Leitartikel

Angehörigenfreundliche Intensivstation, Gebührender Abschied

Ein Mensch stirbt, und seine Angehörigen können nicht bei ihm sein. Zu Anfang der Corona-Epidemie war das in Münchner Krankenhäusern oft Realität. Die Intensivfachpflegerin Marina Ufelmann und der Klinikseelsorger Thomas Kammerer erzählten im Gespräch mit den MÄA, wie sie mit dieser Situation umgegangen sind – und wie sie das Leid heute lindern können.

Bild: Klinikum rechts der Isar

Frau Ufelmann, Herr Kammerer, wie ist die aktuelle Situation für Angehörige von Corona-Patient*innen bei Ihnen am Klinikum rechts der Isar?

Ufelmann: Aktuell haben wir zwei Corona-Infizierte auf der Intensiv- und einen auf der Normalstation. Mit Besuchen von Angehörigen ist es wegen der vorgegebenen gesetzlichen Strukturen aber leider immer noch schwierig. Derzeit darf pro Tag und Patient*in nur ein Angehörige kommen, und auch bei Mehrbettzimmern darf immer nur ein Besucher im Zimmer sein. Wir müssen Besuche daher immer gut organisieren. Zum Glück dürfen bei uns verschiedene Menschen zu Besuch kommen. In anderen Kliniken und auch in vielen Altenheimen ist das anders.

Sie sind als angehörigenfreundliche Intensivstation zertifiziert. Was bedeutet das?

Ufelmann: Uns ist sehr wichtig, dass die Angehörigen sozusagen in das „therapeutische Team“ mit aufgenommen werden und mit betreut werden. Sie gehen ja ebenfalls durch eine Krise. Gleichzeitig wollen und müssen sie eine Stütze für die Patient*innen sein – auch später im Rehabilitationsprozess. Wir möchten ihre drei Hauptbedürfnisse decken: Information, Zuversicht und Nähe. Zum Beispiel haben wir vor Kurzem unsere Informationsbroschüre überarbeitet und bieten sie nun auch auf Englisch an. Zudem lassen wir ganz bewusst Kinder jeden Alters auf die Station, wenn sie das möchten. Für sie haben wir auch ein Malbuch auf unserer Website (siehe www.mri.tum.de/intensivstationen). Vor Corona haben wir zweimal pro Monat ein Angehörigencafé angeboten. Das muss aktuell leider pausieren. Dort konnten Angehörige mit jeweils zwei Mitgliedern unserer Arbeitsgruppe „angehörigenfreundliche Intensivstation“ über alles sprechen, was sie in diesem Moment belastete.

Während des Shutdowns haben Sie begonnen, Intensivtagebücher für die Corona-Patient*innen und ihre Angehörigen zu führen. Was ist darunter zu verstehen und warum haben Sie das gemacht?

Ufelmann: Das Tagebuch beschreibt zum Beispiel, ob eine Therapie begonnen oder beendet wurde. Es enthält aber auch persönliche Beobachtungen, z.B. ob ein Patient gelächelt oder gestöhnt hat (s. hierzu auch MÄA 18/20, S. 12). Dr. Peter Nydahl, Pflegewissenschaftler am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, hat die Idee aus den skandinavischen Ländern nach Deutschland gebracht. Studien haben gezeigt, dass das Tagebuch bei Patient*innen und Angehörigen z.B. die nach einer Beatmung häufigen Depressionen und Angstzustände signifikant lindert. Wir hatten das Tagebuch bereits 2011 auf einer anästhesiologischen Intensivstation implementiert, mussten das Projekt aber zunächst wegen rechtlicher Probleme wieder auf Eis legen. Erst im November 2019 konnten wir es dort und ab April 2020 auch auf der Corona-Intensivstation einführen.

Dürfen auch Angehörige etwas in das Tagebuch eintragen?

Ufelmann: Während der Hauptzeit der Corona-Infektionen war das nicht möglich. Die Angehörigen durften anfangs ja nicht kommen, es sei denn der Sterbeprozess war absehbar. Mittlerweile aber beziehen wir die Angehörigen mit ein. Das Tagebuch ist als Ringhefter konzipiert. Einzelne beschriebene Blätter können dort eingeheftet werden. Viele schreiben zu Hause, andere vor Ort. Wir von der Pflege versuchen, mindestens einmal am Tag und bei einer Veränderung einen Eintrag ins Tagebuch zu verfassen.

Kammerer: Wir machen auch letzte Fotos von Verstorbenen. Das war vor allem während des Shutdowns in den Kliniken wichtig. Es zeigte: Dein geliebter Mensch war in seinen letzten Tagen und Wochen gut umsorgt und gepflegt.

Was bedeutet das Tagebuch für Sie persönlich?

Ufelmann: Für uns Pflegende ist es ein wichtiges Werkzeug, um den Angehörigen unser Mitgefühl zu zeigen, das wir ihnen sonst persönlich ausgesprochen hätten. Viele meiner Kolleg*innen haben mir rückgemeldet, dass das Tagebuch sie sehr entlastet hat. Wir hatten anfangs ja nur wenig Kontakt zu den Angehörigen, auch telefonisch haben wir immer nur kurz mit ihnen gesprochen.

Kammerer: Für mich ist das Tagebuch ein wichtiger Kulturfaktor.  Es geht darum, den Menschen in den Blick zu nehmen und die „Soft Skills“ zu stärken – unter Führung der Pflege.

Wie haben Sie beide die Hauptzeit der ersten Pandemiewelle erlebt?

Ufelmann: Es war stressig. Wir wussten nicht, wie lange die Situation dauern und welche Auswirkungen die Infektion haben würde. Manche meiner Kolleg*innen hatten Angst vor einer Selbstinfektion. Für mich persönlich war es aber viel schlimmer, mit anzusehen, dass Angehörige nicht zu sterbenden Patient*innen kommen konnten – zum Beispiel weil sie selbst infiziert waren oder weil die Zeit dafür nicht gereicht hat.

Kammerer: Anfangs wusste ja keiner, wie ansteckend die Krankheit sein würde. Daher hat man die Verstorbenen damals sehr schnell in Leichensäcke „verpackt“ und in die Pathologie gebracht.

Ab wann durften die Angehörigen wieder auf die Intensivstation?

Ufelmann: Etwa vier Wochen lang war es sehr streng, danach wurde es nach und nach lockerer. Für uns ist der Kontakt aber immer noch zu wenig. Bis heute empfinden wir die Situation als katastrophal. Wir waren es ja gewohnt, die Angehörigen immer zu den Patient*innen zu lassen und selbst viel mit ihnen zu sprechen.

Kammerer: Mir wurde damals vom Leiter der Corona-Intensivstation signalisiert, dass die Angehörigen einen stärkeren Redebedarf haben als sonst. Dadurch entstand die Idee eines aktiven Angehörigentelefonats. Die Angehörigen haben sich sehr darüber gefreut. Viele haben aber auch über den fehlenden Kontakt zu den Angehörigen geklagt. Auf Wunsch haben die Pflegenden zwar manchmal den Hörer des Stationstelefons neben das Ohr der Patient*innen gelegt, damit die Angehörigen etwas zu ihnen sagen konnten. Aber das ist kein richtiger Ersatz. Ein beatmeter Mensch antwortet ja nicht. Wenn man vor Ort ist, kann man wenigstens seine Hand halten, seine Wärme spüren und bekommt einen Eindruck von der Situation. Am Telefon muss man sich auf das Wort der Pflegerin verlassen, dass der Angehörige noch lebt.

Wie intensiv wurde Ihr telefonisches Seelsorge-Angebot genutzt?

Kammerer: Tatsächlich nicht so oft wie man das meinen könnte. Aufgrund unserer Erfahrung mit Angehörigen wissen wir, dass das typisch ist: Viele möchten durchhalten und vor allem für ihre kranken Angehörigen da sein. Nur ganz am Anfang oder wenn es ums Sterben oder eine Verlegung geht, öffnen sich die Menschen. Der Wert unserer Angebote misst sich meiner Meinung aber nicht daran, ob sie wahrgenommen werden, oder nicht. Schon das Wissen, dass es sie gibt, entlastet. Das weiß man aus der Stressforschung und Psychotraumatologie, und das bestätigen uns die Angehörigen: Wer auf einem Seil über einem Abgrund jongliert, fällt ohne Netz eher herunter als wenn er weiß, dass er abgesichert ist.

Wie war es für Sie, auf diese Art der Seelsorge umzusteigen?

Kammerer: Für mich persönlich war es ein großer Umstieg. Bei meiner früheren Arbeit mit Koma-Patient*innen hatte ich mir angewöhnt, mich nicht auf die Sprache zu verlassen. Am Telefon fiel es mir anfangs schwer, einzuschätzen, was die Angehörigen wirklich fühlen und was hinter ihrer Fassade steckt. Das wurde anders, als die ersten Patient*innen verstorben sind und wir ihnen das Tagebuch und die letzten Fotos überreichen konnten. Wir konnten sehen, wie wichtig und entlastend diese für sie waren. Manche haben sie uns fast aus den Händen gerissen. Häufig sind wir sie dann gemeinsam durchgegangen und haben so sogar manchmal schöne Momente erlebt.

In vielen Altenheimen gibt es mittlerweile die Alternative der Videotelefonie mit Angehörigen – mit unterschiedlichem Erfolg, wie ich persönlich erlebt habe...

Ufelmann:  Auch wir bieten das für Angehörige an, die aus was für Gründen auch immer nicht zu Besuch kommen können. Studierende unterstützen uns dabei, damit die Patient*innen und Angehörigen sich wenigstens sehen können.

Kammerer: Sowohl für viele Pflegende und Ärzt*innen als auch für die oft älteren Angehörigen ist das natürlich noch ungewohnt. Hinzu kommt das schwache Internet in Deutschland. Mittlerweile nutzen wir eine datenschutzrechtlich unbedenkliche App, die leicht zu bedienen ist. Gerade wenn das Gegenüber nicht sprechen kann, können weiter entfernt wohnende Angehörige so besser Kontakt halten. Daher möchten wir dieses Konzept auch über die Corona-Pandemie hinaus erhalten.

War die Kontaktbeschränkung für Angehörige im Nachhinein angemessen?

Ufelmann: Durch die mangelnde Erfahrung mit einer solchen Situation war sie nachvollziehbar und richtig. Allerdings hatten wir zu dieser Zeit gefühlt sehr viel mehr Menschen mit einem Delir. Bei diesen Patient*innen hätte man aus meiner Sicht eine Ausnahme machen können, denn in diesem Fall ist es sehr wichtig, dass die Angehörigen sie wieder „in die Normalität zurückholen“ können.

Kammerer: Wir erkennen langsam, wie wichtig Angehörige für den therapeutischen Fortschritt sind. Nicht immer, aber oft helfen die Angehörigen einem Menschen „über den Berg“. Du brauchst einen, der an Dich glaubt! Bei einem Delir gilt das ganz besonders, dafür gibt es mittlerweile Evidenz. Aus meiner Sicht ist unsere Klinik trotzdem sehr gut mit der Situation umgegangen. Ich komme aus dem Katastrophenschutz und weiß daher, dass die Sicherheit bei einer Katastrophe stets Vorrang haben muss. Die  Klinikleitung hat immer sehr besonnen entschieden. Auch wir wurden angehört.

Die Infektionszahlen sind deutschlandweit wieder gestiegen. Wie geht es Ihnen beiden dabei?

Kammerer: Aktuell lebe ich sozusagen in zwei Welten: Wenn ich den Fernseher  anschalte, scheint draußen alles ganz schlimm zu sein. Aber bei uns am Klinikum rechts der Isar ist derzeit alles ruhig. Alle halten sich an die Hygiene- und Abstandsregeln. Zudem haben wir mit unseren leitenden Ärzt*innen, Frau Prof. Ulrike Protzer und PD Dr. Christoph Spinner, zwei sehr besonnene und im Umgang kompetente Expert*inne, die neue Behandlungsmuster mit entwickelt haben und neue Medikamente wie Remdesivir einsetzen. Es gibt heute viel mehr ärztliche Handlungsmöglichkeiten als früher.

Ufelmann: Das Gute ist auch, dass wir jetzt schon Erfahrungen haben. Wir haben die Abschiedsfotos und das Tagebuch. Wir wissen, welche Situationen entstehen können und dass wir Werkzeuge haben, mit denen wir uns und die Angehörigen auffangen können.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler