Leitartikel

122. Deutscher Ärztetag

Ärztinnen und Ärzte können sich nur dann um ihre Patienten kümmern, wenn es ihnen selbst gut geht. Die Forderung an die Politik, dafür zu sorgen, stand im Mittelpunkt des 122. Deutschen Ärztetags in Münster.
122. Deutscher Ärztetag
122. Deutscher Ärztetag

Foto: Jürgen Gebhardt/ Deutsches Ärzteblatt

 

Noch unter dem Eindruck der Europawahlen wurde der Ärztetag am 28. Mai eröffnet. Doch so wie sich der scheidende Bundesärztekammerpräsident Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery bei seiner Rede ausgehend von europäischen Überlegungen immer stärker bundes- und standespolitischen Themen zuwandte, so beschäftigte sich auch das Ärzteparlament nach einer Würdigung der internationalen Gäste vorwiegend mit “inneren” Themen.

Bei der von Trommelwirbeln durch das Percussion-Ensemble „Fascinating Drums“ begleiteten Eröffnung kritisierte Montgomery anfangs das „überbordende europäische Bürokratentum“, stellte aber auch klar, dass unter europäischen Ärzten weiterhin Solidarität geboten ist. So werde die British Medical Society weiterhin Mitglied im Ständigen Ausschuss der Ärzte der Europäischen Union bleiben. Es gelte, international und national, “das rechte Maß und die rechte Mitte" zu halten. Den anwesenden Bundesgesundheitsminister Jens Spahn kritisierte Montgomery für viele seiner Gesetzesinitiativen, zollte ihm aber auch Respekt für den Fleiß, mit dem er neue Vorhaben in Angriff nehme. Das Organspendegesetz beispielsweise sei „ein riesiger Fortschritt für die Menschen auf der Warteliste“ und die Trennung von der Debatte um eine Widerspruchslösung politisch klug gewesen. Dort und bei ethischen Fragen zum Lebensende ziehe Spahn mit der deutschen Ärzteschaft „gemeinsam an einem Strang – und das sogar in dieselbe Richtung“. Auch den Vorstoß Spahns für eine Impfpflicht gegen Masern lobte Montgomery.

In anderen Punkten jedoch stehe man der Regierungspolitik ablehnend gegenüber – insbesondere bei Fragen zur ärztlichen Selbstverwaltung.  „Tat der enteignungsgleiche Eingriff in die Besitzverhältnisse der gematik wirklich Not?“, fragte Montgomery. Und musste die Erhöhung der Pflichtstundenzahl von 20 auf 25 Stunden wirklich sein? Das scheinbare  Nichtleisten der ärztlichen Selbstverwaltung liege doch nur an „nicht erfüllbaren, politisch gemachten  Vorgaben“.

Wie Hamster würden Ärztinnen und Ärzte ins Rad gestellt, beim Rennen würden aber dann die Bremsen angestellt, damit sie „ordentlich ins Schwitzen“ gerieten. Dies führe schließlich zu zeitlicher Überforderung und Burnout. Mit einer „Fülle von Gesetzentwürfen“ kreiere der Minister gleichzeitig neue Berufe, etwa mit der grundständigen Psychotherapieausbildung. Psychotherapie aber sei noch immer eine ärztliche Technik. Auch mit dem geplanten  „Gesetz zur Reform der Hebammenausbildung“ ging Montgomery hart ins Gericht. Eine Voll-Akademisierung des Berufs helfe nicht. Vielmehr müsse man mehr praktisch ausbilden, klare Haftungsregeln und Verantwortlichkeiten schaffen.

Und schließlich brauche es ein „tragfähiges Investitionsmodell“ von Bund und Ländern für die teilweise maroden und technisch veralteten Krankenhäuser. Montgomery forderte mehr Medizinstudienplätze deutschlandweit. Die weitere Kommerzialisierung der ärztlichen Tätigkeit müsse verhindert, die Digitalisierung ärztlich mitgestaltet werden. Auf keinen  Fall dürfe die Digitalisierung zur Substitution ärztlicher Tätigkeit genutzt werden.

Geehrt wurden bei der Eröffnung auch die neue Trägerin und die Träger der Paracelsus-Medaille: Prof. Dr. Armin Rost (76), Urologe aus Lingen wurde für seinen Einsatz in Armutsvierteln ausgezeichnet, Prof. Dr. Ingo Flenker (72), früherer Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, für sein Engagement in der Tumortherapie durch die Einrichtung von Darmzentren, in der Berufs- und Gesundheitspolitik. Dr. Marianne Elisabeth Koch (87) aus Tutzing, Schauspielerin, Internistin und aktive Medizinjournalistin, erhielt den Preis u.a. für ihre Tätigkeit in den Medien, mit der sie „einem Millionenpublikum Gesundheitsthemen und medizinisches Fachwissen“ vermittelt hat.

Einige Themen der Eröffnungsrede Montgomerys griff das Plenum bei seiner anschließenden Tagung erst gegen Ende auf. Im Zentrum der ersten Tage stand zunächst das Thema Gesundheit und Resilienz bei Ärztinnen und Ärzten. Drei Vorträge informierten über  die aktuelle Situation und mögliche Verbesserungen: Prof. Dr. Monika Rieger vom Universitätsklinikum Tübingen sprach über die Prävention arbeitsbedingter Belastungen von Ärztinnen und Ärzten. Prof. Dr. Harald Gündel vom Universitätsklinikum Ulm beantwortete in seinem Referat die Frage „Was können wir selbst für unsere Gesundheit tun?“ und Dr. Klaus Beelmann, Geschäftsführender Arzt bei der Ärztekammer Hamburg, referierte über die Interventionsprogramme der Landesärztekammern für suchtkranke Ärztinnen und Ärzte.

Konkret forderte der Vorstand der Bundesärztekammer mit Zustimmung durch das Plenum von Arbeitgebern im Gesundheitsbereich, „ihrer Verpflichtung für gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen deutlich stärker als bisher nachzukommen“. Es gelte, Arbeitsschutzregelungen wie das Arbeitszeitgesetz konsequent einzuhalten, Personalschlüssel so auszugestalten, dass „eine patienten- und aufgabengerechte Versorgung jederzeit möglich ist“ und Ärztinnen und Ärzte von Verwaltungstätigkeiten zu entlasten, um mehr Zeit für die Patientenversorgung zu schaffen. Es brauche „lebensphasengerechte Präventionsmodelle und Unterstützungsangebote“, z.B. flexible Arbeitszeitmodelle, um Beruf und Familie, Freizeit und die Pflege von Angehörigen besser mit einander zu vereinbaren.  Starre Hierarchien müssten abgebaut, ein wertschätzender Führungsstil etabliert werden.

Zudem forderte das Plenum erneut, Ärztinnen und Ärzten besser vor gewalttätigen Übergriffen zu schützen. Es brauche Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention gegen körperliche und verbale Gewalt am Arbeitsplatz. Es gehe nicht an, dass immer wieder Gewalt gegen Hilfeleistende verübt werde. Daher müsse der strafrechtliche Schutz für Hilfeleistende in Unglücksfällen, gemeiner Gefahr oder Not erweitert werden.

Der dritte Tag stand ganz im Zeichen der Wahl zum neuen Präsidium. Montgomery hat ein neues Amt als Präsident der europäischen Ärztevereinigung und als Vorstandsvorsitzender des Weltärztebunds übernommen. Der Vizepräsident, der ehemalige Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, Dr. Max Kaplan, geht in den wohlverdienten Ruhestand. Als Präsidentin weitermachen wollte alleine die bisherige zweite Vizepräsidentin, Dr. Martina Wenker, Internistin und Vorsitzende der Landesärztekammer Niedersachen. Sie stellte sich neben Dr. Günther Jonitz, Dr. Klaus Reinhardt und dem bayerischen Landesärztekammerpräsidenten Dr. Gerald Quitterer zur Wahl für den frei gewordenen Präsidentenposten. Dabei verfehlte sie jedoch, ebenso wie Quitterer, die Mehrheit der Sitze. Neuer Präsident ist nun Dr. Klaus Reinhardt, Allgemeinmediziner und Hausarzt aus Bielefeld. Die Vizepräsidentenposten übernehmen aufgrund ihrer Stimmenmehrheit  Dr. Heidrun Gitter, Kinderchirurgin aus Bremen, und Dr. Ellen Lundershausen, HNO-Ärztin aus Erfurt. Zudem in den Vorstand gewählt wurden Dr. Susanne Johna, Internistin aus Hessen und Dr. Peter Bobbert, ebenfalls Internist aus Berlin. Montgomery wurde zum Ehrenpräsidenten der Bundesärztekammer ernannt.

Bei der Wahl in den Vorstand der Deutschen Akademie für Allgemeinmedizin erhielt Dr. Gerald Quitterer die meisten Stimmen. Weitere Vorstandsmitglieder sind Marion Charlotte Renneberg aus Ilsede, Bernd Zimmer aus Wuppertal, Erik Bodensieck aus Dresden und Dr. Katharina Thiede aus Berlin.

In weiteren Resolutionen befasste sich der Ärztetag mit verschiedenen gesundheits-, sozial- und berufspolitischen Themen. Unter anderem forderten die Anwesenden, vorgeburtliche Bluttests auf Trisomie 21 als Kassenleistung zu bezahlen – bei parallel verlaufender Beratung für eine informierte Entscheidung. Ob Eltern sich für ein Kind mit Behinderung entscheiden oder nicht dürfe nicht vom Einkommen der Eltern abhängig sein. Gleichzeitig forderte der Ärztetag eine gesellschaftspolitische Diskussion über den Umgang mit Krankheit und Behinderung und mehr Teilhabe für Menschen mit Behinderung. Zudem setzten sich die Abgeordneten für Repräsentanten der türkischen Ärzteschaft ein, die aktuell aufgrund ihres friedenspolitischen Engagements Haftstrafen verbüßen müssen. Insbesondere forderten sie einen Freispruch für die Trägerin des Hessischen Friedenspreises, Dr. Sebnem Korur Fincanci.

Aufgrund der vielen Lieferengpässe und der entstehenden Umweltprobleme bei der Produktion von Antibiotika in Ländern außerhalb Europas sprach sich das Plenum dafür aus, diese wieder in Europa zu produzieren. Auch in der onkologischen Versorgung und beim Blutdrucksenker Valsartan beklagten die Abgeordneten Lieferschwierigkeiten. Insgesamt müsse die Ökonomie stets den Zielen der Medizin dienen, und nicht umgekehrt. Zum Beispiel müsse der Versorgungsumfang von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) begrenzt werden. Die fortschreitende Übernahme ambulanter Versorgungsstrukturen durch Fremdinvestoren müsse verhindert werden. Patienten müssten weiterhin eine Wahlfreiheit haben. Es sei nicht akzeptabel, dass konzernartige Strukturen diese einschränken.

Der Ärztetag sprach sich zwar grundsätzlich für eine Digitalisierung im Gesundheitswesen aus, doch die ärztliche Schweigepflicht und die informationelle Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten müssten dabei stets Priorität haben. Die Nutzung digitaler Anwendungen müsse für die Patienten freiwillig sein, sensible Patientendaten geschützt werden. Auch Ärztinnen und Ärzte dürften nicht mit Sanktionen dazu gezwungen werden, an der Telematikinfrastruktur teilzunehmen.

Delegierte aus München wie Irmgard Pfaffinger und Meike Lauchart setzten sich beim Ärztetag in eigenen Anträgen unter anderem stark für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, den Wiedereinstieg in den Beruf nach Elternzeit sowie eine deutliche Erhöhung der Zahl der Medizinstudienplätze ein. Der Delegierte Dr. Peter Hoffmann und andere bayerische Delegierte verfassten einen Antrag zur Ablehnung der Opt-Out-Regelung in Arbeitsverträgen an Krankenhäusern. Ärztinnen und Ärzte dürften durchschnittlich nicht mehr als 48 Stunden zur Arbeit herangezogen werden. Hoffmann und andere baten die Bundesärztekammer außerdem, Informationen zur gesundheitlichen Versorgung von Inhaftierten einzuholen. Verschiedene Münchner Delegierte beteiligten sich an weiteren Anträgen.