Leitartikel

Angehörige von Depressionskranken, Hoffnungsträger

Die Angehörigen von erkrankten Menschen sind in den letzten Jahren aus dem Fokus geraten. Dabei sind sie häufig nicht nur eine wichtige Stütze für die Kranken selbst. Achtet man nicht auf sie, können sie leicht selbst zu Patient*innen werden.
Angehörige von Depressionskranken, Hoffnungsträger
Angehörige von Depressionskranken, Hoffnungsträger

Foto: shutterstock

 

Frau Pitschel-Walz, zwei Jahre lang hat uns die Coronakrise stark beschäftigt, nun haben wir Krieg in der Ukraine. In solchen Zeiten kann man leicht depressiv werden. Spüren Sie das in Ihrem Umfeld, in der Klinik?

Ja. Das trifft insbesondere auf Menschen zu, die vorher schon eine psychische Erkrankung hatten. Da sie häufig sehr sensibel sind, spüren sie Krisen oft deutlicher als stabile Menschen. Für sie ist und war es eine besonders schwere Zeit. Wegen der Pandemie konnte man nirgendwo hingehen, Aktivitäten waren reduziert, und dadurch gab es weniger Möglichkeiten, sich durch Treffen und gesellschaftliche Events zu stabilisieren. Viele haben sich sehr zurückgezogen. Erkrankungen wie Depressionen treten dadurch wieder vermehrt auf. Auch der Krieg und die damit verbundenen schlechten Nachrichten nehmen diese vulnerable Patientengruppe sehr mit. Viele informieren sich überhaupt nicht mehr, andere wiederum verbringen viel zu viel Zeit vor den Bildschirmen, was sich häufig auf die Stimmung niederschlägt.

Viele Kontaktbeschränkungen wurden mittlerweile abgeschafft. Zumindest in dieser Hinsicht müsste es sich dann doch einigermaßen regulieren.

Ja, viele haben darauf schon lange gewartet. Einige Betroffene haben zwar auch Online-Angebote genutzt, aber das ist nicht für alle Menschen passend. Wer sich allerdings darauf eingelassen hat, findet Videozusammenkünfte z.B. per Zoom oder Webex häufig sehr hilfreich. Ich denke, dieses Werkzeug wird bleiben, weil die Menschen jetzt wissen, wie es funktioniert und dass es die Isolation wenigstens ein stückweit durchbrechen kann.

Unser Thema heute sind aber weniger die Erkrankten, sondern vielmehr die Angehörigen. Warum beschäftigen Sie sich mit diesem Thema?

Psychisch Erkrankte haben immer ein Umfeld, und dieses Umfeld ist fast immer mit betroffen – egal um welche Erkrankung es sich handelt. Wenn zum Beispiel ein depressiv erkrankter Ehemann nur noch im Bett liegt und nichts mehr unternimmt, drückt das auch auf die Stimmung bei der Partnerin. Eine psychische Erkrankung, sei es nun eine Schizophrenie, eine Depression oder eine Angststörung, hat immer Auswirkungen auf die Beziehung und ist häufig sehr belastend. Wir müssen uns daher präventiv auch mit den Angehörigen befassen. Denn auch bei ihnen können als Folge psychische Erkrankungen auftreten –z.B. Depressionen oder Suchterkrankungen. Angehörige können andererseits hilfreich auf ihre Liebsten einwirken oder aber die Erkrankung durch Unwissenheit noch verstärken. Sie sollten also wissen, dass z.B. ein übermäßig protektives Verhalten oder Kritik nach dem Motto: „Reiß dich doch mal zusammen“ kontraproduktiv sein können, weil depressiv Erkrankte diesen Druck häufig nicht vertragen.

Was sollten Angehörige also tun?

Sie sollten sich informieren, z.B. über Ratgeberbücher oder andere Betroffene, etwa bei der Angehörigenselbsthilfe. Man kann und sollte die eigene Sorge dem kranken Menschen gegenüber ausdrücken und zum Beispiel fragen: „Ich sehe, dass Du Dich ständig zurückziehst. Kannst Du Dir das erklären, woher das kommt?“ Es ist wichtig, ins Gespräch zu kommen und gemeinsam zu überlegen, was man tun kann. Fragen sind oft hilfreich: Was wünscht Du Dir von mir? Soll ich Dich auffordern, mit mir spazieren zu gehen oder Dich eher in Ruhe lassen? Dieses Gespräch muss man immer wieder erneuern, weil sich die Bedürfnisse je nach Krankheitsphase auch verändern können. Wichtig ist aber auch zu wissen: Eine schwere Depression geht durch Liebe und Zuwendung allein nicht weg. Das Signal „ich stehe zu Dir“ hilft natürlich. Die ganze Verantwortung zur Aufheiterung und Motivierung der Betroffenen zu übernehmen überfordert jedoch und kann bis zum Burnout führen.

Gibt es Zahlen, wie viele Angehörige von psychisch Kranken selbst krank werden?

Man weiß, dass etwa 40 Prozent der Angehörigen von depressiv Erkrankten – Kinder nicht mitgerechnet – selbst professionelle Hilfe in Form von Beratungsgesprächen oder Behandlung brauchen. Aufgrund der Ausnahmesituation entwickeln viele eine Anpassungsstörung. Wenn etwa ein depressiv erkrankter Mensch nachts nicht mehr schlafen kann, kann auch der Partner oft nicht mehr schlafen, entwickelt eine innere Unruhe und fängt an zu grübeln. Manche brauchen evtl. Medikamente, weil sie früher selbst von einer psychischen Krankheit betroffen waren und diese droht, wiederzukommen. Wer früher schon einmal eine Depression hatte, kann durch den Stress der Erkrankung von Angehörigen erneut selbst krank werden. Daran sollte man denken und in diesem Fall eine professionelle psychotherapeutische Behandlung verschreiben. Mittlerweile gibt es auch das Instrument der Kurzzeittherapie, um Menschen kurzzeitig bei einer Erkrankung von Angehörigen zu unterstützen. Wir wissen außerdem: das Risiko für weitere psychische Erkrankungen in der Familie steigt , wenn bereits andere vorher erkrankt waren. Das gilt insbesondere für die Kinder psychisch Kranker.

Was sollten Ärzt*innen also beachten?

Wenn jemand über Erschöpfung oder Schmerzen klagt, sollte man auch an die Depression denken. Verstärkte Schmerzen oder andere körperliche Symptome sind häufige Zeichen von Depression. Darüber sollte man auch die Patient*innen aufklären. Bei leichten depressiven Symptomen kann man zunächst Literatur anbieten und den Patient*innen raten, sich nicht zurückzuziehen, sondern aktiv zu werden: Was sind meine Ressourcen? Was tut mir gut? Wenn es dann innerhalb von zwei Wochen nicht besser wird, sollte man ggf. auch zu Psychotherapeuten oder Psychiaterinnen überweisen. Die schon erwähnte Selbsthilfe ist eine gute Möglichkeit. Dort gibt es Beratungstermine für Erstinformationen und Angehörigengruppen zur langfristigen Unterstützung. Die Menschen dort sind meist sehr gut fortgebildet und kennen sich im Hilfenetz gut aus.

Wie kann und soll man Angehörige in eine Behandlung ihrer erkrankten Liebsten einbeziehen?

Das ist unter anderem abhängig davon, was sich die Betroffenen wünschen und wie die Beziehung ist. Ein unterstützendes Umfeld zu integrieren ist meistens gut, denn Angehörige können auch „kotherapeutisch“ tätig werden, etwa indem sie stellvertretend Hoffnung übernehmen und signalisieren: Ich stehe zu Dir, wir stehen das gemeinsam durch. Ärzt*innen können auch proaktiv anbieten, dass Angehörige mitkommen können, falls der Patient oder die Patientin nicht daran denkt.

Thema Depression im Alter: Auch davon sind Angehörige oft besonders betroffen, etwa wenn sie jemanden aus der Familie pflegen. Wie häufig ist Depression im Alter?

Sie ist sehr häufig. Zwar wird die Zahl in der Allgemeinbevölkerung oft überschätzt, weil viele denken, der Gedanke an den nahen Tod führe automatisch zu Depressionen. Das stimmt nicht – es gibt einen hohen Anteil an gesunden Senior*innen. Die Altersdepression steht aber sehr oft im Zusammenhang mit körperlichen Beschwerden, z.B. mit Schlaganfällen oder Demenz. Durch die demographische Entwicklung gibt es außerdem immer mehr ältere Menschen, sodass die Anzahl derjenigen mit Depression automatisch größer wird. Man weiß auch, dass Suizide bei älteren Männern besonders häufig sind.

Gibt es Parallelen zwischen Angehörigen von nicht depressiven Pflegebedürftigen und Angehörigen von Depressionskranken?

Ja. Auch diese Angehörigen sind häufig durch Sorge belastet. Viele erlauben sich nicht mehr, selbst Spaß zu haben, während der oder die andere krank zu Hause ist. Dabei ist es wichtig, schöne Dinge zu erleben. Angehörige sollten sich vor Augen führen, dass sie dadurch ihre Betreuungsaufgaben besser erledigen können. Von einem schönen Erlebnis zu erzählen kann auch eine Brücke zum kranken Angehörigen schlagen. Sich die Zeit für schöne Erlebnisse freizuschaufeln ist wichtig – im privaten Umfeld und auch durch professionelle Hilfe, z.B. durch Tagespflege. Viele machen sich zu viel Druck, alles selbst stemmen zu müssen, weil sie Angst haben, dass ihnen die Suche nach Entlastung als Egoismus ausgelegt wird. Was manchmal ja auch passiert. Es ist daher viel Aufklärungsarbeit nötig. In der Klinik sehen wir immer wieder Menschen, die sich so verausgabt haben, dass sie zusammenbrechen, sobald der gepflegte Angehörige gestorben ist.

Wie können Angehörige Depressionen bei Pflegebedürftigen erkennen?

Es kommt natürlich stark darauf an, was diese sagen. Bei Aussagen wie „ich habe keine Lust mehr, nichts macht mir mehr Freude, das hat doch alles keinen Sinn mehr“ etc. sollte man aufhorchen. Wichtig ist auch, ob die Aussagen zum Stadium der Erkrankung passen. Wenn sich jemand im Endstadium einer Krebserkrankung befindet, sind solche Aussagen nachvollziehbar. Wenn aber jemand nach einem Schlaganfall oder Herzinfarkt hinsichtlich der somatischen Beschwerden eigentlich wieder hergestellt ist, sollte man aufhorchen und reagieren.

Welche Wünsche hätten Sie im Hinblick auf Angehörige?

Es ist mir wichtig, dass sich behandelnde Ärzt*innen immer wieder fragen: Wie geht es den Angehörigen? Soll und kann ich sie mit einbeziehen? Angehörige sollten nicht als Belastung wahrgenommen werden, denn sie können die Behandlung unterstützen. Ihre Informationen können oft die Arbeit von Ärzt*innen erleichtern.

In den letzten Jahren war das oft nicht so einfach – wenn man etwa an Besuchsverbote in Kliniken und Pflegeheime denkt. Haben Sie damit Erfahrungen gemacht?

Ja, die Besuchsverbote waren und sind zum großen Teil sehr belastend. Viele haben zwar eingesehen, dass dies notwendig war. Sie fanden es emotional aber trotzdem sehr schwierig, ihre erkrankten Angehörigen in schweren Zeiten nicht unterstützen und ihnen keine Hoffnung machen zu können. Dabei ist Hoffnung bekanntermaßen ein wichtiger Faktor für die Gesundung. Die Hilflosigkeit, nichts tun zu können, hat viele sehr deprimiert. Bei den Patient*innen selbst wurde die Erkrankung durch die strengen Besuchsverbote in einigen Fällen verlängert. Ich habe zum Beispiel erlebt, dass Mütter von kleinen Kindern es trotz ihrer schweren Depressionen abgelehnt haben, in eine Klinik zu gehen – aus Angst, die Kinder nicht mehr sehen zu können.

 

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA-Nr. 9 vom 23.04.2022