Leitartikel

127. Deutscher Ärztetag in Essen, Auf Augenhöhe mit der Politik

Partizipation statt Planung forderte der 127. Deutschen Ärztetag Mitte Mai in Essen. Die Delegierten verlangten Gehör für ihre Stellungnahmen zu Lehren aus der Corona-Pandemie, einer besseren Arzneimittelversorgung, mehr Gesundheitskompetenz, Klimaschutz und dem Schutz des freien Arztberufs.
127. Deutscher Ärztetag in Essen, Auf Augenhöhe mit der Politik
127. Deutscher Ärztetag in Essen, Auf Augenhöhe mit der Politik

Foto: Stephanie Hügler

 

 In der Pandemie war die Ärzte­schaft eine gefragte Partnerin der Politik. Doch ist sie das heute auch noch? Bereits in seiner Eröff­nungsrede zum Deutschen Ärztetag zweifelte Bundesärztekammerprä­sident Dr. Klaus Reinhardt daran. Statt auf Augenhöhe mit der ärztli­chen Selbstverwaltung zusammen zu arbeiten werde von der Politik noch immer zu oft ohne ärztlichen Sachverstand entschieden. Ange­sichts der vielen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Krisen for­derte der BÄK-Präsident daher mehr Strategien und gemeinsame politische Konzepte. Gesundheit müsse entsprechend der Maxime „Health in all Policies“ in allen Poli­tikbereichen im Mittelpunkt stehen.

„Man kommt schneller zu gemein­samen Lösungen, wenn man ver­sucht, mit den Augen des anderen zu sehen, mit den Ohren des ande­ren zu hören und auch mal mit dem Kopf des anderen zu denken!“ Dieses Zitat des österreichischen Psychotherapeuten Alfred Adler nutzte Reinhardt auch als Botschaft an den anwesenden Bundesgesundheitsminister Dr. Karl Lauter­bach: Mehr Partnerschaftlichkeit im Umgang mit der Ärzteschaft sei dringend nötig.

„Wir haben uns pragmatisch einge­bracht, täglich, verlässlich, ohne Alarmismus und ohne Panikmache“, sagte Reinhardt im Rückblick auf die Pandemie. Von Anfang an sei die Ärzteschaft in die Ad-hoc-Maßnah­men zur Änderung des Infektions­schutzgesetzes eingebunden gewe­sen. Gesetzes- und Verordnungs­entwürfe seien teilweise in Stun­denfrist gegengelesen, ergänzt und korrigiert worden. Man habe Hel­fer*innen in den Testzentren ange­worben, einen ärztlichen Pandemie­rat eingerichtet, gemeinsam am Pakt für den Öffentlichen Gesund­heitsdienst gearbeitet und schwere ethische Entscheidungen getroffen. „Wir“..haben..“ bewiesen, dass es einen echten Mehrwert hat, wenn die Ärzteschaft eng in die wichtigen, die Gesundheit der Menschen betreffenden Entscheidungen ein­bezogen wird“, sagte Reinhardt. Auch im Ukraine-Krieg hätten Ärzt*innen mit angepackt, indem sie ehrenamtlich geholfen und medizi­nische Hilfe in Deutschland und in der Ukraine geleistet hätten.

Die Herausforderungen der vielen Krisen unserer Zeit seien „so kom­plex, dass wir nur im vernetzten Denken umfassend ana­lysieren und darauf aufbauend trag­fähige Konzepte entwickeln kön­nen“, sagte Reinhardt. Neben der älter werdenden Gesellschaft mit ihrem erhöhten medizinischen Ver­sorgungsbedarf nannte er auch die Erosion von Gemeinschaftsstruktu­ren wie Sportvereinen und der „gän­gigen Familienstrukturen“. Die Ver­sorgung von immer mehr Geflüch­teten, die gesundheitlichen Auswir­kungen des Klimawandels und der extreme Fachkräftemangel im Gesundheitswesen könnten nur gemeinsam geschultert werden.

In einem politischen Rundumschlag befasste sich Reinhardt unter ande­rem mit den Themen Opt-out-Rege­lung bei der ePA, Krankenhausre­form, iMVZ, Nachwuchsprobleme und GKV-Konsolidierung. In all die­sen Bereichen forderte Reinhardt die Bundesregierung dazu auf, die Ärzteschaft in Gesprächen einzube­ziehen statt sie, wie etwa bei der Gematik geplant, aus Gremien aus­zugrenzen. „Natürlich ist der Einbe­zug der Selbstverwaltung für die Politik manchmal unbequem. Aber er ist notwendig“, sagte er. Bei der geplanten Neuordnung der Gebüh­renordnung für Ärzte (GOÄ) forderte er die politischen Entscheidungs­träger*innen dazu auf, endlich ihre Hausaufgaben zu   nicht Wochen in Anspruch – nicht nur wenige Stunden. Eine „pro-for­ma-Beteiligung des Parlaments und der organisierten Zivilgesellschaft“ bezeichnete Reinhardt als „demo­kratiegefährdend“. Expertenanhö­rungen und Stellungnahmen zu Ver­ordnungs- und Gesetzgebungspro­zessen seien nicht ohne Grund gesetzlich vorgesehen. Ärztinnen und Ärzte als Lobbyorganisationen zu diskreditieren und daher an Reformvorhaben nicht zu beteiligen sei „billig, aber nicht Recht“.

Das Plenum am Nachmittag griff die Themen aus seiner Rede auf und fasste sie im Beschluss „Partizipati­on vor Planung – Praxischeck vor jeder Reform“ zusammen. „Deutschland braucht eine ganz­heitliche und nachhaltig ausgerich­tete Gesundheitspolitik, in deren konzeptionelle Ausgestaltung der medizinisch-fachliche Sachver­stand und das Versorgungswissen der Ärzteschaft einbezogen werden müssen“, formulierte der Deutsche Ärztetag.

Die Abgeordneten stimmten für einen Deutschen Gesundheitsrat, die Umsetzung der Maxime „Health in all Policies“ und ein stimmiges Gesamtkonzept zur sektorenverbin­denden Versorgung besonders im Akut-und Notfallbereich. „Statt einer ausschließlich auf den Kran­kenhausbereich fokussierten Reform brauchen wir eine umfas­sende Gesundheitsreform, die überfällige Neuregelungen auch in anderen Versorgungsbereichen beinhaltet und dem Prinzip ‚ambu­lant vor stationär’ folgt“, lautete das klare Statement der Delegierten.

Die ambulante Versorgung müsse gestärkt, der Einfluss von Fremdin­vestoren in Medizinischen Versor­gungszentren begrenzt werden. Für die Digitalisierung brauche es eine Umsetzungsstrategie durch eine gemeinsam entwickelte „Roadmap“ mit der Gematik. Die Zahl der Medi­zinstudienplätze müsse bundesweit um 6.000 erhöht werden. Gesund­heitsschädliche Lebensstilmuster als Folge der Pandemie müssten durch langfristige Gesundheitsför­derung und Prävention strategisch bekämpft werden.

Die fehlende Gesundheitskompe­tenz bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen war anschließend Thema mehrerer Reden und Vorträ­ge: Reinhardt, die nordrhein-westfä­lische Bildungsministerin Dorothee Feller und der Spezialist für Health Literacy, Prof. Dr. Orkan Okan von der TU München, machten deutlich: Die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat in der Pandemie durch soziale und psychische Fol­gen von Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen stark gelit­ten. Bewegungsmangel, Drogen­konsum, Sucht, Adipositas und Ess­störungen haben zugenommen.

Das Plenum forderte daher eine fächerübergreifend und bundesweit abgestimmte Strategie: Kitas und Schulen müssten den Heranwach­senden mehr Wissen über und Kom­petenzen für eine gesunde Lebens­führung vermitteln. Gesunde Ernäh­rung solle fächerübergreifend über­all auf dem Stundenplan stehen. Ihren im Koalitionsvertrag verein­barten Präventionsplan müsse die Bundesregierung schnell und kon­kret umsetzen. Auch viele bayeri­sche Delegierte setzten sich für mehr Gesundheitskompetenz bei Kindern und Jugendlichen sowie für die Prävention und Behandlung von schädlichem Mediennutzungsver­halten ein. Es gelte, die Medienkom­petenz von Kindern, Jugendlichen, ihrer Eltern, Erzieher*innen und anderer Pädagog*innen zu steigern. Eltern und Pädagog*innen müssten für die Problematik sensibilisiert werden, um einen gesunden Umgang mit Medien zu begleiten, zu steuern und zu entwickeln.

In einem weiteren Vortrag referier­te Peter Müller, Richter des Zweiten Senats am Bundesverfassungsgericht, über Freiheit und Verant­wortung von Ärztinnen und Ärzten und die Notwendigkeit der ärztli­chen Selbstverwaltung. „Rahmen­bedingungen, die eine freie Berufs­ausübung sicherstellen“ zu schaf­fen forderten die Abgeordneten anschließend in der „Essener Reso­lution“. Den Patient*innen gegen­über übernehme die Ärzteschaft eine persönliche Verantwortung. Fehlende finanzielle und personelle Ressourcen, die Kommerzialisie­rung der Medizin, staatsdirigisti­sche Eingriffe in die Selbstverwal­tung und permanente Kontrollbürokratie führten jedoch immer wieder zu Arbeitsverdichtung und Überlastung der Gesundheitsberufe.

„Die individuelle Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfordert Rahmenbedingungen, die eine freie Berufsausübung sicher­stellen,“ stellte der Deutsche Ärzte­tag klar. „Freiheit und Verantwor­tung bilden eine Einheit". Zur Bera­tung und Unterstützung von Ärztin­nen und Ärzten in abhängigen Arbeitsverhältnissen forderten mehrere Münchner Delegierte die Einrichtung einer Ombudsstelle zur Abwehr von nicht der Berufsord­nung widersprechenden Einfluss­nahmen von Arbeitgebern auf medi­zinische Entscheidungen. Der Antrag wurde zur Entscheidung an den Vorstand überwiesen.

Angesichts immer häufiger fehlen­der Arzneimittel riefen die Delegier­ten die Bundesregierung dazu auf, die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Medikamenten und Impfstoffen sicherzustellen. Dazu brauche es eine nationale Arz­neimittelreserve, Anreize für die Produktion in europäischen Län­dern, eine Überprüfung und Diversi­fizierung der Lieferketten und EU-weite Lösungen. Pharmazeutische Unternehmen müssten unter Straf­androhung verpflichtet werden, dro­hende oder manifeste Liefereng­pässe zu melden. Das Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln (ALBVVG) greife viel zu kurz. Regresse gegen Ärztinnen und Ärzte wegen ‚unwirt­schaftlicher Verordnung‘ von Arz­neimitteln müssten gesetzlich aus­geschlossen werden.

Als Vorsitzende der Arbeitsgruppe „Klimawandel“ referierten der Präsi­dent der Bayerischen Landesärzte­kammer, Dr. Gerald Quitterer, und der Präsident der Berliner Ärzte­kammer, PD Dr. Peter Bobbert, über erste Ergebnisse und Fortbildungs­möglichkeiten. Alle Entscheidungs­träger*innen müssten das Erreichen der Klimaneutralität im Gesund­heitswesen in Angriff nehmen, forderte anschließend das Plenum: „Unsere Verantwortung ist Ver­pflichtung zugleich - Klimaschutz ist Gesundheitsschutz“. Ein wichtiger Baustein dafür ist laut einem Antrag mehrerer Delegierter aus Bayern eine pflanzenbasierte und fleischarme Ernährung für Patient*innen und und Mitarbeitende in Kliniken – unter Berücksichtigung regionaler und ökologisch arbeitender Anbie­ter sowie der Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.

Weitere Themen auf dem Ärztetag waren unter anderem die geplante Cannabis-Legalisierung, Digitalisie­rung und die ärztliche Weiterbil­dung. Bei der Wahl zum Präsidenten der Deutschen Ärztekammer wurde Dr. Klaus Reinhardt knapp in seinem Amt bestätigt – mit wenigen Stim­men Vorsprung vor der Gegenkandi­datin Dr. Susanne Johna. Johna steht Reinhardt künftig als Vizeprä­sidentin gemeinsam mit Dr. Ellen Lundershausen zur Seite.

Stephanie Hügler

MÄA Nr. 13 vom  17.06.2023