gescheiterte Rauchverbot im Auto. Dass immer weniger Gynäkologinnen und Gynäkologen die Qualifikation zur Mammographie erhalten, weil die Anforderungen für die Ausbilder*innen sehr hoch sind, führe zu einer zunehmend schlechteren Versorgung in diesem Bereich, bemängelten einige Delegierte. Der Vorstand der Bayerischen Landesärztekammer müsse dafür Sorge tragen, dass Gynäkologinnen und Gynäkologen auch in Zukunft die Berechtigung zur Mammographie erwerben können.

Auch die schlechte Versorgungslage von Menschen mit Intelligenzminderung war Thema. Der Ärztetag forderte die Verantwortlichen im Gesundheitswesen auf, ausreichend Behandlungsplätze für diese Patientengruppe zu schaffen. Die wenigen Stationen in Bayern, die fachlich und organisatorisch auf sie eingestellt seien, seien in der Regel überbelegt, auch mit Langzeitpatienti*nnen. Eine Unterbringung auf psychiatrischen Akutstationen werde den Bedürfnissen dieser Menschen nicht gerecht.

Ein Thema, das offenbar vielen Delegierten Sorgen macht, ist nach wie vor die Notfallversorgung. Patientensteuerung und Notfallversorgung funktionierten aktuell nur unzureichend. Leitstellen müssten differenzierter auf Notfälle reagieren können, etwa durch telemedizinische Beratung für Hilfesuchende und Rettungspersonal, direkte Terminvermittlung in Praxen oder Disposition niedrigschwelliger Rettungsmittel, psychosozialer oder sozialmedizinischer Notfallintervention und Akut-Palliativversorgung. Nur so könnten vermeidbare Klinikeinweisungen und knappe Notfallfahrzeuge in wirklich dringlichen Fällen vermieden werden. Außerdem brauche es künftig ein einziges technisches System („single point of contact“) bei Notfällen. Medizinische Laien könnten die Dringlichkeit ihres Anliegens kaum einschätzen und seien mit der Wahl der richtigen Notrufnummer häufig überfordert. In den Notaufnahmen selbst könnten entsprechend qualifizierte MFA künftig die Ersteinschätzung übernehmen. Dazu müsse der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Richtlinie zur Ersteinschätzung des Versorgungsbedarfs in der Notfallversorgung entsprechend öffnen.

Die Unterstützung und bessere Wertschätzung von MFA war ein weiterer großer Themenblock. Sie müssten endlich anderen Gesundheitsberufen gleichgestellt werden – besonders hinsichtlich Bonuszahlungen, steuerrechtlichen Aspekten und etwa bei der Priorisierung bei Kinderbetreuungsplätzen, forderten die bayerischen Delegierten. Der Beruf müsse aufgewertet werden. Es brauche bessere Aufstiegsperspektiven, weniger Bürokratie und einen staatlichen Bonus. Künftige Tarifsteigerungen beim Lohn sollten gegenfinanziert werden. Um Praxispersonal und MFA vor tätlichen Angriffen zu schützen, forderte das Plenum nicht nur einen besonderen rechtlichen Schutz wie bei anderen Berufen, etwa bei Rettungsdienst oder Polizei, sondern auch Fortbildungen für den Umgang mit gewaltbereiten Patient*innen.

Besorgt zeigte sich das Ärzteparlament über den zunehmenden Ärztemangel. Es brauche endlich ausreichend Studienplätze in der Humanmedizin. Notwendige Reformen wie etwa der seit langem ausgearbeitete „Masterplan Medizinstudium 2020“ dürften nicht länger aufgeschoben werden. Neben einer ausreichenden Finanzierung brauche es kluge Delegationskonzepte an qualifiziertes Assistenzpersonal, eine praxistaugliche, rationelle Digitalisierung und Kooperationen, z. B. in Form von Praxisnetzen. Im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) erworbene Pflegezeiten müssten als Pflegepraktikum anerkannt werden.

Die Digitalisierung in den Kliniken und Praxen sah der Ärztetag nach wie vor kritisch: Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitssystem habe zu einem „Nebeneinander zahlreicher, teils dysfunktionaler Insellösungen geführt“. Es brauche ein neues Digitalisierungskonzept, das eine zentrale Datenspeicherung auf höchstem Sicherheitsniveau ermögliche. Damit Patient*innen diesem Konzept vertrauten, müssten Zugriffsrechte restriktiv und transparent reguliert werden. Keinesfalls dürften Krankenkassen, kommerzielle Interessent*innen oder staatliche Stellen außerhalb des Gesundheitssystems darauf zurückgreifen. Die Delegierten forderten insbesondere ein integriertes und einheitliches Digitalisierungskonzept für die bayerischen Universitätsklinika. KI-Systeme müssten im Gesundheitssystem vertrauensvoll verwendet werden und ethischen Standards genügen.

Die Delegierten setzten sich auch für einen besseren Kinderschutz sowie für Klimaschutz ein: Ein*e Kinderbeauftragte*r müsse durch die bayerische Staatsregierung beauftragt werden. Diese*r solle sich explizit um die Interessen und Rechte von Kindern und Jugendlichen kümmern. Ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel könne helfen, deren Gesundheit zu erhalten denn Kinder und Jugendliche seien zunehmend übergewichtig oder sogar adipös, sähen zu viele Werbespots über ungesunde Lebensmittel. Die Mediennutzung sei bei 70 Prozent der 3- bis 17-Jährigen seit der Coronapandemie gestiegen.

Um einen gesunden Lebensstil bei Minderjährigen zu fördern, müsse an Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten die „Planetary Health Diet“ eingeführt werden, die sich weitgehend mit den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung deckt. Ein Sonderfonds müsse diese Einführung unterstützen. Ernährung und Landwirtschaft müssten sich grundlegend ändern, um die Gesundheit von Mensch und Planet zu fördern. Ein weiterer Sonderfonds müsse für Arztpraxen eingerichtet werden, damit die Inhaber*innen ihre Praxen klimaschonend umbauen könnten. Denn das Gesundheitssystem sei für etwa fünf Prozent aller CO2-Emissionen in Deutschland verantwortlich.

In einem eigenen Programmpunkt wurden Änderungen in der Weiterbildungsordnung für die Ärztinnen und Ärzte Bayerns beschlossen. Ein Antrag Münchner Delegierter (Männer und Frauen) zur Einrichtung eines Lehrstuhls für geschlechtersensible Medizin in Bayern führte zu Diskussionen und wurde zunächst sogar mit Applaus durch eine knappe Mehrheit abgelehnt. Erst als eine Delegierte betonte, es gehe hier nicht um „Gendergedöns“, sondern darum, aktuelle Forschungsergebnisse in die Lehre zu bringen, wurde der Antrag in zweiter Lesung verabschiedet. Inzwischen gebe es sichere Erkenntnisse etwa zum unterschiedlichen Immunsystem von Männern und Frauen sowie zur schlechteren Versorgung von Männern bei Depressionen und von Frauen bei Herzerkrankungen. Im Antrag stand auch, dass Staatsminister Klaus Holetschek Frauengesundheit zu einem neuen Präventionsschwerpunkt machen wolle. Das Bayerische Gesundheitsministerium soll offenbar planmäßig in Ministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention umbenannt werden.

Stephanie Hügler

MÄA Nr. 23/2023 vom 04.11.2023