Leitartikel

§218 als Thema beim Deutschen Ärztetag. Stigma Schwangerschaftsabbruch

Wie jedes Jahr steht auch dieses Jahr im Mai der Deutsche Ärztetag an – heuer in Leipzig. Ein heißes Eisen ist dabei als Thema schon gesetzt: die Abschaffung des Paragraphen 218. Die MÄA sprachen darüber mit der hessischen Delegierten Stefanie Minkley, die sich in Leipzig dafür einsetzen möchte.
§218 als Thema beim Deutschen Ärztetag. Stigma Schwangerschaftsabbruch
§218 als Thema beim Deutschen Ärztetag. Stigma Schwangerschaftsabbruch

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Frau Minkley, warum ist das Thema §218 aktuell so wichtig?

Eigentlich war es schon letztes Jahr wichtig, weil sich damals eine Expertinnen- /Expertenkommission der Bundesregierung für eine Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ausgesprochen hat. Es ist aber noch immer wichtig, dass wir Ärztinnen und Ärzte uns für die Entkriminalisierung der Kolleg*innen aussprechen, die diese Abbrüche durchführen – auch wenn wir jetzt eine andere Bundesregierung haben. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, erleben wir derzeit einen Rechtsruck, der Frauenrechte einschränkt. In den USA gab es aufgrund der sehr restriktiven Abbruchregelungen inzwischen sogar Todesfälle. Auch in Polen sind einige jungen Frauen gestorben – nach Fehlgeburten, die nicht versorgt wurden. Wir müssen klar hinter den Frauen und ihren reproduktiven Rechten stehen, nicht nur von Seiten der Ärztinnen und Ärzte, sondern auch in der Gesellschaft.

Was sind Ihre konkreten Anliegen beim Ärztetag und warum?

Ich möchte, dass wir die tatsächliche Versorgungslage so zeigen, wie sie ist, nämlich nicht optimal. Ungewollt Schwangere wird es immer geben, egal wie viel wir in Verhütung investieren. Trotzdem könnten wir deutlich mehr für Verhütung tun. Wir müssen sowohl ungewollte Schwangerschaften verhindern als auch die Situation der Ärztinnen und Ärzte verbessern. Wer sich dafür entscheidet, Abbrüche durchzuführen, muss sehr viele Hürden überwinden – auch wegen der Kriminalisierung durch den §218. Deswegen hoffe ich, dass wir uns bei diesem Ärztetag klar gegen die Kriminalisierung aussprechen. Ich persönlich bin auch der Meinung, dass wir keine Beratungspflicht brauchten, sondern eher ein Beratungsrecht. Wir brauchen auch keine Wartezeit, die über die übliche Wartezeit bei chirurgischen Eingriffen hinausgeht. Die Leitlinien der WHO geben ebenfalls vor, dass es keine solchen Hürden bei Abbrüchen geben sollte (s. QR- Code).

Sie selbst arbeiten auch in diesem Bereich. Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie gemacht?

Ich bin Fachärztin für Chirurgie und von Kristina Hänel in ihrer Praxis in Gießen ausgebildet worden. Kristina Hänel wurde 2018 nach dem §219a wegen Informationen über Schwangerschaftsabbrüche auf ihrer Website, die als Werbung gewertet wurden, verurteilt, bis sie nach der Gesetzesänderung 2022 rehabilitiert wurde. In unserer Praxis führen wir medikamentöse und chirurgische Abbrüche mit Vakuumaspiration durch – in Vollnarkose oder in Lokalanästhesie. Leider wird in Deutschland immer noch oft die stumpfe Kürettage oder Abrasio, die „Ausschabung“, durchgeführt, obwohl dieser invasive Eingriff in den deutschen Leitlinien (s. QR-Code) nicht empfohlen wird. Meine Erfahrung ist, dass die meisten Frauen genau wissen, was sie wollen. Viele Frauen spüren beim Schwangerschaftsabbruch aber ein starkes Stigma – sie sprechen kaum darüber, selbst nicht mit Familie oder Partner und erleben oft sogar mangelnde Empathie bei ihren Gynäkolog*innen. Manche bekommen nicht einmal Adressen oder werden durch verzögerte Ultraschalluntersuchungen ausgebremst, obwohl ein früher Abbruch wichtig ist – wenn er denn gewünscht wird. Auch wir Ärzt*innen spüren das Stigma. Mir wurde anfangs geraten, öffentlich besser nicht darüber zu sprechen. Aber wie bei anderen medizinischen Themen gilt: Wir müssen offen darüber reden und die betroffenen Frauen gut versorgen. Krebs ist auch kein schönes Thema, und wir reden trotzdem darüber und versorgen die Betroffenen bestmöglich.

Welche Auswirkungen hat die Kriminalisierung auf die Ärztinnen und Ärzte?

Natürlich haben diejenigen, die sich für den Erhalt des §218 einsetzen, insofern Recht, dass in Deutschland seit Jahren niemand mehr wegen eines Schwangerschaftsabbruchs ins Gefängnis gekommen ist. Aber die strafrechtliche Regelung beeinflusst die Bedarfsplanung und die Bezahlung des Abbruchs: Zwar haben die Länder die Aufgabe, für ausreichende Stellen zu sorgen, an denen Abbrüche durchgeführt werden können. Aber diese kommen in der für andere Interventionen üblichen Versorgungsplanung nicht vor, und es ist nicht definiert, was „ausreichend“ ist. Der Eingriff wird zudem nicht von der Krankenkasse bezahlt. Wer wenig Geld verdient, muss sich extra an die Kasse wenden, damit der Abbruch über andere Stellen finanziert wird. Noch viel mehr Bürokratie haben Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Denn die dafür benötigten Medikamente müssen teilweise aus dem Ausland bestellt werden, weil das einzige Präparat in Deutschland sehr teuer ist. Es muss mit hohem Aufwand gelagert, nummeriert und dokumentiert werden, und weil es hier keine Zulassung gibt, müssen wir die Patientinnen über den Off-Label-Use aufklären. Auch für Fehlgeburten gibt es übrigens keine Zulassung. Ich kenne Frauen, die für ihre medikamentöse Behandlung bei einer Fehlgeburt mehrere hundert Euro privat zahlen mussten. Deshalb werden überproportional viele Betroffene operativ behandelt anstatt, dass sie die freie Wahl zwischen Abwarten, Medikamenten oder OP erhalten. Auch hier wird statt der Vakuumaspiration noch häufiger die Kürettage durchgeführt.

Befürworter des §218 sagen: Um die jetzige Regelung wurde so lange gerungen – lassen wir sie lieber so, um des gesellschaftlichen Friedens willen.

Nur weil ein Kampf schon lange geführt wird, ist dieser ja nicht falsch. Der Ärztinnenbund fordert seit 100 Jahren die Abschaffung des §218. Und noch immer sind Frauen in Deutschland nicht vollkommen gleichgestellt. Sie verdienen weniger Geld und sind stärker für die Care-Arbeit zuständig. Im neuen Bundestag sind sie wieder deutlich unterrepräsentiert. Frauen werden noch immer zu viele Hürden auferlegt, genauso wie den sie betreuenden Ärztinnen und Ärzten. Der Chefarzt der Klinik in Lippstadt darf in seiner eigenen Praxis keine Abbrüche mehr durchführen, weil seine Klinik ihm das verbietet. Natürlich darf auch niemand dazu gezwungen werden. Wobei die WHO diese Gewissensklausel als problematisch darstellt, denn in Italien beispielsweise führen deshalb nur noch sehr wenige Kolleg*innen Abbrüche durch.

Warum braucht es unbedingt eine Entkriminalisierung?

Damit Patientinnen wohnortnah und ohne Stigmatisierung versorgt werden können. Viele müssen weite Wege auf sich nehmen, obwohl ein früher Schwangerschaftsabbruch ein kleiner Eingriff ist, den auch die eigene Gynäkologin oder zumindest eine Gynäkologin in der eigenen Stadt übernehmen könnte. Medikamentöse Abbrüche können auch problemlos durch Hausärzt*innen durchgeführt werden. Eine Entkriminalisierung könnte dazu führen, dass sich gerade im ambulanten Bereich mehr Kolleg*innen dafür entscheiden, Abbrüche durchzuführen, weil Hürden abgebaut werden können. Wegen der Kriminalisierung wird in Deutschland auch zu wenig dazu ausgebildet. Dass Gynäkolog*innen darüber gewisse Kenntnisse haben müssen, steht zwar im Weiterbildungskatalog. Man kann die Facharztausbildung aber in einem Krankenhaus absolvieren, in dem kein einziger Abbruch durchgeführt wird, wenn dort die Abrasio bei anderen Indikationen durchgeführt wird. Ein Abbruch ist allerdings mehr als ein technischer Eingriff – er erfordert rechtliches Wissen, Empathie und Erfahrung mit den Medikamenten, die dadurch vielen in der Ausbildung fehlen.

Gegner der Abschaffung des §218 argumentieren, dass wir auch das ungeborene Leben schützen müssen. Was erwidern Sie?

Dass wir lieber mehr in die Primärprävention investieren sollten und Verhütungsmittel günstiger und noch viel niedrigschwelliger anbieten müssen. Bei von Armut betroffenen Menschen entstehen tendenziell mehr ungewollte Schwangerschaften, z.B. weil die Spirale nicht ganz günstig ist. Wir bräuchten ein Beratungsrecht mit flächendeckenden Beratungsstellen, sodass Frauen in einer Konfliktsituation diese sehr schnell und niederschwellig aufsuchen könnten. Eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Maßnahmen gegen Kinderarmut und bessere Leistungen für Alleinerziehende - das würde auch dazu beitragen, ungeborenes Leben zu schützen. Natürlich bin ich nicht dafür, dass man ohne Grund bis in den neunten Monat „einfach so“ einen Abbruch durchführen kann. Aber zumindest bis in die 12. bzw. 14. Schwangerschaftswoche. Es gibt keinen Grund, einen frühen Schwangerschaftsabbruch als kriminelle Handlung zu einzustufen.

Letztes Jahr wäre eine Änderung des §218 politisch vielleicht einfacher gewesen. Glauben Sie, dass Ihr Ansinnen trotzdem Aussicht auf Erfolg hat?

Gesellschaftlich auf jeden Fall. Das Familienministerium hat letztes Jahr die Bevölkerung befragt – und es gab eine deutliche Mehrheit von über 75 Prozent für die Entkriminalisierung, also für die Abschaffung der Regelung im Strafgesetzbuch. Und zwar bei den Wähler*innen aller Parteien (s. hierzu QR-Code). Im Koalitionsvertrag steht jetzt zumindest, dass die Versorgung verbessert werden soll.

Was erwarten Sie vom Deutschen Ärztetag?

Dass er die schlechte Versorgungslage anerkennt. Die vom Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegebene bundesweite ELSA-Studie (s. QR-Code) hat gezeigt, dass es gerade in Bayern einige schlecht versorgte Gebiete gibt. Ich erhoffe mir auch, dass der Deutsche Ärztetag den Antrag unterstützt, Kolleginnen und Kollegen zu entkriminalisieren, die Abbrüche durchführen und entsprechend die Entkriminalisierung empfiehlt. Und dass damit auch die gesellschaftliche Meinung berücksichtigt wird. Das wäre ein starkes Zeichen der Solidarität gegenüber den Kolleg*innen. Der Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen muss nicht im Strafgesetzbuch geregelt sein. Das ist auch in vielen anderen Ländern nicht der Fall.
Im Gegenteil: Frankreich hat das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche sogar in die Verfassung aufgenommen.

Was erwarten Sie von der neuen Gesundheitsministerin und der neuen Koalition?

Ich hoffe, dass auch sie Konsequenzen aus der ELSA-Studie und den Empfehlungen der Expertenkommission ziehen. Dass sie ins Gespräch mit den Pharmafirmen gehen und diese dazu auffordern, die Medikamente wieder zuzulassen – auch um Frauen mit Fehlgeburten besser zu versorgen. Dass man zumindest anerkennt, dass es zum Teil eine schlechte Versorgung in Deutschland gibt, und sich Konsequenzen überlegt. Dass nicht nur leere Worte bleiben, sondern Taten folgen.

Dieses Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA 11 vom 24.05.2025