Leitartikel

Amoklauf, Terroranschlag, Naturkatastrophe. Vorbereitet sein für den Notfall

Das Attentat von Halle ist nur wenige Monate her, und schon befassen wir uns kaum noch damit. Dabei sehen wir an der Coronakrise, wie viel sich von heute auf morgen ändern kann. Im Gespräch mit den MÄA berichtete der Anästhesist Dr. Christoph Schmitt-Hausser, wie man sich auf eine Krise vorbereiten kann.
Amoklauf, Terroranschlag, Naturkatastrophe. Vorbereitet sein für den Notfall
Amoklauf, Terroranschlag, Naturkatastrophe. Vorbereitet sein für den Notfall

Foto: Shutterstock

 

Herr Dr. Schmitt-Hausser, überall dreht sich alles um die Coronakrise, doch wir sprechen heute über mögliche Terroranschläge und andere lebensbedrohliche Einsatzlagen...

Ja, denn auch das ist wichtig. Zwischen beiden Themen gibt es viele Schnittmengen. Bei der Coronakrise geht es ebenso wie bei lebensbedrohlichen Einsatzlagen, etwa einem Attentat  darum, vorbereitet zu sein und frühzeitig alle verfügbaren Ressourcen zu erfassen. Es ist immer gut, wenn man umfassend vorbereitet ist, etwa durch Anlegen einer Datenbank zu verfügbaren Ressourcen wie Beatmungskapazitäten, Infusionen und Betäubungsmittelvorräten. Für Naturkatastrophen, wie die Coronakrise eine ist, benötigt man fast die gleichen Mittel und Wege wie bei einem Attentat. Auch ein schlimmer Tornado oder eine andere Naturkatastrophe würde die Mithilfe vieler verschiedener Ärzte erfordern.

Was ist aus Ihrer Sicht das Problem bei lebensbedrohlichen Einsatzlagen? Was hat man etwa aus dem Terroranschlag auf den Bataclan in Paris gelernt?

Im Dezember 2016 habe ich bereits einen Vortrag eines Kollegen gehört, der damals im November 2015 die Einsätze im Bataclan geleitet hat. Eine seiner Lehren daraus war: Rund 50 Prozent der Opfer hätten mit ganz einfachen Maßnahmen gerettet werden können – z.B. durch die Anlage von Tourniquets oder einer Thoraxdrainage. Das hat man anhand von Obduktionen festgestellt. Solche Maßnahmen könnte im Notfall auch ein geschulter Laie oder zumindest ein weniger spezialisierter Kollege vor Ort ergreifen. Er müsste dafür nur entsprechend ausgebildet sein und einen Blick dafür haben, was nötig ist. Das Instrumentarium für Tourniquets bei starker Blutung oder eine Nadelpunktion bei einem Spannungspneumothorax kostet nur wenige Euro. Entsprechende Maßnahmen wären unter Umständen sogar auch mit einfachen, schon vor Ort vorhandenen Gegenständen durchführbar gewesen. Frankreich hat damals innerhalb weniger Monate seine Schlüsse daraus gezogen und ist heute besser vorbereitet.

Gab es weitere Lehren aus dem Attentat damals?

Viele Ärzt*innen sind damals sozusagen in die Situation „reingerutscht“, obwohl sie eigentlich gar nicht beteiligt waren. Zum Beispiel haben Umstehende schwer Verletzte in Arztpraxen gebracht. Die dortigen Ärzt*innen und Helfer*innen waren damit aber überfordert. Wenn wir ehrlich sind: Auch bei uns wäre es wahrscheinlich so. Viele Ärzte kennen sich als Ersthelfer nicht besser aus als Laien, die gerade einen Erste-Hilfe-Kurs besucht haben. Um diese Lücke zu schließen und um Ärzt*innen diese Peinlichkeit zu ersparen, haben wir beim ÄKBV einen Kurs zu lebensbedrohlichen Einsatzlagen entwickelt. Wir haben die Kursinhalte ein wenig modifiziert und werden am 20. Mai 2020 diesen Kurs erstmals online über eine Videokonferenz anbieten.

Wie sieht Ihr Konzept dafür aus?

Wir haben zunächst ein eigenes Konzept entwickelt, orientieren uns aber jetzt auch an der englischen „Citizen-Aid“-Gruppe (www.citizenaid. org), und möchten deren Konzept und Schulungsvideos übernehmen. Hier haben wir schon vielversprechende Kontakte aufgebaut und werden auch die Möglichkeit erhalten, deren Schulungsvideos und Materialien zu nutzen. Übrigens als Erste in Deutschland. Auch Großbritannien ist schon viel weiter als wir in Deutschland, weil das Land, wie Frankreich, schon viel häufiger und stärker von Attentaten betroffen war. So gesehen leben wir hier auf einer Insel der Glückseligen. Mit der Idee zu einem speziellen Kurs für solche Einsatzlagen bin ich an den ÄKBV herangetreten, um Ärzte auf solch schlimme Situationen vorzubereiten und einen Status zu erheben, wie viele Ärzte im Notfall verfügbar wären und wie man sie erreichen könnte.

Welche Ideen gibt es dazu?

In einer Krise wie der Coronakrise ist es sinnvoll, alle Ressourcen in der Ärzteschaft, wie etwa Internisten oder Lungenärzte, frühzeitig über eine eigene Alarmgruppe ansprechen zu können. Auch bei einem Attentat könnten bestimmte Spezialisten häufiger benötigt werden als andere. Psychiater etwa könnten nach einem Attentat in einem Fußballstadion eine wichtige Rolle spielen. Nach einem Giftgas-Attentat mit vielen Augenverletzungen wiederum bräuchte man viele Augenärzte. Die Betroffenen könnte man z.B. in einem eigens dafür aufgebauten Zelt versorgen, damit sie nicht die Krankenhäuser „überfluten“ und dort  zwischen wirklich schwer Verletzten sitzen. Auch in einer Lage wie der jetzigen könnten wir mit entsprechender Vorbereitung infizierte  Patienten sofort über getrennte  Ressourcen versorgen. Es geht uns aber auch prinzipiell um die Nachqualifizierung von Ärzten für Situationen, in die sie zufällig oder kurzfristig „hineingeraten“.

Haben Sie den Eindruck, dass München heute, nach dem Amoklauf im Olympia-Einkaufszentrum, besser auf solche Notfälle vorbereitet ist?

Ich kenne nicht alle Detailplanungen, aber die professionellen Retter und Strukturen sind heute sicher besser vernetzt und geschult als damals. Uns geht es jedoch vor allem darum, Strukturen außerhalb der Profi-Rettung zu aktivieren: den Arzt, der zufällig vorbeikommt und sich fragt: Wie kann ich helfen? Wie kann ich mein eigenes Leben dabei schützen? In unserem Kurs lernt man z.B., dass es besser ist, sich hinter den Motorblock eines Autos zu flüchten als nur hinter ein Auto, das leicht von einer Langwaffe durchschossen werden kann. Es geht hier um den Erwerb von Wissen und Fähigkeiten, die einem nicht so ohne weiteres geläufig sind. Es soll kein nicht notfallmedizinisch versierter Arzt an die vorderste Front ins Gefecht geschickt werden. Vielmehr wollen wir ihm ermöglichen, sinnvoll mitzuhelfen. Es darf nicht sein, dass nach einem Großschadensereignis Fragen an die Münchner Ärzte auftauchen wie: Wo wart ihr? Warum wart ihr nicht vorbereitet?

Es gibt viele neue digitale Initiativen wie die Notfall-App „Mobile Retter“ (s. MÄA 07/2020 „München rettet Leben“)...

Diese App richtet sich derzeit noch vorrangig an Laienhelfer. Für Ärzte wird man diese App in einem zweiten Schritt so implementieren, dass sich damit z.B. die oben erwähnten Spezialistengruppen bilden und kontaktieren lassen. Der ÄKBV wird sich an der Schulung beteiligen. Auch bei Citizen Aid gibt es eine solche Funktion, um Ressourcen zu aktivieren.

Gibt es genügend leicht zugängliche Tourniquets und andere Instrumente in München?

Nein, leider nicht. Wir haben schon Kontakte mit der Bundeswehr und der Polizei geknüpft, um ein gemeinsames „Munich Bleeding Kit“ oder „Munich Trauma Kit“ als Standard zu etablieren – bestehend aus einem Tourniquet, einer Israeli-Bandage, einem Wendel-Tubus, Handschuhen und einer Rettungsfolie als Inhalt. Dieses Standard-Kit sollte im Idealfall über ganz Deutschland verbreitet sein. Es könnte z.B. an die derzeit schon in U-Bahn-Stationen verfügbaren Defibrillatoren angehängt werden. Auch Polizei- und Feuerwehrfahrzeuge sowie Rettungswagen sollten idealerweise damit ausgerüstet sein, genauso wie Hausärzte. Wir sind derzeit dabei, ein solches Kit in Abstimmung mit vielen anderen zu entwickeln.

Derzeit herrscht bereits Personalknappheit bei Ärzten und in der Pflege. Gäbe es im Notfall überhaupt genügend Spezialisten?

Für einen Terroranschlag auf jeden Fall. Auch für eine Situation wie derzeit, die sich über mehrere Monate hinzieht, lassen sich ja Ressourcen finden. Ich zum Beispiel arbeite derzeit in deutlich reduzierter Form. Unsere elektiven Eingriffe sind derzeit nicht erlaubt. Womöglich wird sich das noch ändern, wenn unsere Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern Unterstützung brauchen. Es ist gut, dass wir uns auf eine mögliche zweite Infektionswelle vorbereiten können. Meine hiesigen Kollegen und ich haben alle schon in diesem Bereich gearbeitet. Natürlich sind wir nicht mehr so versiert wie die an vorderster Front tätigen Kollegen. In enger Zusammenarbeit mit ihnen können wir unsere Kenntnisse aber leicht wieder auffrischen.

Wie kann man Kollegen auf Verletzungen durch Bomben, Schüsse oder Messerstiche vorbereiten?

Das tun wir in unserem Kurs: In einem ersten medizinischen Teil erklären wir den Kollegen die notwendigen medizinischen Grundlagen. Bei der prioritätenorientierten Versorgung von Schwerverletzten geht es zuallererst um Atmung und Blutungen. In einem zweiten Teil werden die Aspekte aus Sicht des Rettungsdiensts geschildert: Wie funktionieren Sichtung und Triage, wenn viele Verletzte, aber nur wenig Hilfskräfte zur Verfügung stehen? Wer ist mein Ansprechpartner vor Ort: der mit den drei Streifen auf der Schulter, der mit dem gelben oder der mit dem roten Helm? In einem dritten Teil erläutert ein sehr guter Referent vom SEK Bayern, wie die Polizei vorgeht. Warum lässt sie Verletzte womöglich einfach liegen? Die Polizei hat andere Aufgaben als wir. Sie muss zunächst den Täter ausschalten, denn es geht ums große Ganze. In einem letzten praktischen Teil üben wir die Tourniquetbandage und die Sicherung der  Atemwege.

Wie gut sind die Kliniken aus Ihrer Sicht auf eine solche Lage vorbereitet?

Ich bin Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Katastrophenschutz Münchner Krankenhäuser und habe dort einmal genau diese Frage gestellt: Weiß z.B. jeder in Eurer Klinik, was ein Lockdown bedeutet? Hier wird schon sehr viel getan, aber bisher wurde insgesamt die Notwendigkeit unterschätzt oder es gab wichtigere Themen zu bearbeiten. In den USA weiß das jedes Kind. Hier könnte man sich überlegen, alle Mitarbeiter*innen verpflichtend einmal im Jahr mit Video-Tutorials schulen, um möglichst schnell einen wirksamen Hebel anzusetzen. Denn im Notfall muss jeder wissen, was er zu tun hat – auch der Hausmeister und der Pförtner. Auch Corona-Zeiten sind keine Garantie dafür, dass Terrorattacken ausbleiben werden.