Leitartikel

Ärztliche Leichenschau - Schau genau hin!

Die Todesart bis hin zu Tötungsdelikten festzustellen ist eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe der ärztlichen Leichenschau. Die MÄA sprachen darüber mit dem Rechtsmediziner Prof. Dr. Oliver Peschel und dem Mediziner und Juristen Dr. Benno Schäffer.
Ärztliche Leichenschau - Schau genau hin!
Ärztliche Leichenschau - Schau genau hin!

Foto: Dr. Schäffer

 

Herr Dr. Schäffer, Herr Prof. Peschel, die ärztliche Leichenschau war lange Zeit nicht besonders beliebt. Hat sich daran inzwischen etwas geändert?

Schäffer: Das Thema Tod ist auch für Ärztinnen und Ärzte kein leichtes Thema – sogar für sehr erfahrene Kolleg*innen, die schon jahrelang tätig sind. Zudem fehlt vielen das Wissen und die Praxis. In der Vergangenheit kam sicherlich noch die teils doch geringe Vergütung hinzu. Das hat sich inzwischen geändert. Die Qualität der Leichenschau in Deutschland ist trotzdem verbesserungswürdig. Daher führen wir beim ÄKBV regelmäßig Leichenschau-Kurse durch.

Peschel: Die Leichenschau ist sehr wichtig, weil nur damit zuverlässig der Tod festgestellt werden kann – anhand von fünf sicheren Todeszeichen, die jeder Arzt und jede Ärztin kennen muss: Leichenflecken, Lechenstarre, Fäulnis, Hirntod sowie Zustände, die nicht mit dem Leben vereinbar sind. Ein Beispiel für einen nicht mit dem Leben vereinbaren Zustand ist etwa ein durch einen Zug abgetrennter Kopf. Der Hirntod spielt in der Praxis eher eine geringe Rolle. Er wird in der Klinik vor Organentnahme zur Transplantation geprüft.

Warum wissen Kolleg*innen so wenig über die ärztliche Leichenschau?

Peschel: Sie ist Teil des Studiums, doch leider nur ein kleiner Teil. In der klinischen Praxis werden Berufsanfänger*innen zwar oft sehr schnell mit dem Thema konfrontiert. Schließlich sterben die meisten Menschen heutzutage in Kliniken. Doch gerade für eine Leichenschau im häuslichen Umfeld braucht es viel Hintergrundwissen und Erfahrung, weil die Situation dort oft weniger leicht einzuschätzen ist – vor allem, wenn man den oder die Verstorbene*n nicht kannte. Häufig fehlen Informationen – z.B. Krankenhausbriefe, Medikamenten- oder Pflegepläne.

Schäffer: Es gibt grundsätzlich drei Todesarten: den nicht natürlichen Tod, wenn Einflussfaktoren von außen vorliegen, z.B. ein Verkehrsunfall, Sturz oder ein Suizid. Die ungeklärte Todesart, wenn man einen Leichnam z.B. wegen stark fortgeschrittener Fäulnis nicht mehr richtig untersuchen kann oder wenn die Todesursache aus anderen Gründen nicht klar ist. Und drittens gibt es den natürlichen Tod, für den laut AWMF-Leitlinie vier Kriterien erfüllt sein müssen: Es braucht eine innere Erkrankung, die Erkrankung muss ärztlich konkret und dokumentiert bekannt gewesen und der Tod muss aufgrund dieser Erkrankung erwartbar gewesen sein. Viertens muss der Tod völlig unabhängig von rechtlich bedeutsamen Faktoren eingetreten sein. Wenn also z.B. Angehörige den Vorwurf erheben, dass ein Behandlungsfehler stattgefunden hat, liegt keine natürliche Todesart vor. Die gerade erwähnte AWMF-Leitlinie sollten alle Leichenschauer*innen kennen.

Ist die ärztliche Leichenschau inzwischen etwas beliebter geworden?

Peschel: Inzwischen wird die Leichenschau nach der Änderung der Gebührenordnung wesentlich besser vergütet. Unsere Kurse waren aber auch schon in der Vergangenheit häufig ausgebucht, etwa durch Kolleginnen und Kollegen, die sich nach der Arbeit im Krankenhaus in einer eigenen Praxis niederlassen wollten und KV-Dienste machen mussten. Das Interesse ist jetzt sicherlich noch einmal deutlich gestiegen.

Wie läuft die ärztliche Leichenschau ab? Was ist wichtig?

Peschel: Gerade im ambulanten Bereich gibt es oft komplexe Auffindesituationen. Nicht jede*r verstirbt im Bett, was die Leichenschau erschwert. Wenn sich jemand z.B. in der U-Bahn suizidiert hat und dort z.B. noch Strom fließt, muss man als Erstes auf den Eigenschutz achten. Genauso im häuslichen Umfeld z.B. nach einem Brand. Als Zweites sucht man nach den sicheren Todeszeichen. Findet man diese nicht, muss man entscheiden, ob eine Reanimation durchgeführt werden muss und ob dies mit dem Patientenwillen vereinbar ist. Wird beides bejaht, muss man die Reanimation einleiten bzw. den ärztlichen Rettungsdienst zur Hilfe holen.

Schäffer: Abgeschlossen wird die Leichenschau durch das Ausfüllen der Todesbescheinigung, die jede*r Leichenschauer*in dabei haben muss. Diese hat einen nicht vertraulichen und einen vertraulichen Teil. Anzugeben sind auch Warnhinweise für andere, z.B. zu einer möglichen Infektionsgefahr wie bei Covid-19. Der vertrauliche Teil wird den Angehörigen bzw. dem Bestatter in einem verschlossenen Umschlag übergeben. Er enthält weitere relevante medizinische Angaben, die z.B. ans Gesundheitsamt, für das Krebsregister oder an das Landesamt für Sttistik übermittelt werden. Falls eine Obduktion durchgeführt wird, gibt es noch einen Obduktionsdurchschlag.

Peschel: Die Todesbescheinigung enthält beim natürlichen Tod auch Angaben zur todesursächlichen Kausalkette, z.B. eine bekannte KHK, die zuletzt mit Brustschmerzen zu einem akuten Myokardinfarkt geführt hat. Wichtig ist, bei jedem Einfluss von außen, insbesondere auch bei einem Sturz, an Anhaltspunkte für einen nicht natürlichen Tod zu denken – grundsätzlich unabhängig von zeitlichen Zusammenhängen. Ein klassisches Beispiel ist ein Sturz auf dem vereisten Boden, der zu einer Oberschenkelhalsfraktur und einem Klinikaufenthalt mit einer anschließenden Lungenentzündung und Todesfolge führt. Hier steht am Anfang das Sturzgeschehen. Es liegt also ein Anhaltspunkt für einen nicht natürlichen Tod vor.

Was sind die Herausforderungen bei der Leichenschau?

 Schäffer: Es ist wichtig, sie sehr sorgfältig durchzuführen und genau hinzuschauen. Man muss den Leichnam entkleiden und ihn vollständig von Kopf bis Fuß untersuchen – der Merkspruch lautet hier: „von der Locke bis zur Socke“ – und zwar an der Vorder- und an der Rückseite. Man muss den Körper dazu wenden und in alle Öffnungen schauen: in Mund, Nase, Ohren, After und Genitalbereich. Kleiderschere und Pinzetten gehören daher zur Standardausrüstung, genauso wie Handschuhe und FFP2-Masken.

Peschel: Besonders wichtig ist es, die Augenlider und Bindehäute, Mundschleimhaut und auch den Bereich hinter den Ohren gut zu untersuchen, denn dort kann man sogenannte Punktblutungen entdecken, die auf eine Strangulation hinweisen können. Das üben wir auch bei den Leichenschaukursen. Wenn Punktblutungen entdeckt werden, muss man die Leichenschau sofort abbrechen und die Polizei informieren. Das gilt grundsätzlich für jeden Anhaltspunkt für einen nicht natürlichen Tod.

Schäffer: Bei den Leichenschauen ist es auch wichtig, dass man genügend Licht hat, weil man den Leichnam ja primär optisch untersucht. Ich persönlich habe daher immer eine Stirnlampe dabei. Wenn das nicht reicht, muss man sich Hilfe holen, z.B. durch die Polizei oder die Feuerwehr. Man braucht ausreichend Zeit, um den Leichnam zu untersuchen, aber auch um mit Angehörigen zu sprechen und Arztbriefe zu lesen.

Wie häufig braucht man die Polizei bei der Leichenschau?

Schäffer: Als Niedergelassene*r oder als Angestellte*r in einer Klinik kennt man die Patient*innen ja meistens. Wenn man die Person nicht kennt, ist es sehr wichtig, die Auffindesituation mit Fotos zu dokumentieren und Informationen von Angehörigen oder Kolleg*innen zu erheben, etwa zu Vorerkrankungen oder früheren Therapien. Bei der Arbeit im Rahmen des forensischen Leichenschaudiensts im Auftrag der Polizei ist die Streifenpolizei in der Regel vor Ort.

Peschel: In Bayern sind Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, ihren leichenschauenden Kolleg*innen Auskunft zu geben. Sobald es irgendeinen Hinweis auf einen nicht natürlichen oder ungeklärten Tod gibt, muss die Polizei hinzugezogen werden. Das gilt auch bei Hinweisen auf einen Suizid, also wenn es etwa einen Abschiedsbrief gibt.

Für wen sind die Leichenschau-Kurse beim ÄKBV konzipiert?

Schäffer: Sie sind für alle Ärztinnen und Ärzte interessant! Alle Klinkärzt*innen und alle niedergelassen Ärzt*innen in Bayern sind dazu verpflichtet, Leichenschauen durchzuführen. Egal, wo man arbeitet – man entkommt dieser Thematik nicht. Wir empfehlen den Kurs nicht nur niedergelassenen hausärztlichen Kolleg*innen, sondern auch Berufseinsteiger*innen, im Notarztdienst Tätigen und auch allen Fachärzt*innen. Die Tätigkeit als Leichenschauer*in ist sehr spannend. Nicht umsonst ist die Rechtsmedizin so häufig Gegenstand in den Medien. Ich lerne weiterhin jedes Mal dazu.

Peschel: Man hat als Arzt oder Ärztin eine große Verantwortung – für die Verstorbenen und ihre Angehörigen, aber auch für die Gesellschaft. In zwei Modulen besprechen wir im Kurs theoretische und rechtliche Aspekte sowie häufige Fragen, z.B. mögliche Blickdiagnosen wie kirschrote Totenflecken durch eine Kohlenmonoxidvergiftung. Außerdem behandeln wir Kasuistiken wie: Was muss ich beim Tod in einer Badewanne beachten? Beim praktischen Teil üben alle Teilnehmer*innen im Sektionssaal die Untersuchung eines Leichnams von Kopf bis Fuß – einschließlich der nicht ganz einfachen Augenuntersuchung mit den Pinzetten. Jedes Kursmodul findet jeweils mittwochs drei Stunden lang, von 18 bis 21 Uhr, statt.

Zurück zur täglichen Praxis: Braucht es immer eine genaue Todesursache?

Schäffer: Für die Diagnose eines natürlichen Tods ist die genaue Todesursache wichtig. Natürlich kann man bei der äußeren Leichenschau nur eine Aussage mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit treffen. Sobald man sich unsicher ist oder Zweifel hat, ist es ratsam eine ungeklärte Todesart festzustellen, und man muss die Polizei informieren. Die Kriminalpolizei führt dann ein Todesermittlungsverfahren durch, an dessen Ende die Ergebnisse der Staatsanwaltschaft vorgelegt werden. Diese entscheidet dann in Rücksprache mit dem oder der Ermittlungsrichter*in, ob eine Obduktion und gegebenenfalls auch noch weitere Untersuchungen, z.B. eine toxikologische Analyse, durchgeführt werden.

Was für Gründe gibt es für etwaige ärztliche Fehleinschätzungen?

Peschel: Was wir sehen und was wir erkennen, wird stark durch unsere Erwartungshaltung bestimmt. Wenn ich erwarte, dass jemand tot ist, kann es sein, dass ich Anzeichen des Lebens übersehe. Das Gleiche gilt, wenn ich erwarte, dass jemand aufgrund einer bekannten Erkrankung verstorben ist. Um Fehler auszuschließen, wird es ab Mitte 2024 auch in Bayern eine zweite Leichenschau geben, bevor eine Leiche kremiert wird – wie dies derzeit schon in vielen anderen Bundesländern vorgeschrieben ist. Derzeit prüft die Polizei vor der Kremation lediglich die Todesbescheinigung – allerdings ohne die Leiche anzuschauen. Ich gehe davon aus, dass die Kontrolldichte durch die Krematoriumsleichenschau zunehmen wird. In den anderen Bundesländern liegt die Anhaltequote, dass also nach der zweiten Leichenschau vor der Kremation nochmal alles polizeilich überprüft wird, bei fünf bis zehn Prozent.

Kann es passieren, dass Ärzt*innen belangt werden, wenn es zu Fehlern kommt?

Schäffer: Die Gesundheitsämter sichten die Todesbescheinigungen regelmäßig, und wenn sie ärztliches Fehlverhalten feststellen, sanktionieren sie dieses gegebenenfalls auch. Das Wichtigste ist, sichere Todeszeichen festzustellen, um auf jeden Fall einen Scheintod zu vermeiden, und nach Hinweisen auf Fremdverschulden zu suchen. Die Leichschauer*innen sind schließlich die letzten Ärzt*innen, die Tötungsdelikte aufdecken können.

Peschel: Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland jedes Jahr etwa 1.200 bis 2.400 unentdeckte Tötungsdelikte. Diese Zahl basiert auf einer Multicenter-Studie aus Münster in den 1990er Jahren mit rund 13.000 Obduktionsfällen. Unter den etwa 1.000 als natürlich attestierten Todesfällen fanden sich rund ein Dutzend Tötungsdelikte! Da sich die Rahmenbedingungen kaum geändert haben, kann man dies durchaus hochrechnen und als Basis für heutige Zeiten nehmen. Leider wird oft genug zur Vermeidung von Diskussionen mit der Polizei nicht genau genug hingeschaut.

Was ist also Ihre Botschaft an leichenschauende Ärztinnen und Ärzte?

Peschel: Es darf nicht passieren, dass man allein deshalb, weil man einen alten Menschen vorfindet, eine natürliche Todesursache bescheinigt. Nicht alles, was nicht sofort wie ein Mord aussieht, ist auch ein natürlicher Tod. Die Zahlen nicht erkannter unnatürlicher Todesfälle sind sicher bei älteren und pflegebedürftigen Menschen und bei kleinen Kindern am höchsten. Kleinen Kindern wird häufig zu schnell der plötzliche Kindstod bescheinigt.

Schäffer: Die Strafverfolgungsbehörden stellen sich vorrangig die Frage, ob ein Fremdverschulden zum Tod geführt hat. Wenn ohne genau hinzuschauen und nachzufragen ein natürlicher Tod bescheinigt wird, können aber nicht nur Tötungsdelikte übersehen werden. Das kann auch versicherungsrechtliche Konsequenzen haben. Wenn ich zum Beispiel heute auf dem Weg zur Arbeit stürze und infolgedessen sterbe, erhalten meine Angehörigen unter Umständen keine Leistungen aus der Unfallversicherung, wenn mir stattdessen fälschlich ein Herzinfarkt, also ein natürlicher Tod, bescheinigt wird.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 2/2023 vom 14.01.2023