Leitartikel

126. Deutscher Ärztetag in Bremen, Sorgen um den Nachwuchs

Digitalisierung, Musterweiterbildungsordnung, Klimaschutz, GOÄ – die Liste der auf dem 126. Deutschen Ärztetag in Bremen vom 24. bis 27. Mai behandelten Themen war lang. Doch zwei Schwerpunkte beschäftigten die Delegierten besonders: die Sorge um den ärztlichen Nachwuchs und die um den Nachwuchs der gesamten Bevölkerung.
126. Deutscher Ärztetag in Bremen, Sorgen um den Nachwuchs
126. Deutscher Ärztetag in Bremen, Sorgen um den Nachwuchs

Foto: Christian Glawe-Griebel / helliwood.com

Kinder und Jugendliche, so wurde in mehreren Vorträgen im Plenum deutlich, haben unter den Corona-Maßnahmen teilweise extrem gelitten – mit möglicherweise langfristigen Folgen. Doch zunächst war es der allgegenwärtige Schrecken des Kriegs, der sowohl die Eröffnungsveranstaltung als auch die Plenarsitzung prägte. In seiner Eröffnungsrede begrüßte Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt unter anderem Prof. Dr. Andriy Bazylevych, Vorstandsmitglied der Ukrainian Medical Association. Reinhardt verwies auf die schlimmen Folgen des Kriegs bei der Zivilbevölkerung, besonders bei Kindern. Nicht einmal Kliniken und Ambulanzen seien vor Bombenangriffen sicher. Die deutsche Ärzteschaft zeige sich solidarisch: Um die 1.600 deutsche Kolleg*innen hätten sich bereits für einen ärztlichen Einsatz vor Ort gemeldet. In der anschließenden Plenarsitzung erhielt Bazylevych minutenlang stehende Ovationen von den Delegierten.

Katastrophen und Probleme – drohende und solche, die bereits geschehen sind – beschäftigten Reinhardt auch im Rest seiner Rede: Die Pandemie sei natürlich noch nicht vorbei und belaste alle, die schwer an Corona erkrankt seien. Sie belaste aber auch diejenigen, die besonders unter den Eindämmungsmaßnahmen gelitten haben: die vulnerable Gruppe der Kinder und Jugendlichen. Viel zu oft werde sie übersehen, weil sie keine politische Lobby habe. Während der Pandemie habe man enorme Schäden durch Schul- und Kitaschließungen in Kauf genommen, um die ältere Bevölkerung zu schützen. Die Folgen bei den Heranwachsenden seien nicht nur Bildungsdefizite, sondern auch zahlreiche psychische und psychosomatische Probleme durch Zukunftsängste, erhöhten Leistungsdruck sowie Vereinsamung bei gleichzeitig erhöhten familiären Spannungen, Konflikten und häuslicher Gewalt.

In der Hamburger COPSY-Studie beklagten demnach 83 Prozent der Kinder und Jugendlichen während der ersten Phase des Lockdowns einen Rückgang ihrer sozialen Kontakte, 39 Prozent eine Verschlechterung ihrer freundschaftlichen Beziehungen. Besonders betroffen waren Kinder aus benachteiligten Familien.

Die Politik müsse sich bereits jetzt auf erneut steigende Infektionszahlen im Herbst vorbereiten, sagte Reinhardt. Man brauche endlich „klug gemachte, zielgruppengerechte Informationskampagnen“ zum Impfen, Hygienekonzepte und Notfallpläne sowie ausreichend antivirale Medikamente und monoklonale Antikörper zur Therapie.

Das Plenum befasste sich ausführlich mit diesem Thema. In mehreren Anträgen forderte es unter anderem, flächendeckende Schließungen von Kindertageseinrichtungen und Schulen künftig zu vermeiden. Stattdessen müssten Hygiene- und Schutzmaßnahmen weiter entwickelt, ein Expertenrat eingerichtet und Netzwerkarbeit betrieben werden – zum Beispiel zwischen Kinder und Jugendmedizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Schule, Schulsozialarbeit und Jugendamt. Der Öffentliche Gesundheitsdienst müsse genauso gestärkt werden wie die STIKO und die Forschung zu Kindern und Jugendlichen. Das Wohl und die Meinung von Kindern und Jugendlichen müssten künftig bei allen Maßnahmen berücksichtigt werden. Umfassende Soforthilfen für die Heranwachsenden müssten durch die Politik finanziert werden.

Eine weitere Lehre aus der Pandemie ist laut Reinhardt, dass die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung steigen muss. Das Plenum schloss sich seinen Ausführungen dazu an: Damit künftig bereits Kinder und Jugendliche an gesundes Verhalten herangeführt werden, stimmten die Delegierten für die Einführung eines Schulfachs Gesundheit. Insgesamt müsse der Ansatz „Health in All Policies“ Eingang in alle politische Felder wie Sozial-, Bildungs-, Umwelt-, Verkehrs-, Stadtentwicklungs-, Wirtschafts- und Arbeitspolitik finden. Mehr Maßnahmen zur Prävention seien künftig unabdingbar. Dies bringe viele Synergien – wenn Menschen etwa vom Auto aufs Rad umsteigen, fördere das nicht nur unmittelbar die eigene Gesundheit, sondern es reduziere auch die Klima- und Umweltbelastung in den Städten.

Ein Großteil von Reinhardts Rede und der späteren Diskussionen im Plenum stand unter der Überschrift: „auf Herausforderungen einer Gesellschaft des langen Lebens einstellen“. Der Mensch müsse endlich zum Maßstab des Handelns gemacht werden – bei allen Maßnahmen des künftigen Pandemiemanagements, aber auch in der Gesundheitspolitik insgesamt.

Angesichts der angespannten Personalsituation in Kliniken und Praxen – auch schon vor der Coronakrise – brauche es dringend mehr Bemühungen um den ärztlichen Nachwuchs und die bereits im Gesundheitswesen tätigen Fachkräfte: Der Ärztetag forderte erneut wesentlich mehr Medizin-Studienplätze in allen Bundesländern. Junge, bereits tätige Ärzt*innen wünschen sich mehr Teilzeitarbeit und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit einem erfüllenden Privatleben, sagte Reinhardt. Gleichzeitig altere auch die Ärzteschaft: Jede*r Fünfte steht laut Reinhardt unmittelbar vor dem Ruhestand, 13 Prozent der Ärztinnen und Ärzte sind zwischen 60 und 65 Jahre alt. Aus den Reihen der derzeit praktizierenden Kinder- und Jugendärzt*innen wird der Bundesärztekammer zufolge voraussichtlich ein Viertel zwischen 2020 und 2025 in Rente gehen. Schon vor der Pandemie habe der Deutsche Ärztetag in Münster davor gewarnt, dass Arbeit krank mache, wenn sie von Zeitdruck und wirtschaftlichen Zwängen bestimmt werde. Jetzt, nach der Pandemie, habe sich die Situation Umfragen zufolge weiter verschärft.

Im Plenum wurde das Thema einer angemessenen Personalplanung ausführlich behandelt und dabei unter anderem ein Personalbemessungstool vorgestellt, – ein vom Berufsverband Deutscher Anästhesisten und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin entwickeltes Kalkulations-Instrument. Damit, so die Referent*innen könne der ärztliche Personalbedarf in fast allen Fachabteilungen einer Klinik eingeschätzt und geplant werden. „Der Erlös darf nicht den Bedarf bestimmen“, sagte Dr. Susanne Johna, Mitglied des Vorstands der Bundesärztekammer.

Um mehr ärztlichen Nachwuchs zu gewinnen, müsse das Know-How der Praktiker*innen vor Ort besser berücksichtigt werden, sagte Reinhardt bei der Eröffnung. „Wir bedauern sehr, dass die Kommission zur Krankenhausreform vor allem mit Theoretikern besetzt ist“. Eine bessere Vergütungssystematik müsse es künftig erlauben, für Krisen und Notfälle vorzusorgen, der Investitionsstau bei den Krankenhäusern müsse endlich durch eine Kofinanzierung durch den Bund aufgelöst werden. Das Plenum forderte außerdem eine Abkehr vom DRG-System auch bei den Personalkosten für Ärztinnen und Ärzte, wie dies bei der Pflege bereits der Fall ist.

Außerdem plädierten die Abgeordneten im Ärzteparlament für einen Abbau der Bürokratie. Bürokratische Aufgaben wie Dokumentation und Arztbriefe dürften nicht zu Lasten der Patientenversorgung gehen, wie dies heutzutage oft der Fall sei. Viele Ärztinnen und Ärzte stünden heute derart unter Zeitdruck, dass die Fehleranfälligkeit steige. Zudem werde der Beruf durch die permanente Überbelastung in vielen ärztlichen Bereichen immer weniger attraktiv.

Die Voraussetzungen für eine engere Vernetzung zwischen den Sektoren zu schaffen– von Kliniken, Praxen und anderen Organisationen im Gesundheitswesen – war eine weitere Forderung sowohl von Reinhardt in seiner Eröffnungsrede als auch im Plenum. „Dort, wo intersektorale und interprofessionelle Zusammenarbeit und Vernetzung funktionieren, ging die Initiative von engagierten Ärztinnen und Ärzten aus“, sagte der Präsident der Bundesärztekammer.

Sowohl Reinhardt als auch die Delegierten betonten, dass sie die Zusammenarbeit mit Fachkräften der anderen Gesundheitsberufe schätzen – unter anderem mit den Pflegekräften und den medizinischen Fachangestellten. Als Zeichen der Wertschätzung erhielt die Präsidentin des Verbands medizinischer Fachberufe e.V., Hannelore König, im Vorfeld des Ärztetags das Ehrenzeichen der deutschen Ärzteschaft.

Die Mitglieder des Ärzteparlaments beschäftigten sich auch mit der haus- und fachärztlichen Versorgung in Praxen. Die Niederlassung durch neue Kolleg*innen müsse genauso gefördert werden wie die Digitalisierung in bereits bestehenden Praxen. Man stehe digitalen Anwendungen grundsätzlich positiv gegenüber. Von den bisherigen Digitalisierungsbemühungen der Politik zeigte sich das Ärzteparlament jedoch wenig begeistert: Es bemängelte die bisherigen störungsanfälligen und nicht ausreichend getesteten Anwendungen – Stichwort Konnektor.

Bevor künftige Anwendungen wie die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder das e-Rezept zum Einsatz kommen, braucht es daher nach Ansicht der Delegierten ausführliche Praxistests. Eine Digitalisierung sei nur dort sinnvoll, wo sie den Menschen nutze und den Datenschutz gewährleiste. „Die Technik muss funktionieren“, sagte Reinhardt bereits bei der Eröffnung. „Geschwindigkeit darf nicht vor Gründlichkeit gehen“. Priorität bei der Digitalisierung müssten das Notfalldatenmanagement und die Kommunikation im Medizinwesen haben.

Auch die Sorge vor immer mehr fremdfinanzierten Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) trieb die Delegierten in Bremen um. Bayern nimmt in dieser Hinsicht offenbar eine unrühmliche Vorreiterrolle ein: Etwa zehn Prozent der MVZ in Bayern sind laut einem Gutachten des IGES-Instituts im Auftrag der KV Bayern bereits in den Händen von Private-Equity-Gesellschaften. „Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Gesundheitssystem in ein profitorientiertes Franchise-System umgewandelt wird“, sagte Reinhardt bei der Eröffnung. Der Ärztetag forderte unter anderem ein öffentliches und frei zugängiges MVZ-Register. MVZ sollten ihre Trägerschaft auf ihrem Praxisschild ausweisen müssen.

Nicht zuletzt stand auch das Dauerbrenner-Thema neue Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) wieder auf dem Programm. Zum Ende seiner Rede hin überreichte Reinhardt bei der Eröffnung Bundesgesundheitsminister Lauterbach einen dicken Wälzer mit den konsentierten Verbesserungen, die die Ärzteschaft gemeinsam mit dem PKV-Verband und der Beihilfe in den vergangenen Jahren erarbeitet hat. Daraus endlich Nägel mit Köpfen – also eine neue GOÄ – zu machen ist für Reinhardt und das Ärzteparlament nun die Aufgabe der neuen Regierung. „Setzen Sie diese Reform nach den vielen Jahren des Stillstands endlich um“, schloss Reinhardt seine Rede. Und: „Machen Sie... die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten sowie die legitimen Ansprüche von Ärztinnen und Ärzten zum Maßstab Ihres Handelns!“

Stephanie Hügler

MÄA-Nr. 13 vom 18.06.2022