84. Bayerischer Ärztinnen- und Ärztetag in Bad Kissingen. Krisenfest in die Zukunft

Foto: Elmar Hahn / Stadtarchiv Bad Kissingen
Denn die deutsche Gesellschaft steht nicht nur vor den Herausforderungen des Klimawandels und einer doppelten demographischen Alterung der künftigen Patient*innen und der Ärztinnen und Ärzte. Die Drohnensichtung am Münchener Flughafen z.B. macht klar, dass Deutschland und Bayern sich womöglich vor europa- und weltweiten kriegerischen Auseinandersetzungen nicht mehr geschützt fühlen können. Das Plenum aus 180 anwesenden Delegierten forderte dementsprechend die Einrichtung eines „gemeinsamen Lagezentrums für Gesundheit“, das in Krisenfällen koordinieren und bereits vorher Resilienzpläne erstellen kann.
Es brauche eine krisenfeste Infrastruktur in Krankenhäusern, Praxen und Pflegeeinrichtungen. Kritische Bereiche wie Operationssäle müssten immer zugänglich sein und auch dann funktionieren, wenn z.B. Strom, Wasser, Kommunikations- und IT-Systeme ausfallen. Ein Reservevorrat an Arzneimitteln und Medizinprodukten müsse immer vorhanden sein, die Cybersicherheit ausgebaut und der öffentliche Gesundheitsdienst gestärkt werden. Notwendig seien „klar geregelte Zuständigkeiten, trainierte Abläufe und eine belastbare digitale Infrastruktur“.
Zur Krisenresilienz gehöre auch der Hitzeschutz. Die Delegierten forderten ein „klimagerechtes Gesundheitswesen“, in dem Hitzeschutzaktionspläne umgesetzt werden, Krankenhäuser, Praxen und Pflegeeinrichtungen baulich angepasst werden und genügend Fachkräfte verfügbar sind. Dazu verlangte der Bayerische Ärztinnen- und Ärztetag von Bund und Ländern eine „umfassende Resilienzstrategie“. Schulische Sportveranstaltungen im Freien müssten bei amtlichen Hitzewarnungen verboten und der Hitzeschutz von Beschäftigten im Freien verbessert werden. Dringend brauche es einen verbindlichen Hitzeaktionsplan zur Prävention von Erkrankungen und Todesfällen.
Damit auch künftig genügend Fachkräfte vorhanden sind, müsse der ärztliche Nachwuchs gesichert werden. Der Bayerische Ärztinnen- und Ärztetag forderte die Bundesregierung auf, endlich die längst fällige Reform der Approbationsordnung für Ärzte (ÄApprO) umzusetzen. Die Allgemeinmedizin müsse ebenso gestärkt werden wie die ärztliche Weiterbildung. Praktische Aus- und Weiterbildungsinhalte müssten ausgebaut und an den medizinisch-technischen Fortschritt angepasst werden. Um den Arztberuf attraktiv zu halten, müsse die Weiterbildung angemessen finanziert und familienfreundlich werden.
Für die ambulante Versorgung forderte das Gremium einen deutlichen Bürokratieabbau: „Die Bürokratielasten in den Praxen binden jährlich Millionen Stunden ärztlicher Arbeitszeit… Besonders im hausärztlichen Alltag führen unnötige Bescheinigungen, kleinteilige Nachfragen von Krankenkassen, Medizinischem Dienst (MD) und Versorgungsämtern sowie drohende Regressprüfungen zu erheblichem Zeitverlust“, hieß es in einem Antrag. Dieser forderte u.a. den Abbau zum Beispiel von unnötigen Arbeitsunfähigkeits- und Kinderkrank-Bescheinigungen bei kurzer Krankheitsdauer, eine Reduzierung und Standardisierung von Anfragen der Krankenkassen, des MD und des Versorgungsamts durch Geringfügigkeitsgrenzen und den Ausbau PVS-gestützter Verfahren. Zusätzlich brauche es das Prinzip „Beratung vor Regress“ auch bei Einzelfallprüfungen und eine Entlastung bei Impfstoffregressen.
Die ambulante Versorgung und die Niederlassung müssten durch bessere wirtschaftliche Rahmenbedingungen und eine bessere Leistungshonorierung gefördert werden. Nachdem die Budgetierung im hausärztlichen Bereich seit dem 1. Oktober abgeschafft wurde, müsse dies nun auch im fachärztlichen Bereich geschehen. Bei den Medizinischen Versorgungszentren forderte der Bayerische Ärztinnen- und Ärztetag, monopolartige Strukturen zu verhindern. Ärztinnen und Ärzte müssten weiter frei entscheiden können, und die Versorgung müsse sich am Bedarf der Patient*innen orientieren.
Im Bereich der Kliniken begrüßte der Bayerische Ärztinnen- und Ärztetag die geplanten Ausnahmeregelungen und den flexiblen Gestaltungsspielraum im vom Bundeskabinett verabschiedeten Krankenhausreformanpassungsgesetz (KHAG). Wie auch in früheren Jahren forderten die Delegierten die schrittweise Abschaffung des DRG-Systems. Stattdessen brauche es ein bedarfsorientiertes Finanzierungssystem. Nur so könnten Fehlanreize durch Fallpauschalen verhindert und die „tatsächlichen Vorhaltekosten für Infrastruktur, Personal und Technik berücksichtigt“ werden. Das von der Bundesärztekammer entwickelte Personalbemessungssystem ÄPS-BÄK könne dazu beitragen, eine „aufgabengerechte Personalausstattung“ zu bestimmen und die Arbeitsbelastung des Personals zu reduzieren.
„Sind Arbeitszeitgrenzen im Gesundheitswesen weniger wichtig als in der Automobilproduktion?“ lautete der provokante Titel eines weiteren verabschiedeten Antrags. Bereits ab der siebten Arbeitsstunde steige die Wahrscheinlichkeit, einen Fehler zu machen exponentiell an. Dass das Arbeitszeitgesetz im Gesundheits- und Pflegebereich geringere Ruhezeiten und längere Arbeitszeiten zulässt, sei nicht nachvollziehbar. Die Delegierten forderten die Bundesregierung entsprechend auf, die Beschäftigten in Krankenhäusern und anderen medizinisch-pflegerischen Einrichtungen bei Ruhezeiten und Höchstarbeitszeiten genauso zu behandeln wie andere Branchen.
Mit der Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten und anderen Beschäftigten im Gesundheitswesen befasste sich auch Dr. Andreas Schießl bei seinem Vortrag über den Verein PSU-Akut e.V. zur kollegialen psychosozialen Unterstützung (PSU). Bereits seit 2013 unterstützt der Verein Menschen nach schwerwiegenden Ereignissen im medizinischen Alltag – unaufgeregt und nicht pathologisierend, auf Augenhöhe und in einem geschützten Raum. Ziel ist die gegenseitige Stärkung für den wertvollen, sinnstiftenden Beruf. Zur psychosozialen Prävention und kollegialen Unterstützung (Peer Support) bietet PSU-Akut ein internes Angebot, bei dem persönlich bekannte Peers im eigenen Krankenhaus oder MVZ niederschwellig und unkompliziert unterstützen. Auch von extern helfen PSU-Akut-Mitarbeitende, und zwar am Telefon – anonym und vertraulich (PSU-Helpline) oder als Akut-Team vor Ort. Der aus dem ÄKBV-Pilotprojekt „den Helfern helfen“ entstandene Verein begleitet mittlerweile Implementierungsprojekte zur Entwicklung und Einführung von Personalfürsorge-Konzepten für verschiedene Kliniken und Organisationen sowie gemein-sam mit der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK) und dem bayerischen Gesundheitsministerium eine Fach- und Koordinierungsstelle zur Psychosozialen Unterstützung. Auf PSU-Akut kommen künftig gestiegene Kosten zu, etwa für eine für 2026 geplante technische Professionalisierung und die Erweiterung um eine Video-Sprechstunde und Chat-Angebote, auch um leichter für Studierende oder Kolleg*innen und MFA in Praxen erreichbar zu sein. Schießl warb daher um weitere ideelle und finanzielle Unterstützung.
Ein zusätzlicher Schwerpunkt beim Bayerischen Ärztinnen- und Ärztetag war die Kinder- und Jugendgesundheit. In verschiedenen Anträgen forderte das Plenum z.B. den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor den Auswirkungen des Alkohols, etwa durch eine Änderung des Jugendschutzgesetzes und ein Verbot des bisher erlaubten „begleiteten Trinkens“ für Jugendliche ab 14 Jahren, wenn Sorgeberechtigte dabei sind. Stattdessen brauche es eine mit den Fachgesellschaften abgestimmte „Strategie zur Verhältnisprävention jugendlichen Alkoholkonsums“. Der Alkoholausschank auf Sportveranstaltungen mit Kindern und Jugendlichen müsse verboten werden.
Für Alkohol und ungesunde Lebensmittel solle nicht mehr vor 21 Uhr im Fernsehen oder auf Online-Plattformen geworben werden. Das Gleiche müsse für Glücksspiele gelten. Auch Wettplattformen müssten entsprechend eingeschränkt werden.
Damit Kinder und Jugendliche besser vor Übergewicht und Adipositas geschützt werden, sprachen sich die Delegierten für ein bayernweites Zertifikatssystem aus. Damit könne der Zuckerkonsum in Kitas, Schulen, Kliniken, Behördenkantinen und Kommunalen Einrichtungen reduziert werden. Das Zertifikat soll auf aktuellen Standards (z. B. DGE, IN FORM, EU-Schulprogramm) aufbauen und für realistische Portionen verbindliche Höchstwerte festlegen – etwa einen Gesamtzuckergehalt pro 100 g/ml bzw. pro Portion. Bereits jetzt seien rund 16 bis 18 Prozent der Kinder und Jugendlichen übergewichtig, 6 Prozent adipös. Von der Bayerischen Staatsregierung forderten die Delegierten, den Pakt für Kindergesundheit verbindlich umzusetzen, Pilotregionen zu benennen und jährlich im Bayerischen Landtag darüber zu berichten. Der durch den Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen e.V. (BVKJ) und der Krankenkasse DAK initiierte und vom Bayerischen Landtag mit Unterstützung der CSU bereits beschlossene Pakt für Kindergesundheit umfasst elf Handlungsfelder – von Bewegung über Ernährung bis hin zur psychosozialen Versorgung. „Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung wurde der Pakt jedoch gestrichen“, schreiben die Delegierten zur Begründung. Um Kinder zu schützen, müssten außerdem Einweg-E-Zigaretten sowie Aromen und Aromastoffe in E-Zigaretten verboten werden. Damit Kinder und Jugendliche besser über Gesundheitsthemen Bescheid wissen, forderten die Delegierten das Bayerische Gesundheitsministerium auf, Themen wie Ernährung, Bewegung, Notfallverhalten, die verantwortungsvolle Nutzung des Gesundheitssystems, Hitzeschutz und Klimawandel in die Lehrpläne aufzunehmen. Weitere Themen waren u.a. die Regulierung außerärztlicher Berufe wie des „Physician Assistant“, die Unterstützung von MFA, die Förderung und Weiterentwicklung der Aus- und Weiterbildung und des Medizinstudiums und die Notfallversorgung.
Die für viele Ärztinnen und Ärzte in Bayern sicher interessante Diskussion und Aussprache zur Beitragserhöhung und zu neuen Beiträgen für Rentner*innen fand am Sonntag, den 12. Oktober unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der Presse statt, und kann daher in diesem Beitrag nicht behandelt werden.
Trotz heftiger Diskussionen (s. hierzu das Editorial auf S. 3) wurde aber am Sonntag der Umstieg auf die elektronische Kammerwahl beschlossen.
Bereits am Freitag, den 10. Oktober war der Ärztetag öffentlich eröffnet worden. Bei dieser Gelegenheit überreichte die bayerische Staatsministerin für Gesundheit, Pflege und Prävention, Judith Gerlach, Ärztekammer-Präsident Dr. Gerald Quitterer das bereits im Mai verliehene deutsche Verdienstkreuz am Bande für seinen Einsatz zur Stärkung der Gesundheitskompetenz, für Klima-und Umweltschutz und die Ärztliche Selbstverwaltung. Großes Interesse gab es auch für das Impulsreferat „Diskurs- und Maschinenräume. Untiefen gesellschaftlicher Transformation“ des Münchner Soziologie-Professors Dr. Armin Nassehi.
Stephanie Hügler
MÄA 22/2025 vom 25.10.2025